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Auch das war die DDR

(dargestellt an meinen Erfahrungen im Bereich der Jugendhilfe/Heimerziehung)

 Ich möchte mit diesem Beitrag helfen, die widerspruchsvolle Realität des Alltags in der DDR aus eigenem Erleben darzustellen. Dabei beschränke ich mich auf einen Bereich, der in der Öffentlichkeit kaum eine Rolle spielte, dem der Volksbildung zugeordneten Bereich der Jugendhilfe/Heimerziehung.

Hauptaufgabe dieses Bereiches war die Gewährleistung der staatlichen Fürsorge für elternlose, familiengelöste oder gefährdete Kinder und Jugendliche. Es gab konkrete gesetzliche Festlegungen über die Verantwortung der staatlichen Organe für die Sicherung der Lebensbedingungen dieser Kinder und Jugendlichen, wenn erforderlich, bis zur wirtschaftlichen Selbständigkeit.

Die Realität sah aber oft anders aus. Nur wenige der mir bekannten verantwortlichen Staatsfunktionäre der Volksbildung fühlten sich für diese Seite des gesellschaftlichen Alltags zuständig. Das begann bereits mit der weitverbreiteten Unwissenheit über die Spezifik dieses Bereiches und dem Wissen um die eigene Verantwortung.

Außerdem war die Jugendhilfe mit ihren oft sehr brisanten sozialen Problemen nichts zum Vorzeigen und paßte nicht in die heile Welt des Sozialismus. Ich habe diese Haltung nie verstanden, weil ich die lt. Gesetz zu sichernde staatliche Fürsorge für die vom Leben benachteiligten Kinder und Jugendlichen immer als Stärke des Sozialismus empfand. Schließlich kann man Menschlichkeit und Kultur einer Gesellschaftsordnung vor allem auch daran messen, wie sie sich in Wort und Tat für ihre Schwächsten einsetzt, und zu diesen gehörten jene Kinder und Jugendlichen, die ein Leben in der Geborgenheit einer intakten Familie, aus welchen Gründen auch immer, meist nicht kannten oder verloren hatten.

Glücklicherweise gab es viele andere Mitbürger, die auch so dachten und fühlten. Dazu gehörten die hauptamtlichen Mitarbeiter, wie Referatsleiter, Jugendfürsorger, Heimleiter, Erzieher, Lehrer, aber auch die zahlreichen ehrenamtlichen Kräfte, ohne deren aktive, aufopferungsvolle Mitarbeit in den vielen Gremien der Jugendhilfe eine intensive Betreuung der Kinder und Jugendlichen - und wenn erforderlich, auch der Familien - nicht möglich gewesen wäre. Während sich streitbare leitende Mitarbeiter der Jugendhilfe oft erfolglos dafür einsetzten, daß die zuständigen staatlichen Funktionäre und Organe ihrer Verantwortung gerecht wurden, gab es eben auch die Möglichkeit, über ehrenamtliche Kontrollorgane, wie z. B. die Arbeiter- und Bauerninspektion (ABI), manches zum Wohle der Kinder zu verändern.

Als ich 1980 im Bereich Jugendhilfe/Heimerziehung zu arbeiten begann, war ich knapp 43 Jahre alt und hatte bereits allerhand politische, berufliche und menschliche Erfahrungen gesammelt. Zum besseren Verständnis meiner Motivation und Arbeitsauffassung nachfolgend ein kurzer Überblick:

Ich bin Jahrgang 1937, Umsiedlerkind aus dem Schlesischen und habe die Entstehung der DDR bewußt miterlebt. Über die Ausbildung in einer „Werktätigenklasse“ konnte ich Unterstufenlehrerin werden und (mit insgesamt acht Jahren Fernstudium) als Lehrerin für Geschichte und Staatsbürgerkunde arbeiten; daneben sieben Jahre als stellvertretende Direktorin. Die weiteren Stationen meines beruflichen Lebens bis 1980 waren Stellvertretende Schulrätin und Bezirksschulinspektorin.

In meiner Kindheit hatte ich die Kriegs- und vor allem die Nachkriegsjahre mit all den Entbehrungen und Ängsten erlebt, ehemalige Häftlinge aus Auschwitz und Buchenwald kennengelernt und war bereits als sehr junger Mensch mit Politik in Berührung gekommen.

Als ich mit 19 Jahren in die SED aufgenommen wurde, verpflichtete ich mich auch vor mir selbst, entsprechend dem Statut der Partei zu arbeiten und zu leben, d. h. Eigenschaften zu entwickeln und zu bewahren wie Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Bescheidenheit, kritisches Verhalten gegenüber Schluderei sowie eine kritische Haltung zur eigenen Arbeit. Und wenn ich später als Mutter von zwei Kindern, neben hohen beruflichen und gesellschaftlichen Anforderungen, noch so viele Jahre meiner beruflichen Qualifizierung widmete, dann deshalb, weil ich von anderen nicht mehr verlangen wollte, als ich selbst zu geben bereit war. Die DDR ermöglichte mir, dies alles miteinander zu verbinden. Dafür war ich dankbar und bereit, da zu arbeiten, wo ich gebraucht wurde.

1969 wurde ich in eine andere, neu entstehende Stadt versetzt, in der u. a. auch erfahrene Pädagogen gebraucht wurden. Ich war zunächst als Direktorin einer Schule vorgesehen, wurde dann aber stellvertretende Schulrätin. Meine Aufgabe bestand vor allem darin, für die möglichst fachgerechte Besetzung der in etwa halbjährigem Abstand neu entstehenden Schulen und anderen pädagogischen Einrichtungen zu sorgen. Das war mitunter eine schwierige Angelegenheit. Man bedenke: Alle Einwohner dieser Stadt, also die Kinder, Eltern, Lehrer, Erzieher und Kindergärtnerinnen, um nur den Personenkreis zu nennen, mit dem wir es hauptsächlich zu tun hatten, waren erst zugezogen und mußten sich auf diese neue Lebenssituation einstellen. Ich weiß noch gut, wie schwer es mir fiel, die gewohnte Umgebung, Freunde, Schüler, Kollegen und vor allem den Schulalltag zu verlassen. Ähnlich erging es allen, wenn auch bei den meisten die Freude über die neue schöne Wohnung überwog.

Unsere Arbeit war dadurch erschwert, daß nicht immer sicher war, ob die Wohnungen bzw. die pädagogischen Einrichtungen auch termingemäß fertig sein würden und wieviel Kinder welcher Altersgruppen unterzubringen waren. Außerdem mußten der fachgerechte Unterricht und ein gesundes Verhältnis zwischen Anfängern und erfahrenen Pädagogen gewährleistet werden. Deren Einsicht, eine inzwischen vertraute Einrichtung im Interesse einer neuen zu verlassen, war manchmal nicht so schnell zu erreichen, da mußte mitunter schon eine befristete Abordnung laut Arbeitsgesetzbuch ausgesprochen werden. Später verblieben diese Pädagogen aber meist dort, weil sie sich eingelebt hatten und fühlten, daß sie gebraucht wurden. Es war eine schwierige, aber letztlich sehr interessante und schöpferische Arbeit, eine Zeit, in der viele ihr Bestes gaben. Allerdings mußte ich schon damals nachhaltig zur Kenntnis nehmen, daß meine Vorstellungen von der sozialistischen Wirklichkeit, von der Verantwortung eines SED-Mitglieds recht idealistisch waren. Da gab es einen großen Unterschied zu meinen Erfahrungen an der Schule. Es war schwer, feststellen zu müssen, daß die für alle Parteimitglieder propagierten Rechte und Pflichten durchaus nicht für alle galten; daß, je höher die Leitungsebene, um so stärker die Selbstherrlichkeit dominierte. Beispielsweise wurde ich häufig mit Forderungen zum Einsatz bestimmter Leute, oft auch nur guter Bekannter von führenden Parteifunktionären, konfrontiert, die ich nicht realisieren konnte, weil denen elementare Voraussetzungen dafür fehlten oder andere Personalentscheidungen notwendig waren. Aber - ich war streitbar und setzte mich meist durch, was mir allerdings nicht immer gut bekam.

1976 wurde ich in die Abteilung Volksbildung beim Rat des Bezirkes versetzt und war bis Ende 1979 Bezirksschulinspektorin, eine Tätigkeit, die mir deshalb nicht zusagte, weil ich vor allem die Arbeit anderer Leute zu beurteilen hatte. Ende 1979 wurde mir angetragen, die Leitung des Referates Jugendhilfe/Heimerziehung beim Rat des Bezirkes zu übernehmen.

Da ich unbedingt aus der Inspektion ausscheiden wollte, stimmte ich zu. Ich ahnte nicht, welch schwerwiegende Entscheidung ich damit getroffen hatte und wie drastisch sich das in der Folgezeit auf mein Leben auswirken sollte. Denn obwohl ich schon so viele Jahre in der Volksbildung arbeitete, war dieser Bereich für mich völlig neu.

Also befaßte ich mich zunächst mit den gesetzlichen Grundlagen und war überrascht, welch ein umfassendes Netz zur Gewährleistung der staatlichen Förderung und Fürsorge für elternlose, familiengeloste oder gefährdete Kinder und Jugendliche bestand und wie konkret die Verantwortung der staatlichen Organe festgelegt war.

Dazu nur ein Beispiel: Wenn ein Jugendlicher mit 18 Jahren aus der Heimerziehung entlassen wurde, waren in Zusammenarbeit zwischen Heim, Referat Jugendhilfe und den zuständigen Ratsbereichen alle erforderlichen Voraussetzungen für seinen Übergang in das selbständige Leben zu schaffen: also vor allem Wohnung, eine Arbeitsstelle und, wenn erforderlich, fürsorgliche Betreuung. Die Wohnung wurde gemeinsam mit dem Jugendlichen aus staatlichen Mitteln eingerichtet.

Nach einer 14tägigen Konsultation im Ministerium für Volksbildung hospitierte ich noch kurz in einem anderen Bezirk und machte mich nebenbei mit der Struktur und dem Umfang des Jugendhilfebereiches in unserem Bezirk vertraut.

Wir hatten 26 Kreisreferate Jugendhilfe mit insgesamt 308 ehrenamtlichen Jugendhilfekommissionen, 43 kreisgeleitete Kinderheime und 6 bezirksgeleitete Heime. Zu den 6 bezirksgeleiteten Heimen, für deren Funktionieren der Rat des Bezirkes, speziell die Abteilung Volksbildung, also auch ich, verantwortlich war, gehörten 3 Jugendwerkhöfe mit Berufsausbildung, 2 Kinderheime für schwer erziehbare Kinder (sie unterschieden sich von den anderen Kinderheimen dadurch, daß sie auch Schulen besaßen) und ein Durchgangsheim.

Eine der Erkenntnisse, die mir erfahrene Fachleute vermittelten, besagte, daß zwischen den in der Jugendhilfeverordnung festgelegten Verantwortlichkeiten und der Realität eine große Kluft bestand und die Gesamtbürde meist an den wenigen Mitarbeitern der Referate Jugendhilfe hängenblieb. Das klang nicht gut. Aber für mich gab es nun kein Zurück mehr!

Im Januar 1980 betrat ich zum ersten Mal die Räume des Bezirksreferates Jugendhilfe/Heimerziehung. Zunächst begegnete man mir mit Zurückhaltung und Voreingenommenheit, da ich ja nicht „vom Fach“ war. Die personellen Bedingungen waren nicht die besten. Trotz der laut Normativ für das Referat vorgesehenen fünf Planstellen war nur das Sachgebiet Jugendhilfe mit zwei erfahrenen Jugendfürsorgerinnen besetzt. Ein Referent für die 43 kreisgeleiteten Heime fehlte seit Jahren. Für die bezirksgeleiteten Heime war gerade ein Kollege eingestellt worden, der aber keinerlei Voraussetzungen für eine solche Aufgabe besaß, sich auch nicht darum bemühte und nach kurzer Zeit wieder kündigte. Eine meiner Schwerpunkte mußte also die qualitative Verstärkung des Bezirksreferates sein.

Die bezirksgeleiteten Heime wurden - bis auf eine Ausnahme - von erfahrenen, gut ausgebildeten Pädagogen geleitet. Durch Besuche in diesen Heimen, Gespräche mit Leitern, Mitarbeitern und Jugendlichen verschaffte ich mir bald einen Überblick und wurde auch relativ schnell akzeptiert. Das Hauptproblem dieser Einrichtungen in denen pädagogische Schwerstarbeit zu leisten war, bestand im permanenten Erziehermangel. Bei meinem Dienstantritt fehlten insgesamt 21 Erzieher. Über 50 Prozent der pädagogischen Belegschaft bestand aus Studienabgängern, die laut Gesetz zwei Jahre dort arbeiten mußten, wo sie eingewiesen wurden. Entsprechend hoch war die Fluktuation.

Besonders schwierig war die Lage im Bezirksdurchgangsheim. Diese Einrichtung hatte seit Jahren einen so schlechten Ruf, daß kaum ein Pädagoge bereit war, dort zu arbeiten. Ich möchte am Beispiel dieses Durchgangsheimes erläutern, wie schwierig es sein konnte, Anteilnahme und Engagement bei den laut Gesetz zuständigen Schulfunktionären zu wecken.

In dieses Durchgangsheim wurden Kinder und Jugendliche aufgenommen, die man auf der Straße aufgegriffen hatte, nachdem sie aus Elternhäusern oder Heimen weggelaufen waren. Die Aufenthaltsdauer war zeitlich begrenzt, bis der endgültige Verbleib (Elternhaus, Heim oder auch - bei straffällig gewordenen Jugendlichen - der Termin der Gerichtsverhandlung) geklärt war.

Für das Durchgangsheim galten strenge Vorschriften. Die Kinder erhielten Unterricht, die Jugendlichen arbeiteten. Da sie meist in starken Konfliktsituationen steckten, wenig ansprechbar, dagegen oft sehr aggressiv und gewaltbereit waren, hatten es unsere Pädagogen alles andere als leicht. Abgesehen von dem bereits erwähnten Mangel an Erziehern, waren einige von ihnen den Anforderungen nicht gewachsen und versuchten, bestimmte Situationen mit ungeeigneten Mitteln zu meistern.

Im Heim gab es außerdem noch eine Werkhofgruppe mit Jugendlichen im Alter von 14 bis 18 Jahren, die nicht nur vorübergehend, sondern ständig da lebten. Dies erschwerte die Erziehungssituation zusätzlich.

Die Einrichtung war stets verschlossen zu halten. Für besonders aggressive Jugendliche, die sich und ihre Umgebung gefährdeten, konnte eine zeitweilige Isolierung vorgenommen werden. Dafür galten ebenfalls strenge Vorschriften, z. B. zeitliche Begrenzung auf maximal drei Tage, ärztliche Untersuchung vor der Isolierung, aller drei Stunden Kontrollen und Betreten der Zellen nur zu zweit. Diese Vorschriften entstammten der Verordnung für die Durchgangsheime, die jedoch den meisten Erziehern unbekannt war.

Unser Durchgangsheim hatte zwischen 1975 bis 1980 sechs verschiedene Leiter gehabt, die allesamt gescheitert waren. Es handelte sich meist um solche Pädagogen, die - aus welchen Gründen auch immer - anderswo versagt hatten, aber noch eine Leitungsfunktion erhalten sollten. Die Einstellung der verantwortlichen Organe war: Für die Jugendhilfe reicht es allemal noch!

Verantwortlich für die Sicherung der materiellen und personellen Bedingungen war lt. Gesetz der Rat des Bezirkes, konkret die Abteilung Volksbildung. Aber als ich meine Tätigkeit im Bezirksreferat aufnahm, war das Verhältnis zwischen ihr und dem Durchgangsheim gestört. Beim ersten Besuch der Einrichtung spürte ich die Ablehnung fast körperlich, ein sachliches Gespräch war nicht möglich. Auch meine nachfolgenden Bemühungen zur Verbesserung der Situation des Durchgangsheims blieben zunächst erfolglos. Sie brachten mir nur den Unmut meines Vorgesetzten ein, der von diesen unerfreulichen Dingen nichts hören wollte.

Mir ging es vor allem darum, die personellen Lücken durch den Einsatz geeigneter Pädagogen zu schließen und somit auch die Arbeits- und Lebensbedingungen für alle zu verbessern. Immerhin mußte eine Betreuung rund um die Uhr gewährleistet werden. Bei fehlendem Personal und anderweitigem Ausfall (Krankheit, Urlaub usw.) bedeutete das zahlreiche Überstunden für jeden Beschäftigten. Es herrschte eine angespannte Situation, die sich zuspitzte und zu äußerst schweren Vorkommnissen führte.

Ich war vier Wochen im Amt, als ich die Meldung erhielt, daß einige Mädchen beim Ausbruchversuch fast eine Erzieherin getötet hätten. Die knapp 60jährige Frau war mit den Mädchen im Waschraum. Wie alle Erzieher trug sie ihren Schlüsselbund bei sich. Um in seinen Besitz zu kommen, hatten zwei Mädchen ihr von hinten eine Schlinge über den Kopf geworfen und sie zugezogen. Die Frau fiel ohnmächtig zu Boden, die Mädchen nahmen die Schlüssel und verschwanden. Durch einen glücklichen Zufall wurde die Erzieherin kurz danach gefunden und konnte gerettet werden. Die Mädchen - die bereits vor der Aufnahme im Durchgangsheim und nach dem Ausbruch weitere Straftaten begangen hatten - wurden gefaßt und verurteilt.

Es war neben den schon erwähnten Problemen in dieser Einrichtung vor allem auch dieses Ereignis, das mich zu einer gründlichen Untersuchung der Situation und zur Erarbeitung von konkreten Vorschlägen zur schrittweisen Veränderung der Lage veranlaßte. Diese Konzeption legte ich meinem Vorgesetzten mit der Bitte um Entscheidung und Unterstützung vor. Aber leider umsonst. Ich wurde der „Übertreibung“ und „Schwarzmalerei“ bezichtigt, und alles blieb beim alten; d. h., weitere Übergriffe von Jugendlichen, aber auch von Erziehern, folgten.

Doch dann ereignete sich folgendes. Wie bereits erwähnt, gab es in diesem Heim eine Werkhofgruppe. Sie durfte gegen Bezahlung auch außerhalb des Objektes arbeiten, was gern in Anspruch genommen wurde. Im Dezember 1980 wurden fünf Jugendliche dieser Gruppe zum Abladen und Einlagern von Kohle eingesetzt. Eine Erzieherin begleitete sie. Nach Abschluß der Arbeit fuhren alle wieder ins Heim zurück. Welch schreckliche Szene sich im Keller abgespielt hatte, wurde erst viel später bekannt.

Vier der Jugendlichen waren im Keller miteinander in Streit geraten. Zwei von ihnen zerrten einem Jungen die Arme auf den Rücken, drückten seinen Kopf auf einen Hackeklotz, der vierte hob ein Beil und tat so, als wolle er zuschlagen. Der fünfte Jugendliche kam dazu, mischte sich ein und wollte die anderen zurückhalten. Irgendwie waren sie dann wohl gestört worden. Die Erzieherin hatte nichts bemerkt, weil sie sich mit dem Hausmeister unterhielt, statt ihrer Aufsichtspflicht nachzukommen.

In den folgenden zehn Nächten wurden die beiden Jungen - der ursprünglich bedrohte und jener, der sich eingemischt hatte - aufs äußerste gequält und mißhandelt. Andere Jugendliche, die das mit ansahen, schwiegen aus Angst. Erst als der Rädelsführer wegen eines anderen Deliktes isoliert wurde, faßte einer der betroffenen Jungen Mut und vertraute sich dem Erzieher an.

Das war zum Jahreswechsel 1980/1981. Ich hatte einige Tage Urlaub erhalten. Exakt nach Vorschrift informierte meine Stellvertreterin die Bezirksschulinspektion, die zuständige Fachabteilung im Ministerium und mich. Da die Bezirksschulinspektion diese Meldung nicht an unseren Vorgesetzten weitergegeben hatte, wurde dieser vom Anruf des zuständigen Staatssekretärs völlig überrascht. Man holte mich aus dem Urlaub, und ich mußte mir unangenehme Vorwürfe anhören. Nicht etwa aus Sorge um die Sicherheit der im Heim lebenden Kinder und Jugendlichen, sondern aus Zorn darüber, daß meine Stellvertreterin pflichtgemäß die Berliner Fachabteilung informiert hatte und nun auch Ministerin Margot Honecker um die Probleme wußte.

Danach ging alles sehr schnell. Bereits am 2. Januar 1981 besuchte der zuständige Hauptabteilungsleiter des Ministeriums für Volksbildung mit uns die Einrichtung. Meine bereits vor Monaten erarbeitete Konzeption zur Veränderung der dortigen Bedingungen kam zur Sprache und wurde für gut befunden. Am 9. Januar 1981 schlossen wir das Heim für vier Wochen.

Am schwierigsten war die Gewinnung eines geeigneten Leiters. Da ich mich nicht auf die Personalabteilung verlassen konnte - es mußte ja schnell gehen -, bemühte ich mich selbst darum. Es bedurfte vieler Gespräche, ehe ich einen geeigneten Kollegen dafür gewinnen konnte. Ein gut ausgebildeter, im Umgang mit Kindern, Eltern und Mitarbeitern erfahrener, einfühlsamer Heimleiter aus einem Kreis erklärte sich bereit, bis zur Stabilisierung der Erziehungssituation im Durchgangsheim zu arbeiten. Er rechnete mit dem Verständnis seiner Familie. Auch eine für die schwierige Tätigkeit der Stellvertreterin geeignete Pädagogin konnte ich überzeugen.

Auf die erste gemeinsame Beratung mit den Mitarbeitern des Heimes hatte ich mich gründlich vorbereitet und besonders das letzte Jahr analysiert. Ich ging gezielt von der Position des Kindes aus, versuchte den Erziehern bewußt zu machen, wie Kinder und Jugendliche in solche Lebenssituationen geraten konnten. Mehr noch als Essen, Trinken, ein Bett, brauchten sie menschliche Wärme, Verständnis; jemanden, der zuhören konnte.

Dazu benutzte ich folgendes Beispiel: Ich hatte die Eingabe eines Jugendlichen an die Ministerin für Volksbildung zu bearbeiten. Er lebte im Jugendwerkhof, nachdem er seit dem siebenten Lebensjahr in verschiedenen Heimen war. Aufgrund der nahenden Volljährigkeit sollte seine Heimentlassung vorbereitet werden. Allerdings wollte er unbedingt in den gleichen Ort wie seine schwangere Freundin, die ebenfalls bald entlassen werden sollte. Nun waren aber für die Bereitstellung der Wohnung, deren Einrichtung, den Nachweis des Arbeitsplatzes sowie das finanzielle Startgeld die Organe des jeweiligen Heimatkreises zuständig, und die beiden kamen aus unterschiedlichen Kreisen. Deshalb hatte man sein Anliegen abgelehnt.

Der Jugendliche war sehr verhaltensauffällig, riß ständig aus und beging dann auch zahlreiche Straftaten; der Abschluß der Berufsausbildung war gefährdet. Soweit die Fakten, die ich vor der Begegnung mit dem nun bald erwachsenen jungen Mann kannte. Ja - und dann saß er vor mir; ein großer blonder junger Mann mit abweisendem und verschlossenem Gesichtsausdruck. Ich sagte ihm, daß ich seinetwegen gekommen sei, er also Gelegenheit habe, über seine Probleme zu sprechen. Doch er starrte nur stumm vor sich hm, und wir saßen uns eine ganze Zeit schweigend gegenüber. Danach bat ich ihn, mich doch wenigstens einmal anzusehen. Er blickte auf, und ich merkte, daß die vermeintliche Ablehnung mehr aus Unsicherheit bestand. Es gelang mir dann, ihn zum Sprechen zu bewegen. Er erzählte stockend, daß seine Mutter Alkoholikerin und asozial sei. Sie habe ihn, wenn sie denn mal nicht im Gefängnis gewesen sei, stets vernachlässigt und tagelang ohne Nahrung alleingelassen. Eine Familie gab es nicht, und so sei er immer wieder ins Heim gekommen. Jedesmal habe ihm seine Mutter versprochen, sich zu ändern, aber sich nie daran gehalten. Während er dies erzählte, rannen ihm Tranen über das Gesicht, ein Anblick, der mich sehr bewegte.1

An diesem Beispiel wollte ich den Mitarbeitern des Heimes begreiflich machen, daß alle diese Kinder und Jugendlichen, so unterschiedlich sie sich bei Aufnahme und Leben im Heim gaben, ihre Vorgeschichte hatten. Danach erläuterte ich unser Vorhaben und bat um ehrliche Mitarbeit aller. Irgendwie war zu spüren, daß es angekommen war. Die Distanz, das Schweigen waren noch nicht gebrochen, aber die unverhohlene Feindseligkeit war - zumindest bei einigen - einer gewissen Nachdenklichkeit gewichen.

In den nächsten Tagen begannen wir mit den persönlichen Gesprächen, dem Erfassen des Lehr- und Lernmaterials, des Wäschebestandes, der Kleidung usw. sowie der Säuberung der gesamten Einrichtung. Bei den persönlichen Gesprächen mußte ich mir einiges anhören über den ständigen Arbeitskräftemangel und den Einsatz völlig unerfahrener Erzieher. Vor allem äußerten die Mitarbeiter Unverständnis darüber, was für nachweislich ungeeignete Leiter man ihnen über Jahre zugemutet hatte. Aber es wurden auch schon Gedanken zur Verbesserung der Situation geäußert. Wir spürten, daß bei den meisten Kollegen das Bedürfnis nach einem normalen Arbeitsklima bestand. Sie wurden von uns bzw. von Spezialisten durch Vorträge auch mit den gesetzlichen Grundlagen ihrer Arbeit und den sozialpädagogischen Aufgaben eines Durchgangsheimes vertraut gemacht. Dabei unterstützte uns die Fachabteilung des Ministeriums tatkräftig. Außerdem gab es eine Exkursion in das Durchgangsheim eines anderen Bezirkes.

Dazu hatte ich mir einige dieser Heime angesehen und ein geeignetes ausgewählt. Die Mitarbeiter unserer eigenen Einrichtung sollten deren Lieblosigkeit und Häßlichkeit durch die Besichtigung des liebevoll und ästhetisch eingerichteten Heimes mit seiner angenehmen Atmosphäre bewußt empfinden. Außerdem war ein Erfahrungsaustausch mit den Mitarbeitern des Gastheimes vorbereitet. Die Exkursion hatte Erfolg. Auf der Rückfahrt herrschte nachdenkliches Schweigen.

Der „positive Schock“ hatte gewirkt und trug ganz erheblich zu einer neuen Arbeitsmotivation bei. Durch Verlegung der Werkhofgruppe verringerten sich der Personalbedarf und vor allem die Erziehungsprobleme erheblich. Wir hatten den beiden künftigen Leitungskräften Gelegenheit gegeben, bereits in dieser Phase wirksam zu werden und sich sozusagen durch Arbeit vorzustellen. Am 9. Februar 1981 wurde die Einrichtung wieder eröffnet. Der neuen Leitung gelang es relativ schnell, die Arbeitsatmosphäre positiv zu beeinflussen. Nach und nach setzten sich ein freundlicher Umgangston sowie Ordnung und Sauberkeit durch. Die pädagogische Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen rückte zunehmend in den Mittelpunkt. Die berüchtigten und vorher so stark frequentierten Isolierzellen blieben nun fast immer leer. Nach Ende der einjährigen Übergangszeit und Einarbeitung eines ständigen Leiters entwickelte sich das Durchgangsheim zu einer stabilen Einrichtung. Die umfangreichen finanziellen Mittel, die der Staat für diese Jugendhilfeeinrichtungen zur Verfugung stellte, wurden nun gezielt und effektiv für das Wohl der Kinder eingesetzt. Sicher, die pädagogische Arbeit blieb immer schwierig, aber die Voraussetzungen für eine erfolgreichere Arbeit waren nunmehr gegeben.

Es existierten aber noch fünf weitere und wesentlich größere Einrichtungen der Jugendhilfe, für die der Rat des Bezirkes verantwortlich war. Leider mußte ich im Laufe der Zeit feststellen, daß mein Engagement für die Jugendhilfe im allgemeinen und für diese Einrichtungen im besonderen bei den leitenden Funktionären unerwünscht blieb. Man war nicht an der Lösung der Probleme interessiert, sondern daran, daß nicht darüber gesprochen wurde, getreu der Devise: Es kann nicht sein, was nicht sein darf!

Dadurch verschärften sich die Auseinandersetzungen zwischen uns, denn in dem Maße, wie die personelle Situation in den Einrichtungen schwieriger wurde und ich auf Entscheidungen drängte, geriet ich immer mehr ins Abseits. Ich sollte den Bereich nur „ruhighalten“, mehr nicht. Das aber vertrug sich nicht mit meinem Verantwortungsbewußtsein, außerdem wollte ich glaubwürdig bleiben. Nach eineinhalb Jahren stellte ich den Antrag auf Abberufung von dieser Funktion. Ich gab dazu keine „persönlichen“ oder „gesundheitlichen“, sondern meine tatsächlichen Gründe an.

Meine Versuche, danach eine Tätigkeit in einem anderen Ratsbereich aufzunehmen, scheiterten trotz vorheriger Zusage nach Kontaktaufnahme mit der Abteilung Volksbildung. Danach bewarben sich mein Mann und ich in einer anderen Bezirksstadt (meine kranke Mutter lebte dort). Wir erhielten sofort Zusage für Wohnung und Arbeit - vorbehaltlich der Rücksprache mit meiner bisherigen Dienststelle. Nach dieser hatte man zwar noch Arbeit, aber leider keine Wohnung für uns.

Nun blieb mir nichts weiter übrig, als mich in meiner alten Arbeitsstelle um die seit Jahren unbesetzte Stelle des Referenten für die kreisgeleiteten Heime zu bewerben. Das konnte man mir nicht verwehren. Mein Amtsnachfolger hatte nichts dagegen, daß ich im Referat blieb, im Gegenteil, er war froh, daß diese Stelle nun auch besetzt war.

Zwei Jahre später wurde ich als Fachschullehrerin und Abteilungsleiterin für praktische Ausbildung in eine Ausbildungseinrichtung für Heimerzieher versetzt. Ich unterrichtete Pädagogik und war ansonsten für die Vorbereitung und Durchführung der Praktika der Studenten in den Kinderheimen zuständig. Sachkenntnis und nicht zuletzt die guten persönlichen Kontakte zu den Heimleitern erleichterten mir die neue Tätigkeit. Ich stellte mich innerlich darauf ein, zu bleiben, obwohl ich durch lange Fahrtzeiten nun täglich 10 bis 12 Stunden unterwegs war.

Da es sich dabei aber ebenfalls um eine bezirksgeleitete Einrichtung handelte, konnte ich auch hier nicht in Ruhe arbeiten. Man verwehrte mir die für diese Tätigkeit notwendige und bei Arbeitsbeginn auch zugesicherte Delegierung zur außerplanmäßigen Aspirantur. Als ich die Gründe wissen wollte, erhielt ich unerwartet Kenntnis von wiederholter übler Nachrede. Es hieß u. a., ich sei eine notorische Quertreiberin, zu keiner sachlichen Zusammenarbeit fähig und mit einem Hang zur Schwarzmalerei behaftet. Die Bezirksabteilung sei an meiner Entwicklung in der Ausbildungseinrichtung nicht interessiert.

Nun reichte es. Ich wandte mich mit einer Eingabe an übergeordnete Organe, verlangte nicht nur eine Überprüfung der Anschuldigungen, sondern - falls sich diese bestätigen sollten - die Eröffnung eines Verfahrens gegen mich. Anderenfalls sollten die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.

Da ich zufällig auch schriftliche Beweise für die Verleumdungen in die Hand bekam, war eine Nachprüfung nicht schwer. Es gab Aussprachen, viele Äußerungen des Bedauerns - schließlich war ja alles nicht so gemeint - Entschuldigungen sowie zahlreiche Angebote für eine andere Tätigkeit, falls ich dies wünsche.

Ich hatte aber nun genug und kein Vertrauen mehr, wollte nicht länger im Machtbereich meines ehemaligen Vorgesetzten arbeiten. Deshalb beendete ich nach einunddreißigjähriger engagierter Tätigkeit mein Arbeitsrechtsverhältnis mit der Volksbildung. Obwohl ich mich letztlich erfolgreich gewehrt hatte, empfand ich ein tiefes Gefühl der Enttäuschung und persönlichen Niederlage.

Ich bewarb mich um die durch Krankheit freigewordene Stelle einer Leiterin der Inspektion Wissenschaft und Bildung beim Bezirkskomitee der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion (ABI) und konnte dort zum 1.8.1985 beginnen.

Während meiner Tätigkeit in der Jugendhilfe hatte ich eine Kontrolle der entsprechenden Berliner Inspektion erlebt und erkannt, welche Möglichkeiten dieses Kontrollorgan, das überwiegend mit ehrenamtlichen Kräften arbeitete, haben konnte.

Die ABI war wohl zuletzt die einzige Institution in der DDR, die partiell und ohne zu große Einschränkungen Mißstände und Gesetzesverletzungen ansprechen und deren Beseitigung verlangen konnte. Sie hatte das Recht, nach Kontrollen Vorschläge zu unterbreiten, Auflagen zu erteilen und Verlangen gegenüber den Verantwortlichen auszusprechen. Voraussetzungen waren allerdings absolute Genauigkeit bei Kontrollen, Sach- und Gesetzeskenntnis, Fähigkeiten im Umgang mit Menschen und natürlich Unbestechlichkeit. Außerdem mußte man durch Nachkontrollen an den Problemen dranbleiben. Meine bitteren Erfahrungen im Umgang mit Partei- und Staatsfunktionären der Volksbildung, die ich gemacht hatte, waren nicht die schlechtesten Voraussetzungen dafür. Es gab nunmehr nichts, was ich nicht für möglich gehalten hätte!

Relativ schnell baute ich mir eine sachkundige Inspektion mit etwa 20 ehrenamtlichen Mitarbeitern aus den verschiedenen Bereichen der Volksbildung und Kultur auf. Wenn auch die gesetzlichen Voraussetzungen für die Wirksamkeit der ABI gegeben waren, kam es doch, wie überall, darauf an, was man daraus machte. Das ging nicht ohne Auseinandersetzungen und oft war es schwierig, sich für Menschen einzusetzen, die selbstlos und „um der Sache willen“ mit übergeordneten Stellen in Konflikte gerieten. Ich lernte viele Genossen und parteilose Bürger kennen, die gegen Selbstherrlichkeit, Schönfärberei und Gesetzesverstöße kämpften und dafür Repressalien in Kauf nahmen. Einigen konnten wir helfen.

Davon möchte ich im folgenden berichten. Ich wähle erneut ein Beispiel aus dem Bereich Jugendhilfe/Heimerziehung, das noch dazu meinen eigenen Erfahrungen in auffallender Weise ähnelte.

Die Inspektionen der ABI hatten neben den Kontrollen oft Eingaben der Bürger zu bearbeiten. Ich erhielt eine direkt an mich gerichtete Eingabe einer Bürgerin, die ich im folgenden Frau X. nennen möchte. Ich zitiere aus dieser Eingabe:

„Sie sind nun die Erste auf dem inzwischen recht langen Weg ..., die mich nicht persönlich kennt und die ich nicht kenne. Daß, ich Ihnen nach allem trotzdem vertraue, hat seinen Grund auch darin, daß alle, die ich nicht mehr achten kann, Sie nicht sehr mögen und daß alle, die ich sehr achte, eine hohe Meinung von Ihnen haben. Ich hatte früher mit Ihnen ins Gespräch kommen sollen, dann hätte ich mich eher an Sie gewandt.

Hier im Kreis erschien es mir zwecklos, mich an die ABI zu wenden, das haben mich die Erfahrungen der fragwürdigen „Einigkeit“ gelehrt, die fest und unerschütterlich auch unbequemen Fragen gewachsen scheint.

Jedenfalls bedaure ich, daß ich Sie in der Zeit meiner Jugendfürsorgertätigkeit nicht persönlich kennen gelernt habe, vielleicht wäre mir die „unbegreifliche Entscheidung“ erspart geblieben.“

Soweit aus dem Schreiben der Bürgerin X. an mich. Dazu eine dicke Akte mit Durchschriften sämtlicher Eingaben, die sie im Interesse der Kinder eines Kinderheimes an verschiedene Stellen in Kreis und Bezirk geschickt hatte; dazu auch die Antwortschreiben, die zeigten, daß ihre Bemühungen völlig erfolglos geblieben waren. Die „unbegreifliche Entscheidung“ bestand darin, daß sie der Volksbildung gekündigt und demonstrativ eine Stelle als Leiterin einer Altstoffannahmestelle übernommen hatte.

Natürlich war ich zunächst etwas befremdet von diesem seltsamen Schreiben an mich, wie auch von dem gesamten Vorgang. Da ich aber aus eigener Erfahrung nichts mehr für unmöglich hielt, beschloß ich mit Einverständnis meines Vorgesetzten, mich der Sache anzunehmen. Zunächst wollte ich die Kollegin persönlich kennenlernen. Wir vereinbarten einen Termin, und so erschien sie eines Tages zum ersten Gespräch.

Frau X. war eine kleine zierliche Frau, Mitte 50. Sie hatte an diesem kalten und verschneiten Wintertag fast drei Stunden mit ihrem Trabi gebraucht, um den Termin wahrnehmen zu können. Ich bemerkte ihre Unruhe und Aufregung, die sie trotz aller Bemühungen nicht verbergen konnte. Danach hörte ich ihr fast zwei Stunden zu und spürte dabei die tiefen Verletzungen, die der bisherige Verlauf der Angelegenheit bei ihr hinterlassen hatte. Immerhin war sie über 30 Jahre bei der Volksbildung beschäftigt gewesen und oft für ihren selbstlosen und sachkundigen Einsatz als Jugendfürsorgerin ausgezeichnet worden. Ins Kinderheim hatte sie sich versetzen lassen, um einer jungen Kollegin die Fürsorgerinnenstelle freizumachen, da diese wegen ihres Kleinkindes die im Heimbetrieb üblichen Schichten nicht mehr leisten konnte.

Im Heim gab es nach ihrer Ansicht ernsthafte Mängel in der sozialpädagogischen Arbeit, besonders aber im Umgang mit den erziehungsschwierigeren Kindern. Nachdem ihre Versuche fehlschlugen, dies direkt mit dem Heimleiter und den Kolleginnen zu klären, wandte sie sich an den Kreisschulrat und an den Rat des Bezirkes, um auf diese Probleme aufmerksam zu machen. Im Verlaufe eines Jahres hatte sie jedoch nichts weiter erreicht, als daß viel Papier beschrieben und sie selbst als Störenfried und Lügnerin abgestempelt wurde. Ihre Kündigung bei der Volksbildung und den Arbeitsbeginn beim VEB Altstoffhandel begründete sie damit, daß sie ein Zeichen setzen wollte. Sie glaubte, damit ihre ehemaligen Vorgesetzten und Kollegen aufrütteln zu können. Aber - nichts geschah. Man nahm dies nur zur Kenntnis und fühlte sich in der Annahme bestätigt, daß sie nun wohl völlig „durchgedreht“, auf jeden Fall aber nicht normal sei.

Ich hatte mich entschieden, diesen Dingen auf den Grund zu gehen. Schließlich ging es möglicherweise um das Wohl von 80 Kindern und auf jeden Fall um eine bisher verdienstvolle Kollegin, die Hilfe brauchte - unabhängig davon, was die Kontrolle ergeben würde. Bei Durchsicht der Unterlagen stellte ich fest, daß die Eingaben überwiegend vom Schreibtisch aus bearbeitet worden waren. Nachweise für eine Kontrolle vor Ort gab es nicht. Hier ein Zitat aus der Stellungnahme des damaligen Heimleiters, die er - als „Ersatz“ für eine Kontrolle durch die übergeordnete Dienststelle -selbst zu verfassen hatte: „Unter diesen Umständen sehen wir große Schwierigkeiten, Kolln. X. weiter bei uns zu beschäftigen. Nicht nur die Mitglieder der Leitung sind tief beleidigt über soviel Unverschämtheit, die den täglichen Einsatz aller Kollegen herabwürdigt.“

Nun bereitete ich mit zwei sachkompetenten ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen eine gründliche Kontrolle vor. In einem Vorgespräch erhielt der Heimleiter eine Konzeption der Kontrolle, konnte sich also darauf einstellen.

Als wir morgens 8.30 Uhr eintrafen, waren die meisten Kinder in der Schule. Der Heimleiter führte uns durch das Heim, also in die Gruppenräume, Schlafräume, sanitären Einrichtungen und anschließend in die Küche und den Speiseraum. Wir hatten schon viele Heime gesehen und wußten um die großzügigen finanziellen Möglichkeiten für deren Ausstattung. Deshalb stimmte uns dieser erste Eindruck recht nachdenklich.

Wenn man davon ausging, daß ein Kinderheim in der DDR u. a. die Aufgabe hatte, den Kindern, die nicht in einer Familie leben konnten, Geborgenheit zu geben, Aufgaben der Familienerziehung zu übernehmen und eine allseitige Entwicklung der Kinder zu fördern, so genügte diese Einrichtung schon vom ersten äußeren Eindruck keinesfalls diesem Anspruch. Das gesamte Heim wirkte unsauber und lieblos. In den Gruppenräumen mangelte es an Raumschmuck, Tischdecken, u. a. m. Statt Blumenvasen wurden Gemüsegläser benutzt. (Kommentar des Heimleiters: „Die Kinder klauen sowieso alles.“) In den Schlafräumen sah es nicht besser aus. Die Bettwäsche war schmutzig. (Begründung: Unzureichende Waschkapazität. Ein Antrag auf eine zusätzliche Waschmaschine war aber nie gestellt worden). In den Waschräumen fehlten die Spiegel über den Waschbecken. Da nicht ausreichend Haken vorhanden waren, hingen die Handtücher mehrfach übereinander, waren feucht und schmutzig. In einem der Toilettenräume fehlten an zwei Toiletten die Türen. (Kommentar: „Die lassen sie sowieso auf und unterhalten sich.“) Das Essen wurde im Speiseraum eingenommen. Während der Tisch für die Erwachsenen mit einer Wachstuchdecke bedeckt war, mußten die Kinder ohne Tischdecke auskommen.

Wir waren ziemlich geschockt. Schließlich hatten wir uns lange vorher angemeldet und erwartet, daß Heimleiter und Erzieher versuchen würden, wenigstens einen guten optischen Eindruck zu sichern. Aber - sie empfanden diesen Zustand als normal!

Nun wandten wir uns den weiterführenden Fragen der pädagogischen Arbeit zu. Dazu unterhielten wir uns mit allen Mitarbeitern sowie mit Kindern und Jugendlichen. Außerdem sah ich mir ein Drittel der Kinderakten an, die in der Regel Auskunft über die Gründe der Heimeinweisung gaben, aber auch Aussagen über die Entwicklung der Kinder im Heim enthalten sollten. Statt vernünftiger Einschätzungen zur Entwicklung der Kinder enthielten viele Akten recht fragwürdige „Stellungnahmen“, „Gelöbnisse“ und „Protokolle“, die den Kindern nach entsprechendem Fehlverhalten abverlangt worden waren. Der Inhalt dieser Erklärungen zeigte aber auch, daß es im Zusammenleben der Kinder und Jugendlichen ernsthafte Probleme gab, mit denen die Erzieher offensichtlich nicht fertig wurden. Denn einige von ihnen reagierten, wie aus den „Stellungnahmen“ der Kinder hervorging, mit solchen unerlaubten und wenig geeigneten Mitteln wie Essenentzug, Vorverlegung der Bettruhe und verschärfte Ausgangssperren. Außerdem stellten wir fest, daß die Jugendlichen eine Art Selbstjustiz gegenüber den Jüngeren entwickelt hatten. Das war den Erziehern zwar bekannt, wurde aber nicht energisch genug von ihnen bekämpft. Einige der Kinder trafen wir mit blauen Flecken und anderen Spuren dieser Selbstjustiz an.

Soweit in Kürze das Ergebnis unserer Kontrolle.

Sämtliche kritische Hinweise der Frau X. waren demnach berechtigt. Die Auswertung der Kontrolle und abschließende Bearbeitung der Eingabe fand im Beisein aller Mitarbeiter des Hauses und von Vertretern der beteiligten Institutionen statt. Wir erteilten Auflagen zur kurz- und längerfristigen Verbesserung der Ausstattung und der materiellen Bedingungen für den Alltag im Kinderheim und unterbreiteten Vorschläge zur Unterstützung der pädagogischen Arbeit.

Bereits ein halbes Jahr später konnten wir bei unserer Nachkontrolle feststellen, daß sich zumindest äußerlich vieles zum Guten geändert hatte. Die neu eingesetzte Heimleiterin - übrigens eine Erzieherin aus diesem Heim - schien die Voraussetzungen zu besitzen, auch die wesentlich schwierigeren Veränderungen in der pädagogischen Arbeit bewirken zu können.

Ja, und was wurde aus Frau X.? Sie nahm danach wieder eine pädagogische Tätigkeit auf, allerdings außerhalb der Volksbildung. Ob sie die mit dieser Eingabe verbundene gezielte Demontage ihrer Persönlichkeit, die tiefen psychischen Verletzungen verarbeiten konnte? Ich habe sie nach Abschluß der Eingabenbearbeitung nicht wiedergesehen.

Warum mußten aber erst wir kommen, um die leidige Angelegenheit zu beenden? Warum wurde nicht gleich auf die ersten Signale reagiert, als der Schaden noch relativ gering war? Ich denke schon, daß eine der Ursachen in der „fragwürdigen Einigkeit“ der zuständigen Stellen im Kreis - wie es Frau X. formuliert hatte - bestand. Man sah die Dinge eben so, wie man sie sehen wollte und nicht, wie sie wirklich waren. Diesem Phänomen konnte man leider sehr oft begegnen.

Aber trotz aller demokratischen Defizite gab es eben auch viele Möglichkeiten, gegen solche Verhaltensweisen anzukämpfen und durch die Mitarbeit in ehrenamtlichen Gremien, wie z. B. in der ABI, Veränderungen zu bewirken!

Auch das gehörte zum Alltag in unserer DDR!

Ulrike Rath


1 Übrigens wurde den beiden geholfen, der junge Mann schloß auch die Lehre ab. Wie es mit ihm weiterging, ist mir allerdings nicht bekannt.


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