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Königin in der DDR 

Mein Zuhause war ein zweistöckiges Fachwerkhaus mit drei Zimmern, einer Küche und Innentoilette. Zum Baden mußten wir über den Hof gehen. Dort befand sich ebenfalls ein Fachwerkhaus. Hier waren der Hühnerstall unseres Vermieters, ein Fahrradschuppen und der Raum, in dem ein großer Kessel angeheizt werden konnte, damit wir am Wochenende nach Herzenslust in der großen, silberglänzenden Blechbadewanne planschen konnten. Es war ein tolles Vergnügen, denn der Steinfußboden konnte naß werden, niemand störte sich daran. Der Wannenrand, an dem normalerweise das weise Haupt Ruhe und Entspannung finden sollte, wurde von uns Kindern als Rutsche benutzt. Dieser ganze Spaß kostete unsere Familie nur 34,10 M. Das weiß ich deshalb so genau, weil ich einmal im Monat, mit einem kleinen Vokabelheft ausgerüstet, zu unserer siebzigjährigen Vermieterin die Holztreppe hochstieg. Sie war schon abgelaufen, und manchmal knarrten die Treppenstufen unter den Kinderfüßen. Oben angekommen, holte die alte Frau ihre Brille vom Schrank und schrieb die 34,10 M ins Heft. Während dieser Zeit schweiften meine Blicke im Zimmer umher und bewunderten die alten Märchenmöbel. Hier gab es die Uhr der Sieben Geißlein. Hier gab es die schönen Stühle mit dem Korbflechtmuster, und alles hatte so einen alten sauberen, zum Träumen einladenden Duft.

Nun hielt der große Umzugswagen vor der Tür, zum letzten Mal ging mein Blick umher. Dort vor dem Fenster stand der alte Küchentisch. Hier hatte ich schon manchmal brütend gesessen, in der Hoffnung, daß mir zu einem Aufsatzthema - zum Beispiel, was ich in den Ferien erlebte - etwas einfallen möge. Dabei lockte draußen die Sonne. Die Hühner, die ich auf dem Hof friedlich picken sah, luden mich zum Spielen ein, und nebenan in der Speisekammer stand meine kramige Spielzeugkiste. Sie übte besonders dann große Reize auf mich aus, wenn ich nicht spielen durfte. Vorbei diese Zeit.

Ich schnappte mir meine Griechische Landschildkröte, die ich mir einmal für 15 Mark gekauft hatte, und wir fuhren meiner neuen Heimat, der Bezirksstadt Magdeburg, entgegen. Voller Neugier, nur mit ein wenig Wehmut, ließ ich mich von der Großstadt einfangen. Die Straßenbahn übte eine besondere Anziehungskraft auf mich aus. Für 20 Pfennige, die man in einen lustigen Apparat steckte, bekam ich einen Fahrschein und eroberte mir die neue Welt. Wunderschöne Neubauten, historische Altbauten, freie Plätze, Springbrunnen und freundliche Menschen zogen an mir vorbei. Ein neuer Abschnitt in meinem Leben begann.

Nur manchmal erinnerte ich mich noch an das damals über achtzig Jahre alte Fachwerkhaus. Wir lasen in der Schule Alex Weddings „Ede und Unku“. Mir war beim Lesen, als wäre ich mittendrin im Geschehen: Ich komme vom Spielen heim und betrete unsere alte Wohnung, also einen länglichen Flur, sehe einen großen langen Mantel und Hut, links an der Garderobe. Der Flur wirkt dunkel. Links befindet sich die Küchentür. Dort höre ich leises Flüstern der Eltern. Voller Spannung, mit geröteten Wangen, wende ich mich nach rechts und betrete das Wohnzimmer. Die Dunkelheit und geheimnisvolle Stimmung bleiben hinter mir, dafür sehe ich den gemütlich gedeckten Kaffeetisch und höre, wie Max’ Vater das Wort „Ausbeutung“ erklärt.

Obwohl dieses Wort im Geschichts- und Staatsbürgerkundeunterricht oft benutzt wurde, waren Ausbeutung und Krieg weit weg. Im Sozialismus fühlte ich mich geborgen. An Pioniernachmittagen sammelten wir Flaschen, als Timurhelfer halfen wir alten Leuten Kohlen aus dem Keller in die Wohnung tragen, und bei Freundschaftstreffen lernten wir Kinder aus Vietnam und der Sowjetunion kennen.

Sicherlich hat jeder seine eigenen Erfahrungen gemacht. Meine waren ausschließlich positiv, und ich bin meinen ehemaligen Lehrern, meinen Eltern und dem Staat sehr dankbar für das, was sie für mich getan haben. Meine Mutter hatte nur wenig Geld, mein leiblicher Vater war kein gut angesehener Mann, so daß ich nicht immer mit den besten Sachen ausgestattet war. Trotzdem war es möglich, daß ich eine gute Schulbildung genoß und Hilfe durch meinen Stiefvater erhielt, der selbst in der Abendschule die 10. Klasse nachholte, um ein Fernstudium zu beginnen. Auch im Studium bekam ich viel Hilfe von meinen Mitstudenten und Dozenten, so daß ich mir meinen Traumberuf erarbeiten konnte.

Als ich gebeten wurde, etwas über das Leben in der DDR zu schreiben, aber es sollte etwas Typisches sein, fiel es schwer, das Richtige zu finden, denn wenn man in der „Sahne“, so habe ich es empfunden, gelebt hat, welchen Krümel soll man herauspicken?

An einige Dinge erinnere ich mich aber besonders gern zurück. Ich besuchte die 7. Klasse, und in unserer Kreisstadt wurde in der Schule gerade das Unterrichtsfach UTP, Unterrichtstag in der Produktion, eingeführt. Dadurch gab es noch keinen festen Vertrag mit dem Betrieb. Wir durften im Tierpark der Stadt die Grünanlagen pflegen. Ich hatte mit wenig Interesse verfolgt, welche Kräuter zu den Unkräutern zählten und welche Kräuter die wertvollen Blumen waren. Um so mehr beeindruckten mich die Geschichten, die die Tierpfleger von ihren tierischen Schützlingen erzählten. Vor einem Käfig hielt ich mich beim Reinigen und Säubern der Pflanzen besonders lange auf. Es war der Käfig, in dem ein Bernhardiner untergebracht war. Von ihm wurde erzählt, daß er einem Menschen beim Schneesturm in den Bergen das Leben gerettet hatte. Jede Woche fieberte ich dem Unterrichtstag in der Produktion entgegen. Um so härter traf es mich, als die Lehrer uns mitteilten, daß wir ab sofort im RAW (Reichsbahn-Ausbesserungs-Werk) unterrichtet würden. Die braunen Augen des Bernhardiners fand ich viele Jahre später bei meinem Mann und bei „Kommissar Rex“ wieder.

Zum Leben in der DDR gehörte nicht nur das Lernen, sondern auch die Freizeit. Unzählige Male fuhr ich ins Ferienlager, entweder als Kind oder als Betreuende. Dort schliefen wir in Zelten, alten Burgen, Neubauten oder Bungalows. Obwohl alles gut organisiert war und wir gut behütet unsere Ferien verlebten, blieben kleine Abenteuer nicht aus, die sich auch oft aus der kindlichen Phantasie entwickelten.

Irgendwann kam ich in das Alter, wo es mir regelmäßig einmal im Monat schlechtging. Wenige Male waren meine Schmerzen so groß, daß ich mich hinlegen mußte. Dazu gab es in der DDR in Betrieben und Schulen einen Frauenruheraum. In der Berufsschule war es interessant, diesen Raum zu benutzen. Ich lernte damals den Beruf „Facharbeiter für Schreibtechnik“, und meine Mitschülerinnen tauschten hier ihre ersten mit Freunden gemachten Erfahrungen aus. Dadurch war es interessant und amüsant, sich in diesem Raum zu kurieren. Was ich damals nicht wußte, die Mädchen konnten interessanter plaudern, als der Sex-Erzähler einer „Westkassette“, die wir uns später als Studenten heimlich besorgt hatten. Wie wir zu dieser Kassette gekommen sind, weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall waren wir über den Inhalt mächtig enttäuscht. Das „Kapital“ von Karl Marx konnte einen mehr fesseln. Zu verstehen war beides nur schwer.

Es kam in der DDR manchmal vor, daß bestimmte Erzeugnisse nur schwer zu erhalten waren. Aber wie groß war dann zum Beispiel die Freude, wenn das Weihnachtsfest nahte und man nach langem kollektiven Anstehen Apfelsinen erhalten hatte. BRD-Journalisten sorgten auch einmal mitten im Jahr dafür, daß die Bevölkerung wie besessen Mehl kaufte. Natürlich war der sonst gut laufende Handel auf „Hamsterkäufe“ nicht eingerichtet, und die „Wahrsagerei“ des westdeutschen Fernsehens traf deshalb ein: Mehltüten wurden knapp. Für uns angehende Staatsbürgerkundelehrer hieß das: Wir wurden gebeten, ein Wochenende nicht nach Hause zu fahren und beim Eintüten des Mehls zu helfen.

Ähnliches erlebte ich bei einem Pfingsttreffen. Es gab mehrere Bühnen mit verschiedenen Programmen. Natürlich hielt sich die Jugend lieber bei einem Puhdy- oder Karat-Konzert auf, als vor einer Bühne, auf der sowjetische Lieder und Tänze dargeboten wurden. Es mußte eine Hundertergruppe FDJler zur gerade beschriebenen Bühne beordert werden, denn ZDF und ARD waren wie immer „in der ersten Reihe“, d. h. diesmal auf der Suche nach Negativschlagzeilen über unser Treffen. Bald wurden auch die restlichen Plätze von Jugendlichen besetzt, und tosender Beifall begleitete das deutsch-sowjetische Programm.

Gut, daß nicht immer Journalisten zur Stelle waren. Während des Studiums lernten und halfen wir an verschiedenen Arbeitsplätzen. Viel Freude und Spaß gab es bei der Arbeit in den LPG, anstrengend waren die Nachtschichten im Trabantwerk Zwickau. Ein junger Arbeiter erkannte unsere Müdigkeit und unser Leiden. Er bot uns an, die Nachtpause zu verlängern, indem er eine Maschine defekt erscheinen ließ, die er zu einem späteren Zeitpunkt leicht wieder reparieren würde. Dadurch konnten wir uns ein wenig länger ausruhen und darüber grübeln, wie es kam, daß pausenlos so viele Trabbis über das Band liefen und man in der DDR trotzdem länger als zehn Jahre auf ein Auto warten mußte. Ich glaube nicht, daß der junge Monteur schuld daran war. Ein Gutes hatte die Sache. Die Straßen der DDR waren nicht überlastet. Staumeldungen kannte man nur, wenn man Westfernsehen sah.

Heute denke ich gern an das Leben in der DDR zurück. Es war für mich eine märchenhafte Zeit.

Als Kind liebte ich Märchen, und in der Schule sollten wir uns einmal dazu äußern, ob wir uns vorstellen könnten, als König oder Königin zu leben. Zu meiner Verwunderung war ich die einzige, die diesen Wunsch hatte. Heute dagegen weiß ich, daß es mein letzter Wunsch wäre, Königin oder überhaupt prominent zu sein - und schon gar nicht in der gegenwärtigen Gesellschaft - denn ein freies Leben hat man dann nicht. An dieser Stelle möchte ich jedoch meinem Mann danken, der mich sowohl in der DDR als auch jetzt in der BRD immer wie eine Königin behandelt hat.

Cordula Jäkel


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