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Träume blieben Schäume

  Vor 30 Jahren, im Jahr 1970, rief die FDJ-Tageszeitung „Junge Welt“ ihre Leser zum „Träumen ins Jahr 2000“ auf. Sie sollten schildern, was sie am Donnerstag, dem 6. Januar 2000, tun. 500 Gewinner dieses Preisausschreibens erhielten damals eine Einladung zum Festbankett am 8. Januar 2000 in Berlin.

Damals arbeitete ich als Lehrer und Pionierleiter an der polytechnischen Oberschule in Zehista und war danach bis zum Vorruhestand (1990) im Pionierhaus Pirna tätig. Über 30 Jahre lang habe ich die Junge-Welt-Einladung aufbewahrt. Dafür sorgte schon meine Familie. Und nun kam tatsächlich die Einladung nach Berlin: Anfang Januar 2000 Treff der Gewinner des Preisausschreibens! Sie fand in ansprechendem Rahmen in der Studenten- und Professorenmensa der Humboldt-Universität statt und wurde für meine Frau und mich ein unvergeßliches Erlebnis. Dies nicht zuletzt deshalb, weil sich die Zeiten inzwischen nicht nur im sprichwörtlichen Sinne geändert haben.

Nun der Rückblick auf 1970. Wir schrieben der Redaktion „Junge Welt“, wie wir das Preisausschreiben für eigene Aktivitäten nutzen wollten und dann natürlich von den Visionen, die wir damals für das Jahr 2000 hegten. 

Nachstehend einige Auszüge: 

„An die Junge Welt

Berlin 

Liebe Freunde, 

Euer Preisausschreiben regte den Freundschaftsrat und die GOL unseres Schulkombinates an, schon heute den Tagesablauf für den 6.1.2000 zu planen. ... 

Was haben wir vor?

Bis zum 15.5.70 wird jeder FDJ- und Pionierfunktionär unserer Schule in einem Beitrag seine Vorstellungen über das Jahr 2000 äußern. ...

Zum Internationalen Kindertag 1970 gibt die Leitung unseres Patenbetriebes einen Empfang für die Autoren und wird die Auffassung von Energiespezialisten über das Jahr 2000 darlegen. Diese Veranstaltung ist Auftakt zu Gesprächen in allen Gruppen über die Entwicklungstendenzen in den nächsten Jahrzehnten. Diese Gespräche sollen uns in der Erziehungsarbeit zum bewußteren Lernen durch alle Schüler helfen. ...

 

In unserem Programm zum Tag des Lehrers am 12. Juni wollen wir dann mit den besten Arbeiten an die Öffentlichkeit treten und sie als kleinen Dank an unsere Lehrer übergeben. Angeregt durch Euer Preisausschreiben, wollen wir die 25 besten Verfasser solcher Arbeiten (es dürfen bei uns auch Zeichnungen, Modelle u. a. eingereicht werden) zu einem großen Treffen in 24 bzw. 30 Jahren einladen ...“

Hier nun unser Beitrag für die damalige Leseraktion der „Jungen Welt":

 

So träumten wir von diesem 6. Januar 2000: 

„Bereits am Vorabend trafen die ersten Gäste in dem 1980 an der Autobahn Dresden-Prag erbauten Motel auf dem Kohlberg bei Pirna-Zehista ein. Bis zu 5.000 km mußten von einzelnen Freunden zurückgelegt werden. Zu ihnen zählt beispielsweise unser bester Deutsch- und Russisch-Absolvent aus dem Jahre 1972, der jetzt an der mit uns eng befreundeten Ernst-Thälmann-Schule in Schegarka, Gebiet Tomsk, als Deutsch-Lehrer arbeitet. Trotz dieser Entfernungen waren auch diese Freunde von ihren jetzigen Wohn- und Arbeitsorten zu unserem Treffpunkt längstens 2 Stunden unterwegs. 90 bis 100 Minuten betragen die Flugzeiten. Vom Flughafen Dresden bis zum Motel auf dem Kohlberg schafft man es auch in Wintern wie denen des Jahres 1970 in 20 Minuten. Autobahnen und Fernverkehrsstraßen sind mit einem Elastüberzug versiegelt. Dadurch kann in den Straßenunterbau kein Wasser mehr eindringen, und die lästigen Frostaufbrüche gehören schon längst der Vergangenheit an. Außerdem liegt aber unter dem Elastüberzug ein Heizteppich und läßt jede auftretende Schneeflocke sofort schmelzen und die Fahrbahn rasch abtrocknen. Die Kosten für eine solche Straßenpräparierung waren nicht teurer als die Kosten für den Winterstraßendienst im Verlauf von 5 Jahren. Sie hat sich also längst amortisiert.

Übrigens kam keiner der Freunde mit einem privaten Fahrzeug hier an. Vor 15 Jahren entschloß sich die Gesellschaft, in allen Wohngebieten und sonstigen Treffpunkten der Bürger kostenlose Ausleihstationen für Fahrzeuge verschiedenster Art zu errichten. Hauptberuflich tätige Kfz-Fachleute betreuen diese Fahrzeuge und sorgen für deren ständige Einsatzbereitschaft. Am Ziel kann das Fahrzeug an jeder beliebigen Ausleihstelle wieder abgeliefert werden. Diese Maßnahmen brachten einen großen volkswirtschaftlichen Nutzen. Erstens werden nur noch die wirklich notwendigen Fahrten durchgeführt, und zweitens haben sich die moralischen und technischen Verschleißzeiten bedeutend angenähert. Doch zurück zu unserem Treffen.

War das eine Wiedersehensfeier. Die Sektpfropfen knallten nur so. Und trotzdem sind wir am Morgen des so lang ersehnten Tages topfit. Ausgeschlafen und ohne jeden „Kater“ treffen wir uns zum Frühstück. Die gegenseitige Selbsterziehung hat Ende der siebziger Jahre eine sehr gesunde Lebensführung erreicht. Besoffene wie ehedem gibt es nicht mehr, und auch der für die körperliche Reproduktion notwendige Schlaf wird strikt eingehalten. Punkt 8 Uhr steht der schuleigene Bus vor der Tür. Seitdem es auf der Welt keine Ausbeuterstaaten mehr gibt, konnten die Armeen abgeschafft werden. Das wiederum machte es möglich, jeder Schule mehrere eigene Omnibusse samt Fahrer zur Verfügung zu stellen. Exkursionen der Schüler gehören jetzt zum ständigen Bestandteil vieler Unterrichtsstunden. Zu unserer Zeit war dazu meist ein ganzer Tag notwendig. So viel Zeit aber hatte der einzelne Fachlehrer dazu nicht zur Verfügung. Um 8.15 Uhr beginnt der „große Bahnhof“ in der Schule.

Vor zwei Wochen war in der Schule ein großes Preisausschreiben beendet worden. Das Thema: „Die Welt im Jahre 2050“! Die 10 besten Autoren durften daraufhin Kisten aus dem Jahre 1970, 1980 und 1990 auspacken. In diesen Kisten befanden sich die Arbeiten über die Zukunftsvorstellung der Schüler jener Zeit. Inzwischen entstand aus den Arbeiten eine interessante Ausstellung, die durch uns Preisträger von damals eröffnet werden soll.

Bei der Besichtigung der Ausstellung zeigt sich, daß die Voraussagen der Schüler immer konkretere Formen annehmen und der späteren Wirklichkeit auch immer näher kommen. Das ist ein Ergebnis des immer tieferen Eindringens der Schüler in die Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung in Natur, Technik und Gesellschaft. Die folgenden zwei Stunden nehmen wir am Unterricht teil. Wir vom „Jahrgang 70“ beschränken uns auf die Hospitation in Unterstufenklassen. Wir haben Mühe, dem Stoff, der in der 4. Klasse gelehrt wird, zu folgen. Das menschliche Wissen hat sich gegenüber 1970 vervierfacht. Das Erstaunliche dabei ist jedoch, daß die Unterrichtszeit gleichzeitig um ein Drittel gekürzt werden konnte. Die Lehrer fordern auch keine Hausaufgaben mehr. Es gehört zu den Selbstverständlichkeiten, daß jeder Schüler aus eigenem Antrieb zu Hause das neu erworbene Wissen schöpferisch weiterverarbeitet und festigt. Dabei spielt der wissenschaftlich-praktische Unterricht eine bedeutsame Rolle. Als wir den Schülern des Jahres 2000 einige Ausgaben der „Trommel“ des Jahres 1970 mit der Diskussion über die Störenfriede zeigen, belächeln sie uns mitleidig. Ihnen ist ein solches Schülerverhalten unverständlich. Jede Minute vergeudete Unterrichtszeit ist doch eine Minute verlorene Freizeit, d. h. äußerst interessanter Beschäftigung mit Hobbys, die aber keiner von ihnen missen möchte.

Am Nachmittag nehmen wir an Gruppenversammlungen des Jugendverbandes teil. Wir werden an unsere Zusammenkünfte mit den Veteranen erinnert. Nun sind wir es, die wir unsere Erfahrungen darlegen. Besonders viele Fragen gibt es darüber, wie wir es fertigbrachten, den Krieg für immer von der Welt zu verbannen, um die beiden deutschen Staaten zu einem einheitlichen sozialistischen Deutschland zu vereinigen, das heute einen so geachteten Platz in der Völkerfamilie einnimmt. Der zwölfjährige Jörg, der seinen letzten Urlaub mit seinen Eltern in Son-My verbrachte, dankt uns im Namen aller Jugendfreunde für unsere Solidarität, die wir in der schweren Zeit dem vietnamesischen Volk entgegenbrachten. Uns stehen die Tränen in den Augen, und wir müssen von der kleinen Li erzählen.

Nach dem gemeinsamen Kaffeetrinken der 3 Generationen ziehen wir auf die große Wiese hinter der früheren LPG. In den vergangenen 30 Jahren haben sich hier die Eigentumsverhältnisse weiterentwickelt. Die Gesellschaft stellte der LPG immer größere und wertvollere Produktionsmittel zur Verfügung. Dadurch verschob sich das Verhältnis von Genossenschafts- und Volkseigentum immer mehr zugunsten des letzteren. Und so beschloß die Mitgliederversammlung der LPG die Umwandlung in ein Volkseigenes Gut. Dazu trug vor allem die Einrichtung eines ACZ (Agrochemisches Zentrum) bei, auf dessen Flugplatz wir jetzt stehen. Da nähert sich auch schon der Turbinenhubschrauber, der den Preisträger unserer Schule zum großen Festbankett der „Jungen Welt“ nach Berlin bringen soll. Doch zunächst wird Sabine, 1970 als Gruppenpionierleiter und Schülerin der 9. Klasse tätig, von 70 Jungpionieren umstürmt. Jeder überreicht ihr eine Rose. Sie sind frostresistent und wurden extra von der AG „Junge Gärtner“ für diesen Tag gezüchtet. Diesen Blumenstrauß soll die jetzige Studienrätin und Verdiente Lehrerin des Volkes der „Jungen Welt“ als Gruß der Pioniere und FDJ-Mitglieder aus Pirna-Zehista überreichen. Außerdem werden ihr die besten Prognosearbeiten über das Jahr 2050, ausgearbeitet von Schülern des Jahres 2000, als Reisegepäck mit auf den Weg gegeben.

Wir „Schulpreisträger“ des Jahres 1970 aber verbringen den Abend gemeinsam mit unseren damaligen Lehrern und dem Pädagogenkollektiv des Jahres 2000. Und wir sind bei unseren Erzählungen sehr stolz auf das, was wir geschaffen haben und gedenken dankbar jener, die uns einen solchen guten Weg gewiesen und ermöglicht haben.

 

Pirna, den 8. Mai 1970“

Hellmut Michel  


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