vorhergehender Beitrag

Inhaltsverzeichnis

nächster Beitrag


„Ja, das geloben wir!" 

Diese Worte sprach ich wie Zehntausende anderer Schüler der 8. Klassen in der ganzen DDR im Frühjahr 1970 während der Jugendweihe vor unseren Verwandten und Lehrern in einem festlich geschmückten Saal. Unsere Veranstaltung fand im Theater statt.

Wir gelobten, „als junge Bürger unserer Deutschen Demokratischen Republik, getreu der Verfassung, für die große und edle Sache des Sozialismus zu arbeiten und zu kämpfen und das revolutionäre Erbe des Volkes in Ehren zu halten“. Wir gelobten auch, „als wahre Patrioten die feste Freundschaft mit der Sowjetunion weiter zu vertiefen, im Geiste des proletarischen Internationalismus zu kämpfen und den Sozialismus gegen jeden imperialistischen Angriff zu verteidigen“. Weiterhin ging es in unserem Gelöbnis um gegenseitige Achtung und Hilfe, um die Vereinbarung des persönlichen Glücks mit dem Kampf für das Glück des Volkes, das Streben als treue Söhne und Töchter unseres Arbeiter-und-Bauern-Staates nach hoher Bildung und Kultur und das Einsetzen all unseres Wissens und Könnens für die Verwirklichung unserer humanistischen Ideale.

Das waren schon beeindruckende und unvergeßliche Momente, als wir die Bühne betraten und die Urkunden zusammen mit Blumensträußen entgegennahmen. Lehrer überreichten auch jedem ein Buch zur Erinnerung an diesen denkwürdigen Tag. Es trug den Titel: „Weltall Erde Mensch“1 und war ein dickes Sammelwerk zur Entwicklungsgeschichte von Natur und Gesellschaft. Auf den ersten Seiten befand sich ein Geleitwort von Walter Ulbricht, dem damaligen Staatsratsvorsitzenden, das mit den Worten: „Dieses Buch ist das Buch der Wahrheit“ begann und mit dem Gruß der FDJ „Freundschaft“ endete. Im Inhaltsverzeichnis fand man dann Themen wie: „Das Weltall“; „Die Erde und die Entwicklung des Lebens“; aber selbstverständlich auch: „Der Kommunismus - die Zukunft der Menschheit“ oder „Die Deutsche Demokratische Republik - die Zukunft der Deutschen Nation“ und natürlich: „Wladimir Iljitsch Lenin - der Führer des Weltproletariats“. Wenn überhaupt, dann habe ich später höchstens ab und zu einmal in den naturwissenschaftlichen Abschnitten gelesen.

Die Jugendweihe war ohne Zweifel nach der Schuleinführung die bedeutsamste Veranstaltung und ein Höhepunkt im Leben für uns junge Menschen, aber die Teilnahme daran war auch ein Muß, ebenso wie die „freiwillige“ Mitgliedschaft in der Pionierorganisation oder der Freien Deutschen Jugend. Nicht selten ist es vorgekommen, daß verbissene Hardliner unter den Klassenleitern oder Schuldirektoren die Nichtteilnahme als Anlaß für eine Ablehnung der Delegierung auf die Erweiterte Oberschule ansahen und so manchem leistungsstarken Jugendlichen den geradlinigen Weg zum Abitur verbauten. Das war auch ein Grund dafür, daß viele christlich gebundene junge Menschen sowohl Jugendweihe als auch Konfirmation feierten, so wie auch ich, um Nachteile für den weiteren Werdegang zu vermeiden. Man wollte sich aber natürlich auch nicht aus dem Klassenkollektiv, wie es so schön hieß, absondern, denn Jugendweihe war ja auch immer eine Veranstaltung, welche die Klasse geschlossen erlebt hat. In meiner Klasse nahm nur eine katholisch sehr streng gebundene Schülerin nicht teil. Jugendweihe gehörte eben einfach zur Lebensgestaltung in der DDR dazu.

Wir blickten diesem Ereignis jedenfalls erwartungsvoll entgegen und haben uns auch äußerlich darauf eingestimmt. Ich trug ein rosafarbenes, glänzendes Minikleidchen, dessen Kragen und ausgestellte Ärmel mit Perlen bestickt waren. So etwas hat man allerdings nicht in den Geschäften zu kaufen bekommen, das mußte man schon selber nähen oder nähen lassen, vorausgesetzt, man konnte einen schönen Stoff ergattern. Das Angebot an modischem Chic war ja so großartig in der DDR nicht.

Da saßen wir also auf den Polsterstühlen, die neuen Absatzschuhe fingen schon an zu drücken, und lauschten der Musik und den Rezitationen, bevor dann ein Funktionär der SED-Kreisleitung eine langatmige und für uns doch recht langweilige Ansprache hielt. An diese Rede kann ich mich nur schemenhaft erinnern. Es ging wie immer um unsere strahlende sozialistische Zukunft, die der Jugend alle Möglichkeiten bietet, sich zu entfalten, aber auch um unsere Pflichten in unserer sozialistischen Heimat. Mit Sicherheit sprach er über die unverbrüchliche brüderliche Freundschaft mit der Sowjetunion. Natürlich wurde auch auf den Erzfeind, den westdeutschen Imperialismus, hingewiesen, dessen „Vertreter“ übrigens in nicht unerheblicher Zahl im Saal saßen. Auch von mir war ein gutsituierter Onkel mit seiner Frau aus Bremen angereist. Er hat sich hinterher maßlos über diesen verbalen Angriff erbost.

Nach dem Festakt wurden Fotos von den Jugendweiheteilnehmern gemacht. Meine Freundin und mich sieht man auf einem Bild vor einer Theatertür, an der, wie auch an anderen Stellen des Gebäudes, ein Plakat mit der Aufschrift: „Lenins Rat - unsere Tat“ klebte. Heute kann man darüber nur noch lächeln, aber dieses Foto ist eben auch ein Zeitzeugnis. Mit der angereisten Großfamilie wurde dann dieses denkwürdige Ereignis im Interhotel und zu Hause gebührend gefeiert, und, was mit das Wichtigste für uns alle war, wir erhielten jede Menge Geschenke. Auf Grund des Mangels an Schnittblumen in der DDR bekam ich vorrangig Blumentöpfe geschenkt, und so schmückten nach dem Fest mindestens zehn Töpfe mit großen verschiedenfarbigen Hortensien unsere Wohnung.

Auf die Jugendweihe wurden wir von Seiten der Schule natürlich intensiv vorbereitet. Es fanden zehn Jugendstunden statt, bei denen Teilnahme Pflicht war. Ich kann mich aber nur an eine deutlich erinnern, denn der Besuch in dem ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar, zu DDR-Zeiten Nationale Mahn- und Gedenkstätte, hat sich in mein Denken tief eingeprägt und tiefe, unauslöschliche Spuren hinterlassen. Die Besichtigung einer solchen Einrichtung gehörte zum Pflichtprogramm jedes Jugendlichen in der DDR. Manche erlebten sie sogar zweimal, denn auch die Aufnahme in die Reihen der Thälmannpioniere wurde gern dort durchgeführt. Gerade der von uns besuchte Ort eignete sich zu diesem Zweck besonders, da hier Ernst Thälmann ermordet worden war.

Ich war sicherlich nicht ausreichend vorbereitet worden für diese Besichtigung, wußte nicht, was eigentlich da auf mich zukam. Wie eine eiskalte Dusche wirkte der Film auf mich, den man uns am Anfang zeigte. Damit sind aber eigentlich die Gefühle nicht einmal ansatzweise beschrieben, die ich beim Ansehen des Streifens hatte. Unter anderem zeigte er Originalaufnahmen vom Zustand des Konzentrationslagers bei seiner Befreiung durch die Amerikaner. Man sah ausgemergelte Menschen, im wahrsten Sinne nur noch Haut und Knochen, zu schwach, um sich selbst auf den dürren Beinen zu halten. Sie konnten sich nur von anderen gestützt fortbewegen. Die Köpfe sahen aus wie Totenschädel, nicht mehr menschenähnlich. Doch es kam noch viel, viel schlimmer. Da lagen Berge von Körpern, die auf Lastwagen geworfen, und, das Grauen nahm kein Ende, sogar mit Planierraupen zusammengeschoben wurden. Mich erfaßte unbeschreibliches Entsetzen. Nie hätte ich in meiner behüteten und friedvollen Welt solch unermeßliche Grausamkeiten und Unmenschlichkeiten auch nur andeutungsweise für möglich gehalten!

In diesen vielleicht sechzig Minuten hat sich mein Leben von Grund auf geändert. Alle Ereignisse sah ich jetzt mit ganz anderen Augen, alles mußte neu durchdacht werden. Eines war mir plötzlich klar, solche Greueltaten, ich kannte ja noch nicht einmal die ganzen Ausmaße, durften nie wieder geschehen. Ich erwarb in dieser kurzen Zeit eine zutiefst antifaschistische Grundhaltung, die auch heute uneingeschränkt besteht. Ich schäme mich für das deutsche Volk, das so etwas zugelassen, solche Mörder unterstützt und hervorgebracht hat.

 

Quelle Privatarchiv Münch

Nationale Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald. Hier wurde 1944 auch Ernst Thälmann ermordet

 Wir standen im schneidend kalten Herbstwind auf dem Appellplatz des Lagers und konnten das Frieren und Zittern der unterernährten und durch schwerste Arbeit geschwächten Menschen ahnen. Uns wurden die Verbrennungsanlagen und das Arztzimmer gezeigt, wo skrupellose Mediziner Menschen die Todesspritze gaben und sich die als Meßlatte getarnte Genickschußanlage befand. Doch das für mich Allerschlimmste kam noch. In einem Gebäude, viele stehen ja auf dem Gelände nicht mehr, war ein Museum eingerichtet. Und hier, die Erinnerung treibt mir auch jetzt wieder die Tränen in die Augen, lag ein großer Berg Menschenhaar und ein Berg Schuhe, darunter auch eine Zahl Kinder- und Kleinkinderschuhe. Es war unerträglich.

Ich habe mit meinem Mann vor kurzem noch einmal das Konzentrationslager aufgesucht, mußte aber schon bei der Besichtigung des Bunkers, der aus kleinen Einzelzellen, besteht, diese unsägliche Stätte verlassen. Viele unbekannte und bekannte Menschen fanden hier den Tod durch Folter, Mord und Krankheit, wie Pfarrer Schneider und der Vorsitzende der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, Rudolf Breitscheid.

Unsere Klasse besuchte danach noch den etwas entfernt liegenden stolz aufragenden Glockenturm mit der Figurengruppe, gestaltet von Fritz Cremer. Ihn sieht man von vielen Seiten schon von weither, ein beeindruckendes Mahnmal, auch wenn es darüber jetzt sehr geteilte Meinungen gibt. Zum Schluß gingen wir noch still an den riesigen Massengräbern vorbei.

Es ist bedauerlich, daß jetzt in unserer Zeit nicht alle Schüler den Weg in diese Gedenkstätte finden, aber auch nicht zu verstehen, daß sieben- und achtjährige Kinder mit übereifrigen Eltern oder Lehrern hierherkommen.

Mit keinem Wort, nicht einmal mit einer Andeutung, erfuhren wir allerdings bei unserem Besuch und auch während der gesamten Schulzeit davon, welche Rolle das Lager Buchenwald nach 1945 gespielt hat, daß dort wieder Tausende Menschen an Hunger und Krankheiten umgekommen sind.2

Ich bin an diesem Tag und durch die noch lange andauernde Auseinandersetzung mit dem Gesehenen und Gehörten, auch in Form eines Aufsatzes im Deutschunterricht, zu der Erkenntnis gekommen, daß ich mich mit einem Staat, dessen Grundsatz der Antifaschismus ist, sehr gut identifizieren kann. Spätestens von diesem Zeitpunkt an begann ich bewußt an den Sozialismus zu glauben und ihn als den einzig richtigen Weg zu einem gerechten, humanen Leben anzuerkennen. An diesem Glauben hielt ich über Jahre krampfhaft fest. Doch im Lauf der Zeit, vor allem auch durch die Erfahrungen, die das praktische Leben mit sich brachte und die ich während meiner Berufsausübung gemacht habe, zerbröckelte dieser Glaube zunehmend, zumindest der an den real existierenden DDR-Sozialismus, und immer mehr Fragen und Zweifel taten sich auf.

Nach mehr als zehn Jahren, ich war inzwischen Mutter eines Sohnes, in meinem Traumberuf tätig und zur Zeit Klassenleiterin einer 6. Klasse, wurde ich von meinem Schuldirektor beauftragt, die Leitung des Schulbereichsausschusses für Jugendweihe zu übernehmen, der Gruppe von Leuten, die sich um die Organisation und Kontrolle der Jugendstunden und die Vorbereitung der Jugendweihe zu kümmern hatte. Aufgrund dieser Tätigkeit mußte ich mich natürlich intensiv vor allem auch mit Inhalten und Zielstellungen der Jugendweihe und der vorbereitenden Veranstaltungen befassen. Wie sah die DDR eigentlich die ja nicht von ihr erfundene, sondern im 19. Jahrhundert von der SPD, von Freidenkerverbänden und Kulturorganisationen ins Leben gerufene Jugendweihe? Eine Antwort auf diese Frage findet man zum Beispiel im Pädagogischen Wörterbuch von 1987, wo steht, daß sie der „feierliche Akt der Aufnahme der Vierzehnjährigen in die Gemeinschaft sozialistischer Staatsbürger der DDR sei, wahrend dem diese sich öffentlich zum Sozialismus und zum Arbeiter-und-Bauern-Staat bekennen“. Liest man das Gelöbnis, welches die Jugendlichen an diesem Tag sprachen, und aus dem ich bereits zitiert habe, findet man genau das auch bestätigt. In meiner Urkunde ist außer dem Gelöbnis auch vermerkt, daß ich durch die Jugendweihe in die „große Gemeinschaft des werktätigen Volkes, das unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer revolutionären Partei, einig im Willen und Handeln, die entwickelte sozialistische Gesellschaft der Deutschen Demokratischen Republik errichtet“, aufgenommen werde. Die ersten sozialistischen Jugendweihen in der DDR fanden übrigens im März 1955 in Berlin statt.

Unser ehrenamtlich arbeitender Schulbereichsausschuß hatte drei Aufgaben zu erfüllen.

Zunächst einmal mußte die Jugendstunden-Eröffnungsveranstaltung im September geplant, organisiert und durchgeführt werden. Dann waren mit den Jugendstundenleitern, die ja eigenverantwortlich und selbständig die zehn monatlich stattfindenden Jugendstunden zu organisieren hatten, die Veranstaltungen durchzusprechen und ihre ordnungsgemäße und niveauvolle Durchführung zu kontrollieren. Der Jugendstundenplan mußte Thema, Termin, inhaltliche Schwerpunkte, Bildungs- und Erziehungsziele, Ort, Gesprächspartner und Verantwortlichen für die jeweilige Jugendstunde enthalten. Außerdem sollte daraus hervorgehen, wie der Inhalt des Gelöbnisses bewußt gemacht werden sollte. Jede Jugendstunde hatte sich möglichst auf einen der zehn Teile des Gelöbnisses zu beziehen. Eine wesentliche Aufgabe des Schulbereichsausschusses bestand aber natürlich in der Planung und Organisation der Feier selber. Und hier war man ganz auf sich allein gestellt. Nur der Festredner, Zeitpunkt und Raum wurden von anderer Seite bestimmt. Möglichst bald mußte man sich um die kulturelle Ausgestaltung kümmern. Das hieß, mit Chorleitern sprechen, mit Orchestern verhandeln und Verträge abschließen. Das geschah alles persönlich und ohne eigenes Auto und eigenes Telefon, denn auf ein Auto wartete man in der DDR mindestens zehn Jahre, und ein privates Telefon war eher die Ausnahme. Auch geeignete Rezitationen mußten vorbereitet werden. Einige Zeit vor der Veranstaltung hatte ich mit dem Vermieter des Raumes, in unserem Fall dem Leiter des sogenannten Kulturzentrums unseres Neubaugebietes, alle technischen Details wie Technik, Beleuchtung, Bestuhlung usw. genau abzusprechen, ebenso wie den Zeitpunkt für die Stellprobe, bei welcher ich selbstverständlich die „Regie“ führen mußte. Natürlich war da auch ein Vertreter der Schulleitung anwesend, meist der Direktor, denn es mußte ja kontrolliert werden, daß alles hervorragend klappte. Und so wurden der Ein- und Ausmarsch und das gruppenweise Betreten und Verlassen der Bühne geübt, bis der Schulleiter halbwegs zufrieden war. Die Schüler murrten verständlicherweise, denn die langweilige Stellprobe raubte ihnen ihre kostbare Freizeit. Es mußte noch eine unserer Unterstufenklassen bestimmt und geschult werden, die dann in Pionierkleidung die Sträuße übergeben sollte, und ein Schüler, der die Danksagung zu sprechen hatte. Es steckte eine Unmenge Arbeit in diesen organisatorischen Aufgaben, und ich kann mich nicht erinnern, daß ich deswegen auch nur eine Stunde weniger unterrichtet hätte. Übrigens erhielten die Jugendlichen zu dieser Zeit ein ganz anderes Buch zur Erinnerung an die Jugendweihe, als ich damals zu meiner Feier. Das Werk, welches die Klassen in jenen Jahren bekamen, trug auf dem Umschlag mit dem Foto strahlender FDJler die Aufschrift „Der Sozialismus - Deine Welt“, und genauso war auch der Inhalt. Die Abschnitte hatten die Bezeichnungen:

-     Unsere sozialistische Weltanschauung - der Kompaß für dein Leben

-     Unser Jahrhundert - das Jahrhundert des Sozialismus

-     Sozialismus und Kommunismus - Glück und Zukunft der Menschheit

-     Für antiimperialistische Solidarität;


darunter findet man auch die Abschnitte.  

 

-   Imperialistische Aggressionen

-   Imperialismus - Feind der Jugend

-   Imperialistische Methoden der Irreführung

-   Dein Platz im Sozialismus

-   Du und die Macht

-   Du und die Arbeit

-   Du und die Kultur

-   Du und das Kollektiv  

Wer von den Vierzehnjährigen mag da wohl auch nur eine Seite gelesen haben? Es ist kein Wunder, daß es mir sehr schwer fiel, für die vorliegenden Aufzeichnungen noch ein Exemplar aufzutreiben. Bei den meisten war das Buch längst in das Altpapier gewandert.

Die organisatorischen Aufgaben waren ja nicht einmal so unangenehm, und sie machten vielleicht sogar manchmal ein wenig Spaß. Unerträglich aber waren die Anleitungsveranstaltungen des „Örtlichen Ausschusses für Jugendweihe“, zu denen ich alle paar Wochen zu gehen hatte, und die von einem mir bereits bekannten Schulleiter geleitet wurden, der jetzt nicht mehr als solcher tätig war. Da saßen nun alle Leiter der Schulbereichsausausschüsse zusammen und langweilten sich tödlich bei den langatmigen und inhaltsfreien Ausführungen dieses Mannes, der uns nichts, aber absolut gar nichts zu sagen wußte. Oh, wie schmerzhaft empfand ich diese verlorene Zeit, und wie schlecht war mir bei dem Gedanken an meinen kleinen Sohn, der in der Kindereinrichtung auf mich wartete! Und ständig hörten wir immer das gleiche: Jugendstunden sollten erzieherisch wirksam gestaltet werden; gesellschaftliche Kräfte sollten mit einbezogen werden; Jugendstunden sollten die weltanschauliche Orientierung unterstützen; den Klassenstandpunkt herausbilden helfen; die Kinder im Sinne der marxistisch-leninistischen Weltanschauung bilden und zu bewußten Klassenkämpfern erziehen usw. usf. An diesen Nachmittagen bewahrheitete sich einmal mehr der Spruch: „Sitzungen sind der Sieg des Hintern über den Geist“.

Und was für ein Wasserkopf an Organisation, auch an hauptberuflichen Mitarbeitern, an der ganzen Sache hing! Da gab es neben den Kreis- bzw. Ortsausschüssen noch Bezirksausschüsse und den Zentralen Ausschuß für Jugendweihe sowie Revisionskommissionen aller Ebenen, die sowohl die finanzielle, als auch die thematische Seite der Jugendweihearbeit überprüften. Da wurde monatlich eine Zeitschrift herausgegeben, und es existierte natürlich auch ein „Handbuch zur Jugendweihe“. Weil man ja auch etwas zum Auswerten benötigte, wurden Tagungen durchgeführt. Die Jugendweihearbeit war der DDR unheimlich wichtig und hatte somit an den Schulen einen hohen Stellenwert.

Als meine Schüler selber im 8. Schuljahr die Jugendweihe vor sich hatten, war es an mir, als Jugendstundenleiter tätig zu werden und passende niveauvolle Veranstaltungen zu organisieren. Jetzt bewies sich im besonderen Maße die Qualität und Einsatzbereitschaft meines Elternaktivs. Aber auch von anderen Eltern erhielt ich unverzichtbare Unterstützung. Ich kann mit Fug und Recht sagen, daß wir vereint wirklich sehr schöne und zum Teil auch völlig ideologiefreie Jugendstunden anbieten konnten, die auch dazu dienen sollten, neue Interessen zu wecken und die Allgemeinbildung zu erhöhen. Pflichtgemäß gehörten das Gespräch mit dem Festredner über den Inhalt des Gelöbnisses als letzte Veranstaltung und der Besuch im ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald dazu. Allerdings hatte dieser scheinbar auf meine Schüler nicht den Eindruck gemacht, wie damals auf mich. Ursache dafür war u. a. der Einsatz eines anderen Filmes, in dem es hauptsächlich um die Selbstbefreiung des Lagers durch organisierte kommunistische Lagerinsassen und den vorher dort existierenden Widerstand ging. Gefühle wurden kaum angesprochen, Entsetzen und Abscheu durch das Fehlen der Dokumentaraufnahmen nach der Befreiung durch die Amerikaner nicht ausgelöst.

Durch Vermittlung der Eltern konnten wir in einer anderen Jugendstunde das Pathologische Institut der Universität unserer Stadt besuchen, wurden dort in die Wirkungsweise des Elektronenmikroskops eingewiesen und durften verschiedene Präparate untersuchen. Das war ein einmaliges Erlebnis, auch für mich.

An einem anderen Nachmittag machten wir mit einem Historiker eine äußerst interessante Stadtführung durch unsere sehenswerte historische Altstadt, die allerdings meine Schüler zu langweilen schien. Ich hatte sehr große Mühe, sie zusammenzuhalten und davon abzubringen, sich Eis zu kaufen. Ich war so ziemlich die einzige, die dem Mann aufmerksam zuhörte, und eine Schülerin fragte mich dann sehr erstaunt und verständnislos: „Sie interessieren sich wohl für alles?“

Erstaunlicher- und unerwarteterweise brachten sie einer anderen Veranstaltung viel mehr Interesse entgegen. Wir besuchten die Frau und Kampfgefährtin von Magnus Poser in einer Gedenkstätte, und sie erzählte uns aus seinem und ihrem Leben während der Nazidiktatur. Ich muß sagen, daß diese alte Frau starke Emotionen bei den Jugendlichen weckte, so daß diese mir gegenüber hinterher ihre, ich möchte fast sagen, Begeisterung und auch Anteilnahme für diese tapfere Frau und ihr schweres, aber kämpferisches Leben gegen den Faschismus zum Ausdruck brachten.

Bei einer weiteren Jugendstunde warfen wir vor dem Besuch eines Theaterstücks einen Blick hinter die Kulissen des großen Kulturhauses in unserer Bezirksstadt. Die DDR war ja nicht in Länder eingeteilt, sondern in flächenmäßig viel kleinere und überschaubare Bezirke. So bestand Thüringen aus drei Bezirken, welche von den Bezirksstädten aus administriert wurden. Diese Orte erfreuten sich in vielerlei Hinsicht einer bevorzugten Behandlung, vor allem auch auf kulturellem Gebiet, wovon zum Beispiel solche großen und teuren Neubauten wie das erwähnte Kulturhaus zeugen.

In dem sogenannten Volkshaus in unser eigenen Stadt durften wir uns die nagelneue Orgelanlage ansehen, und es wurde uns fachkundig ihre Technik erläutert. Diese beiden Jugendstunden galten dem Schwerpunkt „kulturvolles Leben“.

Ich kann mich außerdem an einen recht interessanten Lichtbildervortrag zum Thema „deutsch-sowjetische Freundschaft“ erinnern. Er trug den Titel: „Mit der MZ ...“, das war unser beliebtes und begehrtes DDR-Motorrad, „... durch den Kaukasus“.

Die Jugendlichen hatten also in Vorbereitung auf die Jugendweihe Veranstaltungen von sehr vielfältigem und interessantem Inhalt.

Natürlich war die Gestaltung von Jugendstunden sehr von der Einstellung und vom Engagement des jeweiligen Jugendstundenleiters abhängig sowie von dem Organisationsaufwand, den er zu betreiben gewillt war. Auch spielte, wie beispielsweise in meinem Fall, die Mitwirkung der Eltern eine entscheidende Rolle.

Die Jugendweihe meiner Klasse selber verlief wie in jedem Jahr, mit politisch-ideologisch überfrachteter Festrede in Holzhammermanier, umrahmt von einem musikalisch-literarischen Programm und natürlich dem Gelöbnis. Anschließend, so hatten wir es mit den Eltern abgesprochen, nahmen fast alle Familien das Angebot wahr, gemeinsam in dem großen Saal einer Gaststätte das Mittagessen einzunehmen. Jede Familie verfügte dabei über eine festlich geschmückte Tafel für sich allein. Ein Elternaktivmitglied hatte dies möglich gemacht. Besonders für die Jugendlichen war diese Lösung angenehm. Auch meine Familie und ich beteiligten uns an diesem gemeinsamen Essen. Die FDJ-Jugendklubs der Stadt boten meistens an diesen Tagen am Nachmittag Diskos für die „Jugendweihlinge“ an, so daß diese nicht im Kreis ihrer zahlreichen, meist ja älteren Verwandten „versauern“ mußten.

Trotz allem Für und Wider bei so manchen inhaltlichen und organisatorischen Aspekten gibt es wohl nur wenige jüngere Leute in den neuen Bundesländern, welche die Jugendweihe in ihrer persönlichen Biographie missen möchten. Es kann auch kaum bestritten werden, daß diese Veranstaltung, vor allem aber auch inhaltlich wertvolle Jugendstunden, Spuren in den Ansichten und Lebenseinstellungen der jungen Menschen in Beziehung auf das soziale Miteinander und eine kulturvolle Lebensgestaltung hinterlassen haben. Auch trug das Jugendweihejahr im Rahmen der gesamten Erziehung im Bildungswesen der DDR zweifellos mit zur Festigung des Solidaritäts- und Friedensgedankens der Jugendlichen bei.

Sabine Hädicke


1 Autorenkollektiv: Weltall Erde Mensch. Verlag Neues Leben, Berlin 1954

2 Das Lager wurde vom sowjetischen Geheimdienst und von der sowjetischen Besatzungsmacht als Speziallager 2 zur Internierung von Deutschen genutzt. Davon war eine kleine Gruppe hauptschuldig an Verbrechen im NS-Regime, eine größere Anzahl ehemalige kleine und mittlere Funktionsträger der NSDAP und des Staates, auch Hitlerjungen und Mitglieder des Werwolfes, der Waffen-SS und Offiziere der Wehrmacht, aber eben auch völlig Unschuldige und unbequeme Gegner der Besatzungsmacht. Tausende starben an Hunger und Entkräftung.


vorhergehender Beitrag

Inhaltsverzeichnis

nächster Beitrag