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Unser Betriebsferienlager 

Es war eigentlich typisch für die DDR-Gesellschaft, daß sie für eine sinnvolle Freizeitbetätigung unserer Mädchen und Jungen Sorge trug. Bereits in den schweren Nachkriegsjahren entstanden der Kinderbuchverlag, Kinderbibliotheken, Kindertheater, Pionierhäuser, Stationen junger Naturforscher und Techniker, Touristenstationen, zentrale Pionierlager und Betriebsferienlager. Es wurden gute Kinderfilme gedreht, und es erschienen die ersten Kinderzeitschriften. Alles sollte dazu dienen, die Kinder zu wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft zu erziehen.

In den Betriebsferienlagern verbrachten die Kinder der Beschäftigten aus volkseigenen oder genossenschaftlichen Betrieben und Einrichtungen einen Teil ihrer Ferien. In der Regel waren es zwei bis drei Wochen im Jahr. Hier wußten die Eltern ihre Töchter und Söhne in guter Obhut.

Etwa 80.000 Werktätige, die zum großen Teil selbst in der Produktion tätig waren, übernahmen einmal im Jahr Erziehungs- und Betreuungssaufgaben in den Betriebsferienlagern. Als Lagerleiter, Gruppenleiter oder Helfer nahmen sie direkt darauf Einfluß, daß die Jungen und Mädchen sich gut erholen und zugleich in vielfacher Hinsicht persönlich weiterentwickeln konnten.

Die Leiter der Kombinate, Betriebe, Einrichtungen und die Vorstände der Genossenschaften waren für die materiellen Voraussetzungen der Betriebsferienlager verantwortlich, u. a. für das Ausstatten der Lager und ihre volle Auslastung, das Bereitstellen der finanziellen Mittel und Baukapazitäten, den Einsatz der pädagogischen, technischen und medizinischen Kräfte, ihre Freistellung und Vergütung, das Schaffen der notwendigen hygienischen Voraussetzungen sowie Maßnahmen, die die Gesunderhaltung und Sicherheit aller Kinder während des Transportes und des Lageraufenthaltes gewährleisteten.

 

Das Betriebsferienlager unseres Betriebes, des VEB Fahlberg-List Magdeburg, lag in Jerchel, einem kleinen Ort in der Altmark zwischen den Städten Tangerhütte und Tangermünde, der schönen alten Stadt mit den vielen Türmen und Toren. Beide haben den Fluß Tanger, der dort fließt, im Namen enthalten.

Nachdem das erste Betriebsferienlager unseres Betriebes am Arendsee zu klein geworden war, hatten die ausgeschickten „Späher“ die ausgebrannte Ruine eines ehemaligen Schlosses derer von Itzenblitz in Jerchel entdeckt. Sie lag in einem herrlichen Park, der ein ideales Gelände für unser Ferienlager bot. Die Leitungen des Betriebes und der gesellschaftlichen Organisationen beschlossen, es zu kaufen und unser Betriebsferienlager aufzubauen. Nach Entfernung der Brandruine entstanden zunächst Holzbungalows mit je zwei Eingängen, Waschräume aus den ehemaligen Ställen sowie eine Toilettenanlage. In den darauffolgenden Jahren wurden eine hochmoderne Küche (mit einem großem Speiseraum für 130 Personen), Lagerräume und Personalraume dazugebaut.

Zu Anfang wurde aber im Saal der Gaststätte „Zur Erholung“ gegessen. Inhaberin: Emma Oeter. Eine Seele von Mensch. Sie wurde von uns nur Tante Emma genannt. Ihre und auch die Gaststätte von Reni Müller „lebten“ durch das Betriebsferienlager auf, durch die Umsätze der Betreuer, Helfer und Kinder. Wir haben in beiden Lokalitäten herrliche Stunden verbracht.

Die Dorfbevölkerung hat uns vom ersten Tage „angenommen“, wenn auch durch die Kinder Stimmung ins Dorf kam. Auch der Dorfkonsum erhöhte selbstverständlich seinen Umsatz, und an den abgestimmten Einkaufstagen mußten die Kinder schubweise hineingelassen werden. Süßwaren durften laut Absprache nicht verkauft werden, denn davon gab es viel zu viel im Betriebsferienlager. Das Dorf wurde eigentlich ein Teil unseres Lagers. Doch dazu später mehr.

Anfang der siebziger Jahre übernahm ich als Lagerleiter das Betriebsferienlager und möchte aus dem Jahr 1979 berichten.

Ins Ferienlager konnte jedes Kind, es sei denn, es war geistig oder körperlich schwer behindert oder z. B. Dauerbettnässer.

Aus dem vergangenen Feriensommer hatten die BGL und ihre Kommission Schlußfolgerungen gezogen sowie die im Ferienort und Lager vorhandenen Bedingungen geprüft. Es wurde das Ziel gestellt: „Alle sollen sich gut erholen, Kräfte sammeln, ihre Gesundheit festigen, interessante Erlebnisse haben, als Pionier gefordert und gefördert werden.“ Damit wollte das Lagerkollektiv seinen Teil zur sozialistischen Erziehung der Pioniere, FDJler und der 30 polnischen Gäste beitragen. Ihren Kräften entsprechend, sollten die Mädchen und Jungen auch einen Arbeitseinsatz durchführen, das Lager pflegen und verschönern.

Die materiellen Bedingungen für das Betriebsferienlager waren im Betriebskollektivvertrag (BKV) festgelegt. Im Jahre 1979 wurden 205.000 Mark, davon 90.000 Mark für die Durchführung des Lagers, 100.000 Mark Objektkosten und 15.000 Mark für Werterhaltung und Neuanschaffung freigegeben.

Die BGL und ihre Kommission erarbeitete langfristig die inhaltliche Zielstellung, den sogenannten Rahmenerziehungsplan. Dieser wurde erst wirksam, wenn er von der BGL beschlossen war und die Unterschriften des Werkleiters sowie des BGL-Vorsitzenden trug. Danach erfolgte die Auswahl der Lagerleiter, Gruppenleiter und Helfer. Sie wurden durch unsere Betriebszeitung „Schwefelofen“ allen Kolleginnen und Kollegen im Betrieb und auch deren Kindern bekanntgegeben. Das trug dazu bei, ihre Autorität zu festigen.

Nach der Teilnahme an einer zehntägigen Schulung mit vielseitigem Programm erhielten mein Stellvertreter und ich den sogenannten Lagerleiterpaß. Ohne diesen Nachweis durfte niemand ein Betriebsferienlager leiten. Die Betriebe waren verpflichtet, uns für die Dauer der Schulung freizustellen.

Nun erfolgte über Wochen in mehreren Tagesschulungen die Anleitung der Gruppenleiter und Helfer. Ordnung und Sicherheit im Lager waren dabei das Wichtigste. Aber auch Spezialisten auf den unterschiedlichsten Gebieten hielten Referate und Vorträge. Die Anregungen von Sport- und Kulturfunktionären, Touristen-Instrukteuren, Arbeitsgemeinschaftsleitern, von Betriebsärztin und Krankenschwestern wurden einbezogen. Solche Aufgaben wie die Gestaltung eines Kulturprogramms oder eines Sportfestes, die Vorbereitung und Durchführung einer Exkursion oder Wanderung, usw. wurden regelrecht „durchgespielt“, trainiert. Meine Frau, langjährige Unterstufenlehrerin, vermittelte wertvolle pädagogische Erfahrungen und legte den Gruppenleitern und Helfern dar, wie sie ihr Verhältnis zu den Kindern gestalten mußten. Sie begleitete mich danach als offizielle pädagogische Beraterin ins Betriebsferienlager.

An einem Wochenende im Mai wurde dann die letzte Schulung in Jerchel durchgeführt. Schon im Bus wurde gesungen und gelacht. Diese Stimmung hielt zwei volle Tage an. Es wurde viel debattiert, diskutiert, gespielt, gesungen und natürlich auch bei Tante Emma getrunken. Unter uns waren Akkordeon- und Gitarrenspieler, Chormitglieder, Hobby- und Laienkünstler usw. Hier vor Ort lernten die „Neuen“ und „Alten“ sich kennen und konnten so auch die speziellen Interessen und Fähigkeiten der Gruppenleiter für das Gesamtkollektiv nutzen. Zum Abschluß der zweitägigen Schulung gab ich als Leitmotto heraus, daß das gesamte Lagerleben eine Synthese von Erholung und sinnvoller Tätigkeit sein müsse, die sich an den Zielen der Pionierorganisation orientiert und von den Mädchen und Jungen im hohen Maße selbst gestaltet wird.

Danach erfolgte am „Tag der Bereitschaft“ die Abnahme des Betriebsferienlagers. Vertreten waren der Ökonomische Direktor, der BGL-Vorsitzende, der Sicherheitsinspektor, die VP (F) unseres Betriebes und die Freiwillige Feuerwehr von Jerchel, der Vertreter der Bauabteilung, der Hygieneinspektor von Tangerhütte, der Lagerarzt von der Poliklinik Grieben, die Wirtschaftsleiterin und die Bürgermeisterin von Jerchel. Festgestellte Mängel wurden protokolliert und durch die Verantwortlichen kurzfristig beseitigt.

Und dann war es endlich soweit!

Am 7. Juli 1979, morgens 8.30 Uhr, Treffpunkt: Magdeburger Hauptbahnhof, Platz der Volkssolidarität. Als Transportmittel stehen 3 Busse zur Verfügung. Pro Bus ein verantwortlicher Transportleiter. Vollständigkeit der Teilnehmerlisten überprüfen. Alles i. O. Und ab geht die Fahrt in Richtung Jerchel über Wolmirstedt, Tangerhütte, Grieben, Jerchel.

Hier wurden die Kinder, Gruppenleiter, Helfer u. a. von Lagerleiter und Wirtschaftsleiterin herzlich empfangen und durch das geschmückte Lagertor geführt. Nach einem kurzen Begrüßungsappell gingen die Gruppenleiterinnen und -leiter mit den Kindern in ihre Bungalows. Der Lagerfunk wurde in diesen Minuten bewußt noch nicht angestellt, ansonsten war er das A und O des Lagers. Ich konnte noch Jahre nach meinem Ausscheiden nicht mehr das Lied von Frank Schöbel hören: „Komm, wir malen eine Sonne“, weil es mehrmals täglich von den „Kleinkindern“ gewünscht wurde. In dieser Hinsicht, was das Abspielen von Platten und Bändern betraf, waren sich „Groß“ und „Klein“ mal nicht einig, sonst fast immer.

Es waren 67 Jungen und 57 Mädchen, also 124 Kinder insgesamt im ersten Durchgang. Dazu zehn Gruppenleiter, der Lagerleiter, sein Stellvertreter (gleichzeitig Kulturverantwortlicher) der Parteibeauftragte (mitverantwortlich für Sport, Kultur und Wettbewerb), der Dolmetscher für die einen Tag später eintreffenden polnischen Kinder und Betreuer. (Sie hatten sich noch Berlin angesehen und kamen vom polnischen Patenbetrieb „AZOT Jaworzno“. Im Austausch fuhren Kinder unseres Betriebes dorthin, in die Volksrepublik Polen.) Natürlich waren auch die Wirtschaftsleiterin und das Küchenpersonal, die Reinigungskräfte, die Rettungsschwimmer, die Krankenschwester, die Nachtwache, der Koch sowie der „für alles“ zuständige Kraftfahrer anwesend. Jeder von ihnen kannte seinen genauen Funktionsplan.

Und so verlief der erste Tag des ersten Durchgangs:

Traditionsgemäß gab es das Lieblingsessen vieler Kinder: Makkaroni, Tomatensoße und gebratene Jagdwurst. Zum ersten Mal waren die Gruppenleiter mit ihren Gruppen zur „Esseneinnahme“ anmarschiert. Vorläufig gab es noch keine tischverantwortlichen Kinder, die danach täglich wechselten. Es wurde auch noch kein Tischspruch aufgesagt. Aber der Gebrauch von Messer und Gabel war natürlich Pflicht.

Nach dem Essen war für die meisten Kinder Mittagsruhe, nur die inzwischen gewählten Gruppenverantwortlichen wurden über den Lagerfunk zur Konstituierung des Lagerfreundschaftsrates in den Klubraum gebeten. Nach einer kurzen Vorstellung der von den Gruppen bestimmten Leiter war schnell der Freundschaftsratsvorsitzende des Lagers gewählt. Es war ein Mädchen. Sie würde danach jeden Morgen an der Lagerleitungssitzung mit den Gruppenverantwortlichen teilnehmen, aber bereits bei der Durchführung des Eröffnungsappells die Fahne hissen.

Meine Frau hatte die Materialausgabe übernommen und wurde sofort von vielen Mädchen und Jungen belagert, die ihr Tischtennisbälle und Schläger, Spiele, Bastelmaterial, Bücher, u. v. a. abverlangten.

Die SVK-Ausweise eines jeden Kindes wurden eingesammelt und bei der Krankenschwester im Lagerambulatorium abgegeben, sowie je ein Junge und Mädchen pro Gruppe zur Kontrolle auf Kopfläuse untersucht, auch das mußte sein.

So verging der erste Tag wie im Fluge.

Am nächsten Morgen empfingen wir spalierstehend unsere polnischen Freunde mit kleinen Geschenken, Umarmungen und Küßchen. Mittags erschienen sie, durch den Dolmetscher vorbereitet, zum Eröffhungsappell.

Das war immer ein Höhepunkt, ein feierliches Ereignis. Alle Pioniere mit Pioniertuch, die polnischen Freunde - es waren Pfadfinder - in Uniform. Aus unserem Betrieb nahmen der BGL-Vorsitzende, der Parteisekretär, der Ökonomische Direktor oder der Betriebsdirektor teil. Jeder Gruppenvorsitzende trat vor und meldete die Vollzähligkeit seiner Gruppe. Der Betriebsdirektor oder sein Stellvertreter hielt eine Eröffnungsrede und der BGL-Vorsitzende ebenfalls. Die Fahne wurde gehißt, und der Betriebsdirektor verkündete die Eröffnung des Betriebsferienlagers. Ein geselliges Beisammensein mit Kaffee, Kuchen und Spielen beendete den Nachmittag.

Es gäbe viel über den weiteren Ablauf zu berichten. Aber ich bringe nur einige interessante Begebenheiten, die Höhepunkte im Lager und im Dorf wurden. Während ich sie aufschreibe, läuft regelrecht ein Film vor mir ab. Ich erlebe alles noch einmal. Das ist unglaublich schön.

Was wurde im Betriebsferienlager u. a. geboten?

Wir hatten 1978 25 neue Damen- und Herrenfahrräder bekommen. Sie konnten von den Gruppen - natürlich nach vorheriger Anmeldung - genutzt werden, um in die nähere Umgebung nach Buch (zur Besichtigung des Rolands) nach Bittkau (hier war eine Badeanstalt mit Nichtschwimmer- und Schwimmerbecken; der Rettungsschwimmer kam mit) oder nach Grieben zum Einkaufen von Souvenirs zu fahren.

Von den Kindern konnte „Die Goldene Eins“ im Straßenverkehr abgelegt werden. Dazu war eine theoretische Prüfung erforderlich. Im Lager wurde eine bestimmte Strecke mit Verkehrsschildern abgesteckt. Sie mußte fehlerfrei befahren werden. Vorbereitet hatten dies das Verkehrssicherheitsaktiv unseres Betriebes und unser VP-Betriebschutz.

Zwei Pferde, gemietet von der LPG in Grieben (Goldi und Dorogona hießen sie), kamen dreimal in der Woche. Vormittags zur Kremserfahrt nach Weißewarte ins Tiergehege. Hier waren Hirsche, Rehe, Wildschweine u. a. Ponyreiten machte den Kindern Riesenspaß.

Einmal im Durchgang war Neptunfest am „Kleinen See“, der zum Betriebsferienlager gehörte, Überbleibsel eines alten Elbarmes. Es fanden Seetaufen durch Neptun statt. Jedes Kind oder Betreuer o. a., die getauft wurden, bekamen eine Urkunde. Meine Frau und ich auch. Tante Emma hatte am See extra eine transportable Theke aufgestellt, da die Dorfbewohner ebenfalls teilnahmen.

Quelle. Pnvatarchiv Rasenberger

Neptunfest im Betriebsferienlager Jerchel 1977. Auch der Lagerleiter kam um die Taufe nicht herum 

Fünf Kinovorstellungen von der Kreisfilmstelle Tangerhütte, für die „Kleinen“ und fünf Vorstellungen für die „Großen“ wurden gezeigt.

„Disko“, zweimal in der Woche. Da wackelte der ehemalige Tanzsaal bei Tante Emma.

Höhepunkt: Berg- und Dorffest. Im Lager und im ganzen Dorf waren Stände aufgebaut wie: Solibasarstand, Flohmarktstand, Schieß- und Wurfbudenstand u. v. a. Ein mittelschweres Schwein (Kümmerling) wurde am Spieß gebraten. Das in jedem Durchgang. Der LPG-Vorsitzende hatte 1239 Schweine im Großstall. Er meinte: „Wenn ick euch drei dadervon jebe, dat merkt jar keener.“ Das Schwein wurde auf dem Dorfplatz gebraten und portionsweise auch an die Bevölkerung abgegeben. Eine Sammelbüchse für die „Solidarität mit den Völkern“ stand auf dem Tisch, und so mancher Schein wanderte hinein. Das Geld wurde der BGL als Soli-Spende übergeben.

Am Flohmarktstand war vom BH bis zu 100 Gramm rostiger Nägel alles vorhanden. Ein weiterer Höhepunkt: Eine Nachtwanderung durch den Wald, wo sich zwei „Gespenster“ aufhielten, die gefangen werden mußten. Am Kleinen See, wo Endstation war, gab es für jede Gruppe einen aufgestapelten Holzstoß, der angezündet wurde. Hier wurden „Würstchen am Stock“ gebraten. Dazu gab es „Kinderbowle“.

Beim Freundschaftstreffen mit sowjetischen Pionieren und Komsomolzen sowie polnischen Freunden führten unsere Kinder ein Programm vor, das sie selbst ausgedacht und gestaltet hatten. Da waren Talente bei!

Ein Sportfest mit Ablegung des Sportabzeichens gehörte ebenfalls zum Programm. Dazu liefen in jedem Durchgang 14 Tage lang Fußball- und Tischtennisturniere. Die Endspiele fanden am Tag des Sportfestes statt, und die Sieger wurden mit wertvollen Preisen ausgezeichnet.

Ein Anti-Havarietraining zur Evakuierung fand unangekündigt mit der Freiwilligen Feuerwehr von Jerchel statt. Ein Schwelkörper wurde gelegt, und die Kinder mit Gruppenleiter mußten entscheiden, welchen Fluchtweg sie wählten. Anschließend wurde eine Auswertung vorgenommen. Das Fahrzeug der Feuerwehr durfte von den Kindern besichtigt werden.

Hobby-Ausstellung in unserem Kulturraum: Kinder, Betreuer, Gruppenleiter u. a. konnten sich beteiligen. Sogar eine Reinigungskraft aus Jerchel stellte künstlerische Häkelarbeiten aus. Der Parteibeauftragte hatte mit den Kindern eine einheimische Schmetterlingsschau vorbereitet. Die Kinder fingen unter seiner Anleitung Schmetterlinge in Jerchel, präparierten sie und stellten sie in Vitrinen aus. Ich hatte Numismatik-Alben (Münzen) beigesteuert, ein Pionier gesammelte Steinproben. Von der ältesten Gruppe wurde unter meiner Leitung ein Herbarium angelegt. Gesammelt nach dem Buch: „Was blüht denn da?“. Die Hobbyschau fand großen Anklang.

Mindestens eine Wandzeitung wurde von den Kindern gemeinsam mit dem Parteibeauftragten gestaltet. Da 1979 das „Internationale Jahr des Kindes“ war, bot sich dieses Thema an. Ein zweites Thema war: „Dreißig Jahre DDR! Geehrt - geachtet - anerkannt!“ Wandzeitungsmaterial hatten die Kinder in Hülle und Fülle, da täglich für jede Gruppe eine „Volksstimme“, sowie wöchentlich ein „Atze“, ein „Bummi“ und eine „Frösi“ (Kinderzeitschriften) zur Verfügung standen. Außerdem kamen ins Lager noch fünf ND („Neues Deutschland“).

Mit der Schule in Buch (der Ort mit dem Roland) hatten wir einen Patenschaftsvertrag. Wir besuchten uns, tauschten Erlebnisse aus, spielten gegeneinander Fußball. Das war in der neu erbauten „Sporthalle Buch“ eine besondere Atmosphäre, ein sportlicher Höhepunkt. Ein Turnier haben wir sogar gewonnen!

Unternehmen „Schatzvergrabung“: Eine Gruppe durfte jährlich an einer geheimen, beliebig ausgesuchten Stelle eine Plastschatulle mit Dokumenten vergraben, die 10 Jahre später von denen, die sie vergraben hatten, wieder herausgeholt werden sollte. Das haben wir auch einmal erlebt. Teilweise hatten die früheren Jugendlichen inzwischen schon eigene Kinder. Es war sehr emotional und spannend. Auch heute liegen noch Schatullen dort, aber der Park ist leider an einen reichen Bauunternehmer verkauft worden, und der läßt keinen auf sein Grundstück. So ändern sich die Zeiten!!

Übrigens, da wir gerade beim Thema „Geld“ sind: Die Eltern mußten für all das, was ihren Sprößlingen bei uns geboten wurde, je Kind und Durchgang ganze 12 Mark der DDR berappen. Und wenn sie zwei oder mehr Kinder ins Ferienlager schickten, wurde ihnen dieser Unkostenbeitrag gänzlich erlassen. Das heißt: Den Löwenanteil der Finanzierung übernahm der Betrieb. So war das konkret in unserem BKV festgeschrieben, und so wurde das in allen volkseigenen oder genossenschaftlichen Betrieben der DDR gehandhabt, die selbst Kinderferienlager unterhielten bzw. sich an solchen beteiligten.

Zum Abschluß möchte ich einen lustigen Teil des Lagerlebens schildern. Ich habe Auszüge aus Gruppenbüchern gesammelt und sie in einer Chronik festgehalten. Hier einige zum Schmunzeln:

-          „Neptun saß auf der Kutsche, die durch das Dorf fuhr, halbnackt mit seinen Nicksen.“

-          „Beim Sportfest machten wir viele Disziplinen. Die meisten errangen gute Erziele.“

-          8jährige Mädchengruppe: „Abends gestalteten wir unsere Freizeit individiell."

-          10jährige Jungengruppe: „Am 5. Tag mußten wir drinnen bleiben und basteln und es wurden Liebesbriefe geschrieben. Unser Papiehrkorb war voller Liebesbriefe. Aber Ralf hatte eine Antwort: ‚Lieber Ralf. Ich liebe Dich so sehr, komm heute abent rüber in mein Bett. Liebst Du mich auch. Deine Evelin S... .“

 

Ehrlich gesagt: Wir mußten abends ganz schön aufpassen. Besonders auf dem Weg in die Toiletten, von den Kindern „Schei-lo-Ranche" genannt. (Die Bezeichnung kommt sicher von der Anordnung der Türen, klappbar, oben und unten frei, nur ein Mittelteil. Schei - ist klar, lo - Abkürzung Lokus.) Jungen- und Mädchentoiletten lagen direkt nebeneinander, unser Pech. Bekanntlich beginnen ja die Paar-Beziehungen zwischen 10 und 12 Jahren massiv. Aber unser Diensthabender und die Gruppenleiter waren aufmerksame Beobachter und wachsam. Schlimm war es in unseren drei polnischen Gruppen. Hier gab es nur 14- bis 15jährige Mädchen und Jungen.

Doch weiter mit Gruppenbuchnotizen:

-    Große Jungen: „Heute morgen haben wir mitgeholfen die Weitsprunggrube zu bauen. Da unser Gruppenleiter dort etwas machen mußte.“

-    10jährige Mädchen: „Unser Gammeltag! Wir gammelten den ganzen Tag. Wir gammelten früh, mittags, am Abend, wir waren Gammler!“

-         11jährige Jungen: „Wir müssen uns die Zahne 2 x am Tag putzen. Morgens und abends, sonst werden die pfaul.“

-         8- bis 9jährige Jungen: „Es war eine große Freude als die beiden Pferde da wahren. Wenn wir unsere Runden ritten fühlten wir uns wie Indijahner. Die anschließende Kremserfahrt hat gemotzt."

-         Gleiche Gruppe: „Für den Vormittag hatten wir uns vorgenommen unser Tischtennis-Tonir durchzufuhren.“

-         10jährige Jungen: „Am Nachmittag fand eine Disko statt. Wir haben sogar mit Mädchen getanzt. Das hat ‚urst gefetzt’.“

-         13jährige Jungen: Überschrift: „Wir reiten mit unseren polnischen Freundinnen.“  

Apropos polnische Freundinnen. Ein Dolmetscher fiel aus, und der „Ersatz" konnte erst drei Tage spater anreisen. Ich wollte mich aber zumindest unseren Gasten verbunden zeigen und rief sie über den Lagerfunk mit folgenden Sätzen in die Lagerleitung:1

-  Owaga! Owaga! (Achtung! Achtung!)

-     Dien dobry pani i panu. (Guten Tag meine Damen und Herren.)

-     Panjest u naß safsche mile wid sany. (Sie sind uns immer willkommen.)

-     Prosche mi wy bat schys. Mu wen tylko po nemez ku. (Verzeihen Sie mir bitte, ich spreche nur Deutsch.)

-     Tschy jest tu ktoß kto resume po nemezku? (Ist hier jemand, der Deutsch versteht?)

   

Als ich aus dem Lagerleiterzimmer heraustrat, standen 13 Jungen und Madchen vor der Tür, die fast fließend deutsch sprachen. Sie haben sich fast kaputtgelacht über meinen „kleinen Verlegenheitsaufruf“. Wir kamen blendend miteinander aus.

Nun eine letzte Episode, die, wenn ich sie erfahren hätte, meinem Lagerleiterleben in Jerchel ein sofortiges Ende bereitet hätte. Sie kam aber erst Monate später heraus, bei der Gruppenleiter-Abschlußfeier im Kulturhaus unseres Betriebes. Alkohol löst die Zunge!

Eines Morgens leiht sich eine Gruppe 11jähriger Jungen 10 Fahrräder aus. Sie wollen in die Nähe von Buch, picknicken. Genehmigt von mir. 12 Kaltverpflegungen, für Gruppenleiter und Sanitäter mit, in der Küche einbeuteln lassen. Etwas Bratfleisch und Würstchen sowie Getränke fertigmachen lassen. Den Sanitäter und die Gruppenleiterin noch mal vergattert, im Wald kein Feuer zu machen, sondern außerhalb des Waldes. Ordnung und Sicherheit einzuhalten und pünktlich um 18.00 Uhr zum Abendessen wieder im Lager zu sein. Alles klar. Die Gruppe fährt los. - Abends 18.00 Uhr ist die Gruppe noch nicht da. Ich entschließe mich, die Strecke mit dem Auto abzufahren. Aber im selben Moment kommen die Jungen mit ihrer Leiterin freudestrahlend um die Ecke. Sie erzählen mir, einer von ihnen hatte eine Panne, und die mußten sie beseitigen, dann gab es noch eine zweite Panne. Dadurch die Zeitverzögerung. Fest davon überzeugt und an keine andere Sache denkend, nehme ich das zur Kenntnis und bin froh, daß nichts Schlimmeres passiert ist.

Der wahre Grund des Zuspätkommens: Die Gruppe hatte an der Chaussee einen kleinen Agrarflugplatz entdeckt mit einer Maschine, die Schädlingsbekämpfungsmittel aussprühte. Die Kinder schauten bei der Landung und beim Start zu. Plötzlich fragt der Pilot: „Na, wer möchte denn mal mitfliegen?" „Ich, ich, ich“, schrieen alle. Die Gruppenleiterin und der DRK-Helfer schauten sich an, zwinkerten sich zu - und nickten ab. „Bedingung: unter dem strengsten Siegel der Verschwiegenheit. Wer petzt, ist für immer erledigt! Schwören!“ Alle hoben die Hand. „Was erzählen wir im Lager? Zwei Pannen gehabt, klar?“ „Klar!“ kam es wie aus einem Munde. Der Pilot stieg ein. Die Maschine startete mit einem überglücklichen Jungen an Bord. Da es aber zehn waren und nur einer in der Maschine mitfliegen konnte, 15 Minuten etwa dauerte ein Flug, da waren zehn mal 15 Minuten auch 150 Minuten. Das war die Verspätung! Für mich noch heute unerklärlich, wie zehn Plappermäulchen von Jungen dieses Alters im Lager und auch später zu Hause so dicht halten konnten.

Soweit zum Betriebsferienlager des VEB Fahlberg-List, Magdeburg. Mit viel Liebe, Enthusiasmus und Glauben an eine friedliche Zukunft unserer Kinder haben wir dort unsere Pflicht und unseren Auftrag erfüllt. Ich denke sehr oft und gern an diese Zeit zurück, wie schön es doch war. Als ich meiner Frau diese Zeilen vorlas, kamen uns beiden die Tranen. Das sagt eigentlich alles.

Herbert Rasenberger


1 Die polnische Schrift ist von mir so aufgeschrieben, wie man sie spricht. Also vollkommen falsch Ich hatte sie aus einem polnischen Sprachlexikon herausgesucht.


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