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Landwirtschaft in der DDR, wie ich sie erlebte

  Als Kind einer Großstadt hatte ich zunächst kaum Verbindungen zur Landwirtschaft. Wie es oft gesagt wird, kannte ich sie nur vom Kartoffeln essen. Während der Kriegsund Nachkriegsjahre entwickelten sich auch nur geringe, oberflächliche und meist unangenehme Kontakte. Bei Ernte- und anderen Arbeitseinsätzen, wie z. B. dem mühseligen Rübenverziehen oder beim Suchen der von den Amis abgeworfenen Kartoffelkäfer, so behaupteten es damals offizielle Dienststellen (warum sollen sie das eigentlich nicht getan haben, wenn sie doch z. B. in Vietnam durch aus der Luft verstreute Herbizide ganze Wälder entlaubten, Flüsse und Felder samt Ernten vergifteten), wurden allmählich Acker, Felder, Wiesen und Weiden, Tiere, Saat und Ernte ein zunehmend intensiveres Erlebnis für mich. Fast hätte das (nach einer Evakuierung aus der heimischen Großstadt) auf dem Land Erlebte, u. a. der demokratischen Bodenreform, für unsere Familie dazu beigetragen, einen Neubauernhof zu erhalten. Trotzdem blieben auch während Oberschulzeit und Studium Erlebnisse in der Landwirtschaft für mich etwas Seltenes.

Nach meinem Philosophiestudium in Jena kam ich 1957 nach Rostock. An der dortigen Universität war ich zunächst als wissenschaftlicher Assistent im marxistisch-leninistischen Grundlagenstudium tätig. Ich leitete Seminare im Fach Philosophie für Studenten der Landwirtschaftlichen Fakultät. Dort fühlte ich mich von Anfang an wohl. Die ganze Atmosphäre war irgendwie „erdverbunden“ und damit natürlich - menschlich. Die Studenten, größtenteils Kinder vom Lande, aber auch Interessierte aus Städten, die sich eine naturverbundene Arbeit als Lebensberuf gewählt hatten, standen stets mit „beiden Füßen auf dem Erdboden“ und unterschieden sich in ihrem praxisverbundenen Denken und Tun von Studenten so mancher anderen Fakultät. Ähnliches konnte auch vom Lehrkörper gesagt werden. Dadurch wurden mir die schwierigen Startjahre meiner beruflichen Arbeit erleichtert.

In den Folgejahren wurde ich zunehmend mit der Pflicht konfrontiert, eine Dissertation zu erarbeiten. Allmählich entstand ein Thema, welches sich mit Problemen der Arbeitsmoral auf dem Lande beschäftigte. Da ich nie ein Freund abstrakter, vom tatsächlichen Leben gelöster philosophischer Probleme war, konnte ich mit diesem Thema zwei Ziele angehen. Zum einen lernte ich selbst die sozialen, politischen, ökonomischen u. a. Entwicklungsprobleme der sozialistischen Landwirtschaft kennen, und zum anderen konnte ich gerade dadurch die Lebensnähe meiner Lehrveranstaltungen, es kamen später auch Vorlesungen hinzu, verbessern.

Meine Arbeit ließ sich natürlich nicht allein am Schreibtisch anfertigen, dort konnte sie erst am Schluß ihre endgültige Fassung bekommen. Jahrelang arbeitete ich in der vorlesungsfreien Zeit in von mir ausgewählten LPG des Kreises Rostock-Land in Feldbaubrigaden mit. Das war oft recht schwierig. Soziologische Methoden, ich arbeitete viel mit Interviews, waren seinerzeit in der DDR noch etwas „unterbelichtet“. Man konnte auch Ärger mit der „Obrigkeit“ bekommen, wenn sowohl die gestellten Fragen als auch die daraus abgeleiteten Ergebnisse gewissen Wunschvorstellungen entgegenstanden. Auch führte mein methodisches Herangehen, über welches ich im Nachhinein schmunzeln kann, bisweilen zu Mißverständnissen. So lief ich nicht mit einem großen Fragebogen durch die Gegend, sondern stellte meine Fragen über die Stimmung in der LPG, über Wettbewerb und Leistungsprinzip scheinbar nebenbei. Die Antworten notierte ich dann in Arbeitspausen. Ich wollte nicht auffallen und fiel doch auf, denn: Ich kam aus der Stadt, verlangte kein Geld für meine Mitarbeit, ich bekam ja mein Gehalt als wissenschaftlicher Assistent von der Uni, stellte viele Fragen und arbeitete gut. Das rief bei manchem Argwohn und Mißtrauen hervor. „Kommt der von der Staatssicherheit?“ wurde hier und da gemunkelt, eine Frage, die mir damals völlig unverständlich war. (Heute allerdings auch.) Am schwierigsten war für mich die Notwendigkeit, immer fleißig zu sein, denn wenn ich die Arbeitsmoral erforschen wollte, mußte ich diese in hohem Maße selbst demonstrieren, d. h. immer fleißig sein.

Für diese Untersuchungen erhielt ich einige Jahre später, nach ihrer theoretischen Verallgemeinerung in Gestalt einer Dissertationsschrift, den „akademischen Vornamen“ Dr. phil. Wichtiger war für mich jedoch, daß ich durch die in und während der Arbeit geführten Gespräche, durch die dabei entstandenen Kontakte zu den Menschen, die trotz der oben erwähnten Gerüchte überwiegend vertrauensvoll waren, durch die „Arbeit selbst“, meine Kenntnisse über das alltägliche Leben und Arbeiten der Menschen auf dem Lande vertiefte und viele Einsichten gewann.

Aus der Fülle der Erkenntnisse und Einsichten kann ich nur Ausschnitte vorstellen, denn Umfang und Inhalt der untersuchten Probleme waren außerordentlich vielfältig. Jede theoretische Verallgemeinerung bedeutet auch Verlust an Lebensverbundenheit, an Buntheit und Vielfalt, denn „grau, lieber Freund, ist alle Theorie ...“ (Goethe).

Besonders interessierte mich die Einstellung der LPG-Mitglieder zur Arbeit unter den neuen, sich entwickelnden Produktions-, Eigentums- und überhaupt Lebensverhältnissen. Hier gab es nicht nur individuelle Unterschiede von Mensch zu Mensch, im Sinne von fleißig und faul, interessiert, aufgeschlossen, engagiert oder nicht, sondern auch solche, die sich aus der vorherigen sozialen Stellung der Menschen ergaben. Die Mitglieder einer LPG waren nämlich in sozialer Hinsicht ein recht „buntes Völkchen“.

Da gab es ehemalige Einzelbauern, ehemalige Land- oder Gutsarbeiter, aufs Land „delegierte“ ehemalige Industriearbeiter u. a. m. Ihre unterschiedliche Qualifikations- oder Altersstruktur sollen hier nur am Rande erwähnt werden. Bei ehemaligen Einzelbauern stellte ich einen ausgeprägten Hang zum Eigentum, zum eigenen Hof, zur eigenen Scholle und eigenem Vieh fest. Heute meine ich, daß wir bei unserem Versuch, eine sozialistische Gesellschaft in der DDR aufzubauen, das Eigentumsproblem in seiner politisch-ökonomischen und vor allem moralischen Dimension unterschätzt und damit falsch behandelt haben. Ihre bisherige Lebensbahn verlassend, fiel es nämlich gerade den Bauern sehr schwer, sich an die andere Disziplin genossenschaftlichen Lebens und Arbeitens zu gewöhnen. Diese Mentalität berücksichtigend, gab es deshalb in den Genossenschaften sogenannte individuelle Hauswirtschaften. Diese standen oft oder meist im Mittelpunkt der Interessen der Genossenschaftsbauern. Vielen Genossenschaften war es durchaus gut gelungen, die tiefen Bindungen des Bauern zu seinem bisherigen privatem Besitz, seiner Kuh, seinem Pferd u. a. mit den Aufgaben der Genossenschaft zu verbinden. So gab es z. B. Bauern, die bei der Fütterung der Pferde ihrem vormals privatem Pferd einige Hände voll Extrafutter verabreichten. Gewissenhaftigkeit, Fleiß, Ausdauer, eine gewisse „Bauernschläue“, gehörten zu den positiven Merkmalen bäuerlicher Tätigkeit in der Genossenschaft.

Einseitiger, bisweilen auch übertriebener Hang zum individuellen Eigentum einerseits, aber auch Aufgeschlossenheit gegenüber dem Neuen in der Landwirtschaft andererseits, waren bei allen Bauern natürlich gleichzeitig vertreten und Ausdruck ihrer „zwei Seelen“ (Lenin) und dadurch Ursache vieler innerer Konflikte bei den Bauern selbst und der Entwicklung so mancher Genossenschaft.

Bei ehemaligen Landarbeitern war die Sehnsucht nach eigenem Land, einem eigenem Hof u. a. ebenfalls vorhanden, die innere Bindung zum privatem Eigentum jedoch nicht so stark entwickelt wie bei den Bauern. Ihr Verhalten in der Arbeit äußerte sich daher in einem eher gemächlichem Tempo, im Bedürfnis, viel und auch lange Arbeitspausen („Zigarettenpausen“) einzulegen, sowie mit Arbeitsbeginn und -ende großzugig zu verfahren. Sie waren es aus der junkerlichen Vergangenheit nicht anders gewöhnt, obwohl zu jener Zeit oft ein Inspektor oder ein anderer Antreiber hinter ihnen gestanden hatte. Auf den großen Gütern waren sie ihrer Arbeit recht interesselos nachgegangen, denn es war ja nicht ihr Eigen, was sie bearbeiteten, sie überschauten meist auch nicht den Umfang, die Dimension junkerlicher Großproduktion. Der gewöhnliche Tagelöhner dachte bei seiner Arbeit: Wenn es doch erst Feierabend wäre; dem Bauern war ein solches Sinnen zutiefst fremd. Ehemalige Landarbeiter betrachteten daher die Genossenschaft häufig nicht als Träger des gemeinsam bewirtschafteten Eigentums aller Mitglieder, sondern lediglich als eine Arbeitsstelle, die man auch wechseln konnte, wenn einem die Nase des anderen nicht mehr paßte.

Ehemalige Großbauern standen der genossenschaftlichen Entwicklung auf dem Lande meist skeptisch, abwartend und sogar feindlich gegenüber. Manche meinten, daß es besser gewesen wäre, ihnen die Maschinen zu verkaufen. Der Staat und die Gewerkschaften hatten ja auf die Einhaltung sozialer Normen, wie den Achtstundentag und anderes, achten können. Andererseits hatten Großbauern auf Grund ihrer fachlichen Bildung, ihrer eigenen Erfahrung aus der Arbeit auf größeren Flachen und mit Maschinen ein gewisses theoretisches Verständnis für Großflächenwirtschaft überhaupt, allerdings wohl weniger für eine sozialistische. Daher waren nur wenige „mit dem Herzen dabei“, verrichteten ihre Arbeit in der Genossenschaft aber meist sehr korrekt, weil sie eben Landwirte waren, gewissermaßen aus Berufung, weil sie gar nicht anders konnten. Viele hatten den Kopf voller guter Vorstellungen und kluger Ratschläge, lehnten es aber ab, Verantwortung zu übernehmen, da man ihnen, den ehemaligen Großbauern, ja doch nur Mißtrauen entgegenbrachte. Womit sie wiederum leider auch nicht ganz unrecht hatten.

Die Vorstellung von der LPG als etwas den Bauern nicht Gehörendes, die Auffassung etwa einer erneuten Enteignung, machte sich in den ersten Jahren der sozialistischen Entwicklung auf dem Lande in vielen schlechten Arbeitsleistungen bemerkbar. Beim Hocken von Getreidegarben hatte ich im Sommer 1961 folgendes Erlebnis: Nach vielen Regentagen gab es wieder einmal schönes, sonniges Wetter. Einige wenige Reihen des sehr feuchten Getreides waren noch aufzustellen, doch pünktlich um 17 Uhr verließen die Genossenschaftsbauern das Feld. Die individuelle Hauswirtschaft wartete! Auf meine Frage, was sie bei solch schlechten Witterungsbedingungen als Einzelbauern getan hätten, erhielt ich die Antwort: Wir hätten natürlich bis in die Dunkelheit mit allen Kräften weitergearbeitet, denn der Verlust an Ertrag wäre ja unser finanzieller Schaden gewesen. Daß es in der Genossenschaft ebenfalls ihr Schaden war, wenn schlecht gearbeitet wurde, hatten viele damals noch nicht erkannt.

Bei vielen Genossenschaftsbauern stand die individuelle Hauswirtschaft lange Jahre im Mittelpunkt ihrer Interessen. Dafür gab es vorrangig ökonomische, aber auch, wie schon erwähnt, mentale Ursachen. Viele orientierten sich mit ganzer Kraft und hohem Zeitaufwand auf diese individuelle Hauswirtschaft, als dem „letzten Rest“ ihres persönlichen Besitzes. Die Einnahmen aus der Genossenschaft wurden oft als Taschengeld betrachtet. Es entwickelte sich ein Widerspruch zwischen der Existenz reicher Genossenschaftsbauern und armer Genossenschaften. So gab es in manchen Genossenschaften „individuelle Kühe“ mit einer Milchleistung, die die der genossenschaftlichen deutlich übertraf. Manche Bauern fütterten individuell eine Vielzahl von Kühen, Schweinen, Schafen oder Hühnern, für welche die von den Genossenschaften erhaltenen Futtermittel oder auch die von den 0,5 Hektar individuellen Landes erwirtschaftete Menge niemals ausgereicht hätten. Kein Wunder, daß diese Genossenschaften unrentabel arbeiteten. Doch es gab genügend Helfer aus den Städten, die am Wochenende in mehr oder weniger freiwilligen Arbeitseinsätzen solchen Genossenschaften auch noch halfen, und das meist sogar unentgeltlich. „Studenten und Soldaten aufs Land, Bauern an den Strand“, so lautete damals ein fast schon geflügeltes Wort.

Dies alles waren normale, keineswegs dramatische Probleme, bei dem Versuch, auf dem Lande eine sozialistische Großflächenwirtschaft aufzubauen. Erfolge und Fortschritte sind eindeutig nachweisbar. Mit einer Vielzahl differenzierter Methoden, die hier im einzelnen nicht aufgezählt werden können, versuchten die dafür verantwortlichen Leitungsgremien aller Ebenen auf die Lösung der Probleme Einfluß zu nehmen. Wer die Entwicklung zwischen 1949 und 1989 objektiv betrachtet, kann die großen Fortschritte von 40 Jahren Sozialismus auf dem Lande nicht leugnen. Noch heute, knapp 10 Jahre nach der sogenannten Wende, ist die Existenz von Resten landwirtschaftlicher Genossenschaften und ähnlicher Betriebsformen ein Zeichen ihrer Stabilität. Neben einem bedeutenden ökonomischen Wachstum sei auf viele soziale und kulturelle Veränderungen hingewiesen. Dazu zählen Fortschritte in der beruflichen Qualifikation der Genossenschaftsbauern, und zwar vom Facharbeiterbrief bis zum Hochschulabschluß. In der Volksbildung stehen dafür das Vorhandensein und die Anzahl von modernen Schulen, von Krankenhäusern, Ambulatorien, Kinderkrippen und Kindergärten, Schulhorten, Gemeindeschwesterstationen und diversen kulturellen Einrichtungen, wie Kulturhäusern, mit entsprechenden Leistungen. Wesentliche Unterschiede zwischen dem Leben auf dem Lande und dem in der Stadt konnten verringert werden. Sie völlig aufzuheben, ist niemals Ziel sozialistischer Politik und marxistischer Theorie gewesen.

Berufliche Veränderungen verringerten nach 1970 meinen Kontakt zur Landwirtschaft. Die in diesem Beitrag getroffenen Feststellungen tragen sicher etwas theoretischen Charakter. Das liegt natürlich am Zweck ihres Zustandekommens, meiner eigenen beruflichen Qualifizierung. Ich übte eben einen Beruf aus, der im Bereich der Theorie angesiedelt war. Dabei orientierte ich mich aber stets auf eine enge Verbindung zur gesellschaftlichen Praxis und erfuhr dadurch ein hohes Maß an beruflicher und damit auch persönlicher Zufriedenheit. Auf Zahlen habe ich in dieser Darstellung bewußt verzichtet. Es sei aber betont, daß alle Aussagen empirisch belegbar sind, meine Erlebnisse sind und damit eine Seite meines sinnerfü0llten Lebens in der DDR widerspiegeln.

Dr. Gerhard Peine 


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