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Einige Zufälle und der artige Schüler Werner

 Ich bin nicht abergläubisch und glaube an keine „Wunder“, sondern betrachte das Leben eher realistisch. Aber wie rangiert sich hier der Zufall ein? Davon werden wir doch manchmal überrascht. Er ist von uns nicht beeinflußbar und holt plötzlich längst vergangen Geglaubtes in Raum und Zeit zurück. So auch im nachfolgenden Falle bei mir. Gewissermaßen vorbereitet wurde er von meinem Enkel durch die Frage, ob ich von früher noch Bilder hätte. Ich suchte einige heraus, aus meiner Kindheit und eines, das mich als jungen Lehrer im Jahre 1948 mit meiner damaligen 3. Klasse zeigte. Da war ich schon ein Jahr Neulehrer. Wir zählten gemeinsam die Anzahl der Schüler und kamen beide auf 39. Mein Enkel war erstaunt, wieviel Schüler zu einer Klasse gehörten.

Der große Zeitabstand von fast fünf Jahrzehnten brachte es mit sich, daß ich nur noch wenige Kinder wiedererkannte. Mit Sicherheit aber waren es wenigstens drei, zwei Mädchen und ein Junge - Werner Lieschke, der einzige Blondschopf mit lockigem Haar.

Am nächsten Tag klingelte es bei uns an der Haustür. Meine Frau öffnete, kam zurück und sagte: „Da ist ein Herr Lieschke, der dich besuchen will.“ Ich schaltete nicht gleich und sagte, daß ich keinen Herrn Lieschke erwarte. Aber schließlich ging ich doch zur Tür, und da stand tatsächlich mein ehemaliger Schüler vor mir, den ich natürlich umarmte und herzlich begrüßte. Er brachte die Einladung zu einem Klassentreffen mit, das in meinem ersten Dienstort als Neulehrer in Schipkau, Kreis Senftenberg, stattfinden sollte. Anlaß war der 40. Jahrestag der Schulentlassung im Jahre 1956.

Nachdem sich mein Gast verabschiedet hatte, kam ich ins Grübeln über diesen Zufall. Und in den Wochen darauf drehte ich die „Uhr“ öfter zurück und dachte über die Anfänge meines Lehrerdaseins nach.

Mein Wunsch, Lehrer zu werden, war kein Zufall. Er war schon in frühen Jahren entstanden. Der erste Anlauf fiel noch in die Kriegszeit. Nach einer Aufnahmeprüfung an der Lehrerbildungsanstalt Cottbus besuchte ich diese ab April 1943. Als die Front im Osten immer näher rückte, wurde unsere Schule im Frühjahr 1945 in die Nähe von Wittenberg verlegt. Kurz nach der Ankunft kamen wir in ein „Wehrertüchtigungslager“ und lernten innerhalb einer Woche mit Gewehr und Panzerfaust umzugehen. Glücklicherweise konnten wir vor dem Fronteinsatz aus der Stadt fliehen und gerieten in die Medewitzer Hütten bei Wiesenburg im Kreis Beizig. Hier wurde ich verwundet, landete im Lazarett Magdeburg und danach in sowjetischer Gefangenschaft. Als unsere Gefangenenkolonne wenige Tage später abmarschierte, schwoll mein verwundeter Arm so stark an, daß ich die Finger nicht bewegen konnte, und am Ellenbogen hatte sich ein pfirsichgroßer Abszeß gebildet. War es wieder ein Zufall, daß sich in der Nähe, und zwar in einem Bauernhaus in Görzke, Kreis Beizig, ein Hauptverbandsplatz der Roten Armee befand? Hier wurde ich von einer sowjetischen Ärztin operiert und mein Leben gerettet, fünf Tage vor meinem 16. Geburtstag. In meinem Ohr klingen noch heute die Worte: „Keine Angst, Kleiner, es wird alles gut werden.“ Im August 1945 wurde unser Kriegsgefangenenlager in Fürstenwalde aufgelöst, und wir waren entlassen.

Ich hatte meinen Berufswunsch nicht aufgegeben und bewarb mich bereits im Sommer 1946 für einen Neulehrerkursus. Zunächst war unser Gebietsschulrat der Meinung, daß ich als ehemaliger Schüler einer (nationalsozialistischen) Lehrerbildungsanstalt dafür nicht geeignet sei. Überraschend bekam ich dann aber doch eine Einladung für den Neulehrer-Lehrgang in Finsterwalde ab Januar 1947.1 Wegen des harten Winters mit lang anhaltenden Temperaturen von minus 20 bis 30 °C wurde der Lehrgang auf sechs Wochen verkürzt, und ich konnte ab l. März 1947 (als noch Siebzehnjähriger) meine Neulehrertätigkeit aufnehmen.

Wie bereits erwähnt, war mein Einsatzort Schipkau, heute vielleicht bekannt durch den in der Nähe gelegenen Lausitzring. Der Ort hatte damals ca. 2.000 Einwohner, vorwiegend Arbeiter, die in den Braunkohlenwerken oder im damaligen Synthesewerk Schwarzheide arbeiteten. Es gab auch etwa ein Dutzend Bauern. Diese Zusammensetzung kam meiner Entwicklung entgegen, denn mein Vater war Bergarbeiter. Ich spürte bereits in den ersten Wochen, daß ich bei den meisten Kindern „ankam“ und auch bei vielen Eltern Unterstützung fand. Trotzdem mußte ich in den folgenden Jahren wie jeder andere Neulehrer hart an mir arbeiten, um den hohen Anforderungen gerecht zu werden.

Im Jahre 1951 verließ ich die Schule in Schipkau und übernahm andere pädagogische Aufgaben. Das eingangs erwähnte Treffen „meiner“ Klasse fand am 26. Oktober 1996 statt und bedeutete für mich also ein Wiedersehen nach 45 Jahren.

27 Schüler waren der Einladung gefolgt, für den großen Zeitabstand doch sehr viele. Natürlich gab es allerhand zu erzählen, denn manche sahen sich nach der Schulentlassung erstmalig wieder.

Aber auch Erinnerungen wurden wach, z. B. diese: Dr. Karl-Heinz Schuster berichtete davon, wie meine Schüler mich weckten, als ich einmal um 8 Uhr noch nicht in der Schule war. Ein Klassenchor riß mich mit dem Ruf „Herr Lüdtke, wir wollen Schule“ aus tiefem Schlaf. Dr. Schuster erinnerte sich noch genau, wo ich damals wohnte - nicht nur nach Straße und Hausnummer, sondern auch, wo sich im Haus mein Schlafraum befand. Er war also einer der drei Schüler, die damals sogar neben meinem Bett standen. Ich hatte sie und die Klasse aufgefordert, sich schnurstracks in Richtung Schule zu bewegen. Erstaunlicherweise hat kein Lehrer, auch nicht der Schulleiter, davon Wind bekommen. Kollegin Lehmann, eine ortsansässige Lehrerin, auch zum Klassentreffen erschienen, erfuhr erst jetzt davon.

Eine zweite Erinnerung tauchte an diesem Tag auf: meine Prüfungslektion zur zweiten Lehrerprüfung im Jahre 1951. Thema: Kartoffeln pflanzen. Am Vortage hatte ich mit der Klasse die verschiedenen Arten der Pflanzung beobachtet, wie ich es mit den Bauern abgesprochen hatte.

Es waren zu sehen: Die Pflanzung in der Reihe. Da pflügte ein Bauer mit zwei Kühen eine Furche, in die Kartoffeln nach Augenmaß hineingeworfen wurden. Mit dem Pflügen der nächsten Reihe wurden die gelegten Kartoffeln wieder zugedeckt. Die höchste Technik bestand damals darin, daß eine Kartoffellochmaschine in gleichmäßigen Abständen Löcher auswarf, in die Kartoffeln zu legen waren. Die Methode „Hausmacherart“ demonstrierten wir im Schulgarten. Mit dem Markeur - einem einfachen hölzernen Gartengerät - wurden gleichmäßige Abstände erreicht.

Die Auswertung dieser Beobachtungen stand am Anfang meiner Prüfungslektion - es war eine gute Basis. Besonderes Augenmerk galt in der damaligen Zeit den erzieherischen Werten, die manchmal auch arg strapaziert wurden. Aber natürlich konnte ich in Vorbereitung der Lektion nicht alles Erwünschte bedenken - schon gar nicht die Antworten der Schüler! Und so hörte ich auf meine allerdings nur entfernt mit dem eigentlichen Thema zusammenhängende Frage, woran es liege, daß es in den ersten Jahren nach dem Kriege Not und Hunger gab (statt der „geplanten“ Antwort, daß der Krieg daran schuld war), zu meiner Überraschung: „Die Russen haben alles geklaut.“

Da konnte man beobachten, wie die Mitglieder der Prüfungskommission die Ohren spitzten und darauf warteten, wie sich der Prüfling aus dieser Schlinge ziehen würde.

Und so tat er es: Situation 1945 - zerstörte Verkehrswege, wie Straßen, Bahnhöfe und Gleise, keine Autos für den Transport. Aber die Menschen in Senftenberg, Dresden und Berlin brauchten etwas zu essen. Und die sowjetischen Truppen hatten Lastautos. Sie fuhren in die Dörfer und beluden sie mit Kartoffeln, meist aus Kartoffelmieten. „Und böse Zungen behaupteten dann: die Russen haben alles geklaut“, so meine Worte.

Zum Schluß der Stunde eine weitere Überraschung: Meine Schüler sollten die Frage beantworten, wem wir es zu verdanken hätten, daß es uns inzwischen schon besser ging. Statt der „geplanten“ Antwort („dem Fleiß der Bauern“) kam von einem guten Schüler: „Dem lieben Gott!“ Wie reagiert man auf eine solche Antwort? Ich konnte weder die Existenz des „lieben Gottes“ bestätigen - schon aus meiner inneren Einstellung dazu -, noch eine große Diskussion dazu durchführen. Schnell also aufs Nebengleis - wie die Bauern dafür sorgen, daß mehr geerntet wird, z. B. Kartoffeln.

Der Schulrat kam unmittelbar nach der Stunde zu mir, klopfte mir auf die Schulter und sagte: „Ich habe mir überlegt, wie ich in beiden Situationen reagiert hätte. Besseres wäre mir nicht eingefallen.“

Das Klassentreffen liegt nun schon einige Jahre zurück. Aber die Verbindung zwischen Lehrer und Schülern ist offensichtlich stabil. Ein Beweis dafür sind die Glückwünsche zu meinem 70. Geburtstag im Mai 1999. Es waren immerhin 17 Gratulanten, darunter auch Werner Lieschke. Er schrieb u. a.:

„Ich denke oftmals mit Freude an die Zeit zurück, wo ich Ihrer Klasse angehörte und die schrille Glocke zu Ihrem Unterricht rief. Vielen Dank für die schönen Stunden des Lernens und Lehrens. Die Schule in Schipkau wird bald wegen fehlender Schüler geschlossen werden, aber die Erinnerungen werden bleiben ...

Ihr dankbarer, freundlicher

und nicht immer artiger

Schüler Werner Lieschke"

Helmut Lüdtke


1 Diese Form der Ausbildung ging auf die bereits am 5 April 1945 erhobene Forderung einer (unter der Leitung von Walter Ulbricht stehenden) Kommission des Politbüros der KPD zurück, „qualifizierte antifaschistische Werktätige in zwei- bis dreimonatigen Kursen auf den Einsatz als Hilfslehrer vorzubereiten.“ Immerhin waren rd. 40 000 Lehrer zu ersetzen, die als Vertreter und Anhänger der faschistischen Ideologie entlassen werden mussten. Und so waren 1946/47 bereits zwei Drittel der Pädagogen an den allgemeinbildenden Schulen Neulehrer.


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