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Das soll uns erst mal jemand nachmachen!

 Als ich im August 1962 nach siebenjähriger Schulleitertätigkeit im mecklenburgischen Neubauerndorf Renzow mein Amt als Direktor der Polytechnischen Oberschule „Artur Hoffmann“ in Gaschwitz bei Leipzig antrat, erwarteten mich zwar erneut anspruchsvolle Aufgaben, aber ich konnte an bereits Vorhandenes anknüpfen und fand insgesamt gute Bedingungen vor.

Denn obwohl die Gaschwitzer Schule erst nach 1945 unter Nutzung der Räume des ehemaligen Rittergutes eröffnet worden war, besaß sie bereits gut ausgestattete Fachkabinette für Musik, Zeichnen, Mathematik und Physik, Biologie und Chemie, Geographie, Geschichte und Astronomie. Hort, Werkraum, Lehrerzimmer sowie Schulsekretariat waren großzügig untergebracht und verfügten über eine beachtliche Ausstattung. Es gab eine ordentliche Sporthalle mit angrenzendem Sportplatz, und in der mit Inventar wohlversehenen Schulküche wurde ein schmackhaftes Mittagessen für Schüler und Angestellte gekocht. Auf materiellem Gebiet brauchte ich diesmal also nichts Neues erfinden, sondern konnte Begonnenes fortsetzen bzw. ergänzen: Einrichtung eines Schulgartens, Ausbau eines Schwimmbeckens, Umgestaltung des Schulhofs usw.

Das Beste blieb allerdings ein gut eingespieltes Kollegium, das in der Öffentlichkeit beträchtliches Ansehen genoß. Die meisten Lehrer waren schon „von Anfang an“ dabei. Es bestand eine ausgezeichnete Zusammenarbeit mit dem Bürgermeister und dem Direktor des benachbarten Volkseigenen Gutes. Außerdem gab es gute Kontakte zum Sportverein Lok Gaschwitz sowie zum Chemiekombinat „Otto Grotewohl“ Böhlen, in dem unsere Klassen 7 bis 10 solide Bedingungen für ihren „Unterrichtstag in der Produktion“ (UTP) vorfanden. Doch auch das Verhältnis zwischen Lehrkräften, Pionierorganisation, FDJ, Elternvertretern und den übrigen gesellschaftlichen Gremien stimmte. Und das neue Schuljahr war vom stellvertretenden Direktor - einem Mitglied der LDPD - sehr verantwortungsvoll vorbereitet worden.

Trotzdem schien mir die Situation kaum einfacher als anfangs im Mecklenburgischen - nur, daß einige Probleme anders gelagert waren. Natürlich mußte ich mich auch hier auf das rasche Kennenlernen jedes Kollegen und die qualifizierte Leitung eines Lehrerkollektivs konzentrieren, jedoch auch selbst in einigen neuen Fächern unterrichten. Vor allem aber sah ich mich einem anderen Schülertyp gegenüber als im Mecklenburgischen. Die Nähe der Großstadt Leipzig schien das Auftreten, die Lernhaltung, die Disziplin und gegenseitige Achtung der Heranwachsenden nicht eben günstig zu beeinflussen.

Dennoch machte mir die neue Aufgabe Spaß, und ich behielt die lebendige, manchmal widerspruchsvolle, insgesamt jedoch erfolgreiche Arbeit des Schuljahres 1962/1963 in guter Erinnerung. Es verging wie im Fluge. Eines Tages waren dann auch die Sommerferien vorüber, die Pädagogische Woche abgeschlossen und das neue Schuljahr vorbereitet.

Ich trat eben optimistisch den Heimweg an, als mich ein Schulinspektor buchstäblich auf der Treppe abfing und mir eröffnete, daß man mich für ein Jahr aushilfsweise nach Markkleeberg-Großstädteln versetze, da der dortige Schuldirektor plötzlich abgelöst werden müsse. Für Vertretung in Gaschwitz sei währenddessen gesorgt. Meine Frau war nicht begeistert, und die verschiedensten Gaschwitzer Gremien erhoben Einspruch gegen die befristete „Nachbarschaftshilfe“. Aber es half alles nichts, und ich begann das von mir so sorgfaltig vorbereitete Schuljahr 1963/1964 danach in der völlig unvorbereiteten Schule von Markkleeberg-Großstädteln.

Das war wie eine kalte Dusche, denn dort lag so ziemlich alles im argen: keine Analyse ausgewertet, kein Arbeitsplan vorbereitet, kein Stundenplan überprüft - von der fachlichen Besetzung gar nicht zu reden. Und als ich mit meinen neuen Kollegen Kontakt aufnahm, sah ich mich unerwartet einer weiblichen Übermacht gegenüber: Es gab außer mir nur noch einen männlichen Lehrer - und den parteilosen Hausmeister. Mit ihm wurde ich zuerst warm. Er versicherte mich seiner Unterstützung und lieferte mir tatsächlich die wertvollsten Informationen für den Arbeitsbeginn. Später begrüßte ich gemeinsam mit ihm die Schüler frühmorgens an der Schultür, und zu zweit verabschiedeten wir sie nach dem Unterricht auch wieder - viele von ihnen mit Handschlag. Mit beispielhafter Initiative und Aktivität engagierte er sich über Jahre für sämtliche Bauvorhaben unserer Schule. Er war gelernter Maurer, und ohne seinen unermüdlichen Einsatz hätten wir manches nicht geschafft. Unser „Bündnis“ hielt bis zum letzten Tag der gemeinsamen Arbeit. Und das waren immerhin zwanzig Jahre (da aus meiner Rückkehr an die alte Schule trotz der von Gaschwitz ausgehenden Bemühungen nichts wurde). Er ist jetzt1 83 Jahre alt, und wir sind immer noch befreundet.

Ja, die Direktorentätigkeit an der Großstädtelner POS war für mich zwar vor allem pädagogische und politische Herausforderung, aber die Verbesserung der materiellen Voraussetzungen für unsere Bildungs- und Erziehungsarbeit beanspruchte zwangsläufig über Jahre hinweg einen nicht unbedeutenden Teil meiner Kraft. Denn das Schulgebäude war etappenweise zu reparieren, auszubauen und (einschließlich Heizung) zu modernisieren. Neue Schulmöbel mußten besorgt, Fachkabinette ausgestattet und weitere Fachunterrichtsräume geschaffen werden. Aus einem alten Tanzsaal machten wir eine ordentliche Turnhalle mit allem Drum und Dran, die Galerie darüber wurde zum Hort umgestaltet. Die durch den Um- bzw. Neubau der Räume für Schulküche und Werkunterricht erreichten Verbesserungen kamen gleichermaßen den Schülern wie dem Schulpersonal zugute. Im Ergebnis aller Verlagerungen und sonstigen Veränderungen gewannen wir im Schulgebäude u. a. drei dringend benötigte Klassenzimmer hinzu. Mit besonderer Begeisterung bauten wir ein Schwimmbecken für die Hortkinder. Auch ein Schulgarten wurde gefunden, bepflanzt und mit einem Zaun umgeben. Schritt für Schritt erhielt unser altes Schulgebäude außerdem ein neues „Innenleben“. Die Treppenhäuser und Räume wurden mit Blumen, Grünpflanzen, gekauften Bildern und Schülerarbeiten ausgestattet. Die Fenster bekamen Gardinen, zum Teil auch Verdunkelungsanlagen für die Arbeit mit Bild und Film.

Bis alles dies geschafft war, gingen allerdings Jahre ins Land. Und selbstverständlich hatten wir derart umfangreiche Aufgaben ohne die Unterstützung des Rates der Stadt Markkleeberg, der Nationalen Front, der Elternvertretungen und unserer Paten vom VEB „Otto Grotewohl“ Böhlen nicht lösen können. Darüber hinaus half uns der letztgenannte Betrieb nicht nur durch Bereitstellung des Sportplatzes für den Unterricht und die außerunterrichtliche Tätigkeit, sondern beispielsweise auch durch Delegierung von Übungsleitern zu unseren verschiedenen Sportsektionen. Vor allem die Ringer unserer Schule führten regelmäßig beachtliche Wettkämpfe durch und waren besonders stolz, als unserer Schule in einer feierlichen Veranstaltung der Name des von den Nazis ermordeten Weltklasseringers und Antifaschisten Werner Seelenbinder verliehen wurde.

Unsere Schüler hatten die Möglichkeit, außerunterrichtlich an 23 Arbeitsgemeinschaften teilzunehmen. Die meisten wurden von der Schule unterhalten, ein Teil war bei der Station Junger Techniker im Markkleeberger „Haus der Pioniere“ angesiedelt. Zum Beispiel gab es die AG Junge Geologen, die mit dem Naturkundemuseum in Leipzig zusammenarbeitete; eine AG Bildende Kunst, die durch das Museum für Bildende Künste (Dimitroffmuseum) betreut wurde; oder Besucheranrechte beim Leipziger „Theater der Jungen Welt“.

Unser ABV, Mitglied der Elternvertretung, leitete außer der AG K-Wagen auch die Verkehrserziehung, führte Fahrradkontrollen durch, nahm den Bewerbern für das Abzeichen „Goldene 1 im Straßenverkehr“ die Prüfung ab, sicherte unsere Schullagerfeuer ab, nahm an Geländespielen oder Sportfesten teil und war uns stets ein zuverlässiger, unentbehrlicher Helfer.

Mit Hilfe der Feuerwehr führten wir jährliche Brandschutzübungen durch, bei denen Rauchpatronen gezündet und die Erste Hilfe simuliert wurden Die Böhlener Kampfgruppe unterstützte uns bei Geländespielen beispielhaft mit Fernsprecher, Funkgerät und Leuchtmunition.

Für die Fotografen richteten wir ein Fotolabor im Werkraum ein. Unsere Modellbauer arbeiteten - unter Leitung des damaligen Elternbeiratsvorsitzenden - im Werkraum oder bei der Station Junger Techniker. Dort konnten auch Musikinstrumente erlernt werden.

Die AG Junge Sanitäter wurde von einem entsprechend qualifizierten Rentner betreut. Die „Jungen Historiker“ übernahm ich und erforschte mit ihnen das Schularchiv und die Chronik Unser Chor wurde von einer Lehrerin geleitet und schnitt bei Chorausscheiden meist recht gut ab. Dieselbe Kollegin bereitete die Schüler auch auf die jährlichen Russisch-Olympiaden vor. Unsere Sportlehrerinnen erhielten von den Sektionsleitern aus Böhlen tatkräftige Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchführung der ebenfalls in jedem Jahr stattfindenden Kreisspartakiaden.

Ein besonderer Höhepunkt jedes Schuljahres war die MMM Da reichte meist die Turnhalle nicht aus, um alle Exponate sichtbar zu machen. Klassen, Arbeitsgemeinschaften sowie „Einzelkämpfer“ mit besonderen Hobbys stellten aus, und die Öffentlichkeit bewies ihr Interesse durch regen Besuch.

Im VEB „Otto Grotewohl“ Böhlen wurde ein Polytechnisches Kabinett mit mehreren Fachräumen eingerichtet, das die Schulen der Umgebung betreute. Den Unterricht erteilten vom Betrieb beauftragte Lehrausbilder (meist Ingenieure) sowie Fachlehrer aus den allgemeinbildenden Schulen. (Der von uns delegierte Kollege war vormals ein in Sachsen bekannter Rennfahrer und Kfz-Meister gewesen und auch als Lehrer sehr beliebt. Leider verstarb er viel zu früh).

Unsere kleine Schule besaß also viele gute Helfer. Auch jede Klasse und Hortgruppe sowie die Pionierfreundschaft unterhielten - obwohl natürlich unterschiedlich intensiv - Kontakte zu „ihren“ Brigaden.

Diese vielfältigen Patenschaftsverträge waren nicht zuletzt für die Berufsberatung nützlich, machten unsere Schüler aber auch mit den ökonomischen und gesellschaftlichen Problemen der Betriebe vertraut. Das führte oft zu sehr kritischen Diskussionen.

Trotz unserer Einbindung in die vielschichtige außerunterrichtliche Tätigkeit bestand die Hauptaufgabe des unter meiner Leitung stehenden Lehrerkollektivs und der übrigen Kollegen natürlich in der Gewährleistung der planmäßigen schulischen Bildungs- und Erziehungsarbeit. Ich stellte dementsprechend hohe Anforderungen, aber die bei uns tätigen Pädagogen und Angestellten unterschieden sich hinsichtlich Qualifizierung, Arbeitsmoral, Leistungsniveau und Leistungsanspruch. Diese Situation barg allerhand Konflikte in sich, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll. Die meisten Diskussionen und Auseinandersetzungen brachten uns schließlich gemeinsam ein Stück voran, wenn es auch nicht immer ohne persönlichen Ärger abging. Einmal machten mich meine Vorgesetzten in Leipzig sogar auf die heimlichen Intrigen zweier Kolleginnen aufmerksam. Doch ich ließ mir nichts anmerken und behandelte die beiden Verschwörerinnen weiterhin ganz normal. Meine eigene Lage kann ich nicht mit diesem Wort kennzeichnen, denn nach dem Weggang eines Kollegen verblieb ich als einziger männlicher Pädagoge an der Schule und hätte ganz gern einer weiblichen Direktorin das Feld geräumt. Meine Vorgesetzten wollten davon jedoch nichts wissen und entsprachen meinem Wunsch erst mit dem Übergang zur Teilrente, vier Jahre vor Erreichung des gesetzlichen Rentenalters.

Zu den Familien unserer Kollegiumsmitglieder gehörten zeitweise mehr als 20 Klein- oder Schulkinder. Krippe und Kindergarten hatten nur montags bis freitags geöffnet, während unsere Kolleginnen den Unterricht auch sonnabends absichern mussten. Deshalb richteten wir mit Zustimmung der übergeordneten Organe und mit Hilfe einer talentierten Mutti, die etwas dazuverdienen wollte, unsere schuleigene „Sonnabendbetreuung“ für die Pädagogenkinder ein.

Die fachgerechte Absicherung des Unterrichts bereitete uns manche Sorge, und mitunter mußte ich mir Fachkollegen aus den Nachbarschulen „ausborgen“. Ich selbst habe im Laufe meines Lehrerdaseins - außer in Chemie - in allen Fächern unterrichtet.

Allmählich festigte sich unser Kollektiv, wurde die Unterrichtsvorbereitung der Kolleginnen exakter und gewissenhafter, auch die Lernmoral der Schüler entwickelte sich und unsere Zusammenarbeit mit den Elternhäusern erreichte eine neue Qualität. Natürlich versuchten wir unseren Schülern über das reine Fachwissen hinaus auch moralisch-ethische und weltanschauliche Überzeugungen zu vermitteln. Aber ich hielt nicht viel davon, jeden Unterrichtsstoff zu „ideologisieren“. Und selbst in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern war die Aktualisierung des Unterrichts nicht immer einfach, zumal sie nicht „aufgesetzt“ wirken durfte.

Für die Pionierorganisation und die FDJ brauchten wir nicht zu werben. Das machten die Schüler unter sich und mit den Eltern aus. Gleiches galt für die Jugendweihe. Wir wußten, welche Schüler nicht teilnehmen würden. Das war alles und entschied nicht über deren Förderung oder Delegierung zur EOS. Von unseren für die EOS vorgeschlagenen Schülern wurde während meiner gesamten Direktorenzeit nicht ein einziger abgelehnt, obwohl wir relativ viel delegierten - meist etwa 20 Prozent der 8. Klasse Dazu gehörten auch Kinder von Eltern, die keine Arbeiter waren, beispielsweise die Tochter des Pfarrers (zur Thomasoberschule), vier Kinder eines Theologieprofessors, Kinder von Ingenieuren und anderen. Probleme bekamen wir vor allem mit Eltern, die selbst keine höhere Schule besucht hatten. Mit ihnen mußten wir oft viele Gespräche führen, bevor sie der Delegierung ihrer Kinder an die EOS zustimmten. Für solche Kinder waren wir eine echte „Lobby“.

Unser erster hauptamtlicher Pionierleiter suchte bald das Weite. Danach übernahm eine junge Unterstufenlehrerin und frühere Chemiefacharbeiterin die ehrenamtliche Arbeit als Freundschaftspionierleiterin. Sie brachte viele Ideen, Schwung und Aktivität mit und - gemeinsam mit ihrem Patenbetrieb - ein interessantes Pionier- und FDJ-Leben in Gang. In den Schulferien organisierten wir die „örtliche Ferienbetreuung“, und im Stadtbad Böhlen fanden „Schwimmlager“ statt, die unter Mithilfe einiger Eltern und Kolleginnen von unseren Sportlehrerinnen geleitet wurden. Die Teilnehmer bezahlten dafür symbolisch eine Mark pro Durchgang. Da viele Schüler außerdem über ihre berufstätigen Eltern an Betriebsferienlagern teilnehmen konnten, blieben nur ganz wenige zu Hause oder bei den Großeltern.

Im Laufe der Jahre wurde ich Oberlehrer und Studienrat. Als ich im Jahre 1984 das Rentenalter erreichte und aus dem Schuldienst ausschied, konnte ich auf rund dreißig Jahre ununterbrochener Tätigkeit an den Schulen der DDR zurückblicken, die im Zusammenwirken mit den staatlichen Organen und vielen anderen guten Helfern jedem Kind und Jugendlichen vielfältige Bildungs-, Entwicklungs- und Erholungsmöglichkeiten boten. Es erscheint mir wichtig, daß diese große und in Deutschland bisher einmalige Leistung nicht in Vergessenheit gerät. Denn jedes Staatswesen muß sich vor allem daran messen lassen, was es für die heranwachsende Generation tut.

Günther Brückner


1 Im Jahr 1988


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