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Sepp, du sollst Meister werden

 Die eindrucksvollste Zeit für meine Persönlichkeitsentwicklung waren die fünfziger und sechziger Jahre. Damals waren in der DDR Möglichkeiten geschaffen worden, die es insbesondere uns jungen Menschen erleichterten, unsere Arbeits- und Lebensbedingungen selbst zu gestalten.

Zehn Jahre nach dem schrecklichen Krieg hatten sich meine Jugendträume fast erfüllt. Meine Facharbeiterausbildung im VEB Schwermaschinenbau „Ernst Thälmann“ Magdeburg-Buckau war abgeschlossen, und ich arbeitete als Dreher an einer modernen Maschine. Durch Weiterbildung sowie Mitarbeit im Neuererkollektiv, in der Wettbewerbskommission und als Vertrauensmann der Gewerkschaft war ich im Betrieb ein angesehener Facharbeiter. Hunger hatten wir inzwischen auch nicht mehr. Die letzten Lebensmittelkarten wurden abgeschafft, was für mich ganz wichtig war.

Im Jahre 1954 gründeten wir in unserem Betrieb eine Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft (AWG). Mit Unterstützung des Betriebes und des Staates wurden nun in rasantem Tempo Wohnungen gebaut. Jeder von uns leistete damals viele Aufbaueinsätze, bei mir waren es über 2.000 Stunden. Außerdem zahlten wir Anteile ein. Bereits im Jahre 1956 konnte ich mit meiner Familie eine sehr schöne Dreiraumwohnung beziehen, in der ich noch heute wohne. Für 70 Quadratmeter Wohnraum zahlte ich damals nur 37,80 DM Miete monatlich. Die zentrale Losung „So, wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben“ nahm für uns auf diese Weise konkrete Gestalt an.

Wir haben damals nicht nur fleißig gearbeitet und Pläne erfüllt, das gesamte Leben war für jeden interessanter und bunter geworden. In Produktionsgrundschulen, Lehrgängen und in der Betriebsakademie bildeten wir uns weiter. Ohne viel Geld auszugeben, konnten wir tanzen, wandern, Sport treiben, das Theater besuchen und in vielen Zirkeln oder Volkskunstgruppen mitwirken. Auf diese Weise hatte jeder die Möglichkeit, sein Leben entsprechend den verschiedensten Neigungen und Interessen selbst zu gestalten.

Im Jahre 1958 trat eine entscheidende Wende in meinem Leben ein. Nach Abschluß eines Vorbereitungslehrganges wurde ich durch meine Vorgesetzten in intensiven Gesprächen davon überzeugt, ein Abendstudium an der Ingenieurschule für Maschinenbau und Elektrotechnik zu beginnen. Das bedeutete für mich, fünf Jahre lang an vier Tagen der Woche von 16.30 bis 20.30 Uhr wieder zur Schule zu gehen.

Ich war damals ebenso wie meine Kollegen fest davon überzeugt, daß es keine bessere Gesellschaftsordnung als den Sozialismus gibt. Deshalb folgte ein für mich logischer Schritt: Im Jahre 1959 ging ich zu unserem Parteisekretär und bat um Aufnahme in die SED. Meinem Beispiel folgten kurz danach weitere 6 junge Kollegen.

Im März 1960 wurde ich zu meinem Betriebsleiter bestellt. Als ich erwartungsvoll seinen Büroraum betrat, saß er zurückgelehnt auf seinem Stuhl und lächelte mich väterlich an. Am Beratungstisch saßen erfahrene Meister aus unserem Betrieb. Wir nannten dieses Gremium den „Rat der Götter“. Und wenn er tagte, dann gab es was Besonderes. Mir schoß es durch den Kopf: „Was hast du mit deinen Kumpels nun wieder angestellt, daß du hier erscheinen mußt?“ Aber ich mußte nicht lange rätseln, der Betriebleiter kam gleich zur Sache. Er teilte mir mit, daß sämtliche Anwesende zu der Auffassung gekommen seien, mich ab 1.4.1960 als Meister in der Karusselldreherei einzusetzen. Während er diese Absicht mit schönen Worten begründete, stand ich ehrfurchtsvoll vor dem Gremium, knetete kräftig meine Mütze in beiden Händen und überlegte, wie ich dem Vorschlag am besten widerstehen könnte. Und dann platzte es einfach aus mir raus: „Da muß ich erst meine Frau fragen.“ Man gab mir Bedenkzeit, erwartete aber, daß ich nicht absagen würde. Ich dagegen legte mir einen Plan zurecht, um den Vorschlag nach Rücksprache mit meiner Frau abzulehnen. Denn ich sah keinen Grund, meinen Arbeitsplatz aufzugeben. Ich war ein angesehener Dreher mit speziellen Erfahrungen und konnte alle komplizierten Aufgaben lösen. Mein zweijähriges Abendstudium hatte mir schon viele Vorteile gebracht. Außerdem verdiente ich monatlich 200 bis 300 Mark netto mehr als ein Meister. Unser zweites Kind war inzwischen geboren. Und weil der Junge nicht krippenfähig war, hatte sich meine Frau für drei Jahre unbezahlt von ihrer Arbeit freistellen lassen. An Argumenten fehlte es mir also nicht. Aber wenn ich ehrlich bin: Ich hatte auch ein bißchen Angst vor dieser Aufgabe ...

Doch meine Frau entschied sich anders und sagte einfach: „Das machst du, irgendwie werden wir schon durchkommen. Jetzt darfst du nicht kneifen, denk an dein Studium, an deine Zukunft.“ Danach ging ich anderentags schweren Schrittes zu meinem Betriebsleiter und teilte ihm unseren gemeinsamen Entscheid mit. Er legte seine Hand auf meine Schulter, schaute mich zufrieden an und sagte: „Ich wußte, daß du mich nicht enttäuschen wirst.“

Um allen Gerüchten vorzubeugen, ging ich (mit leicht zitternden Knien und viel Respekt) zu meinen neuen Kollegen und teilte ihnen mit, daß ich ab 1.4.1960 ihr neuer Meister sein würde. Natürlich begleitete mich dabei mein Obermeister und begründete die Entscheidung der Betriebsleitung. Trotzdem wurde der Anfang meiner Meisterschaft schwierig. Die Stimmung war nicht gut. Kurz vorher hatten mehrere Kollegen das Kollektiv verlassen und sich nach dem Westen abgesetzt. Denn die Firma Krupp-Hattingen, die eine ähnliche Produktion durchführte wie wir, warb viele gute Facharbeiter von uns ab. Dazu kam, daß infolge der offenen Grenze damals besonders in Berlin ein großer Facharbeitermangel bestand. Viele gute Kräfte wohnten billig im Osten und arbeiteten im Westen. Ihren DM-Lohn tauschten sie im Verhältnis 1 : 5 in Mark der DDR um. Um die Produktion in den Ostberliner Betrieben unter diesen schwierigen Umständen aufrechtzuerhalten, delegierten wir zwei Kollegen nach Berlin Hinzu kam, daß junge Facharbeiter sich freiwillig zum Dienst in der NVA und der Volkspolizei meldeten. Als am 13.8.1961 die Grenzen geschlossen wurden, trat etwas Ruhe ein, obwohl wir einige Kampfgruppenmitglieder zur Sicherung der Staatsgrenze West abstellten. Doch das war alles erst später.

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VEB SKET Magdeburg. Die Meisterschaft Landa im Jahre 1962                                                     Quelle. Privatarchiv Landa

  Anfang 1960 hatten noch mehr als 40 Dreher in unserer Meisterschaft gearbeitet, während ich nun die Aufgaben mit 28 Kollegen bewältigen mußte. Es gelang mir, durch persönliche Aussprachen und die Aktivierung der Partei- und Gewerkschaftsarbeit allmählich ein gutes Vertrauensverhältnis zu schaffen. Vor allem bemühte ich mich, zuzuhören und zu verstehen, was die Kollegen bewegte. Nach umfangreichen organisatorischen Veränderungen und Rationalisierungsmaßnahmen begann die Produktion dann wieder zu steigen.

Durch den guten Ruf unserer Erzeugnisse hatte der Betrieb massenhaft Aufträge und Nachfragen. Seine Walzwerke, Kabel- und Verseilmaschinen, Zementanlagen, Brech- und Sortieranlagen, Mühlen und Zerkleinerungsanlagen waren überall gefragt. Wir wollten die Kunden aus über 40 Ländern der Welt nicht enttäuschen. Deshalb entschlossen wir uns im Meisterbereich nach vielen Streitgesprächen - auch nach Feierabend -, dem Beispiel der Berliner „Elektroköhler“ mit einem Produktionsaufgebot zu folgen. Unsere Losung war: „In der gleichen Zeit bei gleichem Lohn mehr produzieren“. Ziel dieser Initiative war auch, unsere Leistung wieder an die Löhne heranzuführen. In der Zeit der offenen Grenze hatte sich das Verhältnis negativ entwickelt. Wir wollten mithelfen, die Ökonomie unseres Betriebes in Ordnung zu bringen.

Jeder kann sich vorstellen, daß diese Aufgabe von unseren Kollegen nicht gleich mit Begeisterung aufgenommen wurde. Aber wir hatten gute Argumente und Beispiele vorzubringen. Die Wege, die wir vorschlugen, überzeugten sie. Unsere Hauptreserve war die Mehrmaschinenbedienung. Mit besserer Arbeitsorganisation und Rationalisierung sowie effektivster Nutzung der Arbeitszeit und anderen Maßnahmen, gelang uns mit Hilfe der Betriebsleitung der Durchbruch zur Mehrmaschinenbedienung. Die fortschrittlichsten Kollegen stellten sich an die Spitze, und nach den ersten Erfolgen begeisterte sich unser ganzes Kollektiv für die Aufgabe. Auch danach blieb die gute Arbeitsatmosphäre stets das Wichtigste. Schließlich konnten wir die Arbeitsproduktivität jährlich zwischen 30 und 40 Prozent steigern, gezielt die Löhne erhöhen und das Leistungsprinzip wieder voll zur Wirkung bringen.

Dabei kümmerten wir uns auch um die Sorgen der Kollegen, z. B. bei der Wohnungsbeschaffung oder Weiterbildung. Auch die Frauen unserer Kollegen profitierten davon. Durch Theaterbesuche oder Betriebsvergnügen, Wanderungen und Ausflüge wurden sie in unser Gemeinschaftsleben einbezogen. Arbeitskräftesorgen gab es in unserer Meisterschaft bald nicht mehr. Das war vor allem dem guten Arbeitsklima zu danken. Aber wir bildeten auch bis zu vier Lehrlinge jährlich selbst aus.

In meiner Erinnerung sind die sechziger und siebziger Jahre die erfolgreichsten in der Geschichte der DDR. Die Beschlüsse und Pläne waren realistisch. Das sozialistische Weltlager handelte nach meinem Eindruck weitgehend einheitlich und geschlossen. Die Stimmung der Werktätigen war optimistisch - eine wesentliche Grundlage unserer Erfolge.

Einen neuen Wendepunkt in meinem Leben brachte der VI. Parteitag der SED im Jahre 1963. Um die Bürger unseres Landes noch besser in die Leitung und Planung aller gesellschaftlichen Prozesse einzubeziehen, wurde u. a. vorgeschlagen, ein demokratisches Kontrollorgan zu bilden: die Arbeiter- und Bauerninspektion (ABI). Kurz danach wurde auch in unserem Betrieb eine Kommission der ABI gewählt. Die Arbeitskollektive, Gewerkschaftsgruppen und Parteigruppen hatten das Vorschlagsrecht. Mein Kollektiv schlug mich als Kandidaten vor, und in einer Vertrauensleutevollversammlung wurde mir das Vertrauen ausgesprochen. Nach der Wahl übernahm ich am 1.8.1963 die Aufgabe des Vorsitzenden der Betriebskommission der Arbeiter- und Bauerninspektion im VEB Ernst-Thälmann-Werk Magdeburg. Mein Nachfolger als Meister der Karusselldreherei wurde ein erfahrener Kollege unseres Kollektivs.

Sepp Landa 


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