vorhergehender Beitrag |
Wir waren mal eine prima Brigade
Nachdem ich zuvor in verschiedenen Betrieben und Einrichtungen außerhalb von Gera gearbeitet hatte, unterbrach ich meine Berufstätigkeit für fünf Jahre. Ich war damals 26 Jahre alt, verheiratet und Mutter von vier Kleinkindern: zwei Jungen und zwei Mädchen.
Als sie aus dem Gröbsten heraus waren, suchte ich mir eine neue berufliche Aufgabe. Da ich mich auch weiterhin ordnungsgemäß und liebevoll um meine Kinder kümmern wollte, kam höchstens eine Arbeit im Dreischichtsystem in Frage. Diese fand ich im Januar 1974 im VEB Kondensatorenwerk Gera/Thüringen (später VEB Elektronik, heute „Electronicom“). Meine Brigade trug den Namen des deutschen Antifaschisten Artur Becker, der im legendären Thälmann-Batallion der Internationalen Brigaden gegen die spanischen Franco-Faschisten gekämpft hatte und 1938 von ihnen ermordet worden war.
Ehrlicherweise muß ich eingestehen, daß ich meine neue Tätigkeit am liebsten nach einer Woche wieder aufgegeben hätte. Die Umstellung war enorm. Aber meine Kolleginnen trösteten mich und sagten: Man kann alles schaffen, wenn man sich Mühe gibt und nicht gleich die Flinte ins Korn wirft.
Da es bei uns Kollektivlohn gab, also jeder den gleichen Lohn bekam, wirkte sich jede schlechte Einzelleistung negativ bei allen Brigademitgliedern aus. Deshalb versuchte ich, so schnell als möglich sämtliche Arbeitsgänge zu erlernen. Es war kaum zu glauben, aber ich schaffte es innerhalb von vier Wochen - allerdings nur, weil mir alle dabei halfen.
In unserem Arbeitsbereich wurden u. a. Kondensatoren hergestellt, von denen 98 Prozent für das NSW (Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet) bestimmt waren. Wir arbeiteten insgesamt für 80 westliche Firmen, darunter Siemens, Bosch, AEG, SEL usw. Unsere Erzeugnisse wurden mit deren Logo gestempelt und von ihnen als ihre eigenen Produkte verkauft. Wir mußten so manche Sonderschicht einlegen, denn die Termine waren genauestens einzuhalten. Um eine gute Qualität zur Auslieferung zu bringen und die Mängelquote nicht zu überschreiten, arbeiteten wir erfolgreich mit sogenannten „Qualitätspässen“. Jede Woche wurde vor Arbeitsbeginn mit unserem Meister besprochen, was wir besser machen konnten, um Fehler zu vermeiden. Verflixt gut aufpassen mußten wir beim Beschaffenheitsprüfen, sonst kamen die Exportlieferungen wieder zurück. Der Stempel der jeweiligen Firmen mußte genau in der Mitte sein, es durfte kein Buchstabe und keine Zahl fehlen. Die einzelnen Sendungen beliefen sich zwischen zwanzig- und hunderttausend Kondensatoren.
Ich gehörte zu einer reinen Frauenbrigade, in der alle Altersgruppen vertreten waren, und selbstverständlich gab es da auch mal Auseinandersetzungen. Meistens ging es um die Einhaltung der „Bandpausen“ oder das unerlaubte Rauchen in den Toiletten. Unsere Lehrlinge mußten auch öfters zur Ordnung gerufen werden - wie halt die Jugend so ist.
Der Internationale Frauentag am 8. März war für uns alljährlich ein Höhepunkt. Jede Kollegin bekam von unserem Meister ein kleines Präsent. Danach wurden einige von uns für Verbesserungsvorschläge oder gute Arbeitsleistungen ausgezeichnet. Später beendeten wir die Schicht mit Kaffee und Kuchen. Aber das war nur der äußere Rahmen, denn wir schauten an diesem Ehrentag mit Genugtuung auf die friedliche Entwicklung unseres Landes, auf die weitgehend verwirklichte Gleichberechtigung der Frau und die sozialen Errungenschaften in der DDR, die auch wir mit unserer Arbeitsleistung ermöglichten.
Wir waren eine prima Brigade. Wenn eine Mutti wegen Erkrankung eines Kindes mal zu Hause bleiben mußte, machten wir anderen ihre Arbeit eben mit. War eine von uns länger als 14 Tage krank, überbrachte ihr eine Kollegin zusammen mit einem Blumenstrauß die herzlichsten Grüße und Genesungswünsche des Arbeitskollektivs. Leider gab es auch traurige Momente. So, als eine 49jährige Kollegin ganz plötzlich verstarb.
Jedoch das Leben ging weiter. Die
Auftragslage war gut, und es wurde rund um die Uhr gearbeitet. Nach acht Stunden
Automat fahren oder am Band montieren war mir manchmal ganz schön schwummerig
zumute, und oft schmerzte auch der Rücken. Aber ich hatte mich längst gut in
das Kollektiv eingefügt und an das Arbeitsleben gewöhnt. Es machte mir Freude.
Ich sah es ebenfalls als selbstverständlich an, mich gesellschaftlich zu betätigen
und übernahm Aufgaben innerhalb der Gesellschaft für Deutsch-sowjetische
Freundschaft (DSF) sowie im Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD).
Aber auch innerhalb der Brigade wurden besondere politische Ereignisse und gesellschaftliche Höhepunkte aufmerksam verfolgt, z. B. alljährlich im Mai die Internationale Friedensfahrt. Ich erinnere mich außerdem daran, wie stolz wir alle waren, als am 26. August 1978 die Nachricht um die Welt ging, daß sich der erste deutsche Kosmonaut im Weltall befand: Sigmund Jähn - ein Bürger der DDR! Aber wir sprachen natürlich auch über solche weltpolitische Ereignisse wie das Gipfeltreffen zwischen der UdSSR und den USA im Juni 1979, das zur Normalisierung der Beziehungen zwischen den beiden Weltmächten und zur Verhinderung eines Kernwaffenkrieges beitragen sollte. Denn wir alle sorgten uns um die Erhaltung des Friedens und das Leben unserer Kinder. Ich war davon überzeugt, daß ich mit meiner täglichen Arbeit einen Beitrag zur Stärkung der DDR und ihrer international anerkannten Friedenspolitik leistete.
So verging ein Jahr nach dem anderen in kollektivem Miteinander und gegenseitigem Vertrauen. Voller Stolz nahm unsere Brigade den Titel „Kollektiv der sozialistischen Arbeit“ entgegen.
Gemeinsamer Kosmosflug 1978. Die Fliegerkosmonauten Waleri Bykowski (UdSSR) und Sigmund Jähn (DDR) |
Später wurde ich auch als Einzelperson ausgezeichnet. Die damit verbundene Geldzuwendung kam mir gerade recht, denn der Urlaub stand an. Als Familie mit vier Kindern galten wir als kinderreich, und vom Betrieb gab es jedes Jahr einen FDGB-Ferienplatz für uns. Mein Mann verdiente zwar recht gut, aber ein Sechs-Personen-Haushalt kostete doch allerhand Geld. Nach dem 14tägigen gemeinsamen Familienurlaub fuhren die Kinder dann noch für drei Wochen gegen einen geringen Unkostenbeitrag ins Ferienlager. Ich wußte, daß sie dort gut betreut wurden und anschließend jedesmal von tollen Erlebnissen berichten konnten.
Heute bin ich 62 Jahre alt und frage mich manchmal: Wie hast du das alles nur geschafft? Zur Schichtarbeit gehen, vier Kinder großziehen, den ganzen Haushalt bewältigen, Wäsche waschen, Kochen und mich um die Hausaufgaben der Kinder kümmern ... Aber es ging alles gut. Die Kinder wurden groß, alle vier erreichten den 10-Klassen-Abschluß und erlernten vor 1990 einen ordentlichen Beruf.
Dann kam das Ende der DDR, meiner DDR. Voller Schrecken und Entsetzen denke ich noch jetzt an die Zeit ab Oktober 1989 und an das Jahr 1990. Auf einmal sollte alles, was wir geglaubt und geschaffen hatten, falsch gewesen sein? Nein, das konnte nicht stimmen! Ich erinnere mich an die vielen Gespräche und Diskussionen in unserer Brigade. Da ich und weitere Kolleginnen der Brigade in der SED waren, wurden wir von einzelnen auf einmal sogar als „Verbrecher“ beschimpft. Was war nur aus unseren Menschen geworden? Die meisten sahen nur noch das Westgeld und die Reisefreiheit.
Doch schon Mitte 1990 begann die erste Entlassungswelle, danach die nächste, und so ging es Schritt für Schritt weiter. Zum Schluß blieben von den fast 6.000 Beschäftigten unseres Betriebes nur noch rund 220 übrig.
Nun bin ich seit zwei Jahren Rentnerin. Meine Einstellung zu unserer DDR hat sich nicht geändert. Wir wollten ein menschenwürdiges Dasein für alle, gleiche Chancen, gute Schulbildung und Arbeit.
Als Mitglied der PDS verfolge ich immer noch sehr aufmerksam, was in diesem Land geschieht - aber leider nicht nur zum Wohle des Volkes.
Marianne
Böhme
vorhergehender Beitrag |