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Gelebter Wunschtraum und zerstörte Ideale

Auf diplomatischem Posten für die DDR

 

  In der Rückschau scheint es mir selbst wie ein Märchen. Daß es für „Nachgeborene“ fast unglaubhaft klingt, kann ich verstehen - und doch ist es genau so wahr wie die spätere Verzerrung der Ideale dieser Zeit durch eine im Dogma erstarrte und ihre Macht mißbrauchende Partei- und Staatsführung und der schließliche Zusammenbruch dessen, was einst so hoffnungsvoll begonnen hatte.

Die Jahre von 1962 bis 1968 waren die schönsten meines Lebens, sie waren wohl auch die hoffnungsvollsten unseres Staates. Die Mauer war gebaut, die Störungen von jenseits der Grenze minimiert, Staat und Wirtschaft gesichert. Ein Aufschwungsenthusiasmus wie im Gründungsjahr der DRR gab Mut und Kraft. Der Weg schien frei, das zu verwirklichen, wovon Generationen vor uns geträumt: ein Leben ohne Ausbeuter, ein Leben vor allem in Frieden und Freundschaft mit unseren Nachbarn, eine Welt ohne Kriege. Der Wunsch, daran mitzuwirken, hatte meine Berufswahl bestimmt und mich nach Studium und kleinem Umweg in das Außenministerium und schließlich nach zwei Jahren Anwartszeit in die Botschaft nach Budapest geführt.

Ohne Stolpersteine war auch dies nicht abgelaufen. Für den 25. August 1961 war meine Ausreise als Pressechef der Handelsvertretung der DDR in Bagdad geplant, wo wir wegen der Hallsteindoktrin der BRD de jure keine Botschaft haben durften, in der Praxis die Handelsvertretung aber alle Rechte einer Diplomatischen Vertretung besaß.

Die Koffer waren schon gepackt, da kam der 13. August; ich stand in Kampfgruppenuniform in der zweiten Reihe am Brandenburger Tor - und wenige Tage später vor dem Kaderchef des Außenministeriums. Der teilte mir kurz und bündig mit, mein Einsatz in Bagdad sei nicht mehr möglich, ein anderer würde fahren, über mich würde später entschieden.

Den wahren Grund erfuhr ich später: Mein bester Freund war im Frühjahr 1961 - für mich völlig überraschend - nach dem Westen geflüchtet und hatte mir, wie so viele andere vom schlechten Gewissen Geplagte, einen „Begründungsbrief“ geschrieben, in dem er - heute klingt es fast albern - behauptete, daß ja auch ich den Segnungen des Westens nicht widerstehen könne, weil ich ja in Westberlin Bananen kaufen würde. Das letztere zumindest stimmte: Für meinen damals ein paar Wochen alten Sohn, der als Achtmonatsgeburt fast ein Jahr in Lebensgefahr schwebte, hatte ich einige Male diese Früchte geholt, weil sie fast das einzige waren, was sein schwacher Organismus vertrug. Daß ich nicht darüber glücklich war, daß sie mir mein Staat nicht beschaffen konnte oder wollte, versteht sich genauso wie, daß ich immer noch Bananen von Gesellschaftssystemen unterscheiden konnte. Nun hatte ich den genannten Brief - weil es in diesem Hause Sitte war, auch weil er Ansatzpunkte für Erpressungsmöglichkeiten bot - pflichtgemäß der Obrigkeit gegeben, die meine Ehrlichkeit mit einem Einsatzstopp „belohnte“.

Ein Jahr später waren die Bedenken offenbar zumindest teilweise geschwunden, und mein neuer Einsatzort war Budapest im „sicheren“ Ungarn diesseits des „Eisernen Vorhangs“ ... Drei Jahre zuvor waren wir auf unserer Hochzeitsreise zum ersten Mal in diesem Land gewesen und hatten uns von der ersten Minute an wohlgefühlt. Nun also kam ich wieder mit meiner Frau und beiden Kindern in offizieller Funktion und einer Aufgabe, die mir auf den Leib geschrieben war.

Die Botschaft der DDR befand sich 1962 in einer kleinen Villa in der Bencur utca 26, einer ruhigen Nebenstraße der großen Prachtallee zum Heldenplatz. Das Haus war bescheiden, wir saßen dicht gedrängt bis in die Dachmansarden. Das war nicht sehr bequem, aber anheimelnd, kamen wir doch alle aus einfachsten Verhältnissen. Auch dieser äußere Umstand trug dazu bei, daß eine fast familiäre Atmosphäre herrschte, die technische Mitarbeiter und ungarische Angestellte ohne Unterschiede einschloß. Im Keller der Botschaft gab es eine Küche und einen kleinen Speiseraum, in dem wir uns alle gemeinsam mit Behagen an den Produkten unserer ungarischen Köchin labten und an Umfang und Gewicht mehr zulegten, als uns guttat.

Die neun Diplomaten waren, wie ich, zum größten Teil noch unter Dreißig, geprägt vom Geist der FDJ in ihren besten Jahren. Ein neues Land, ein besseres Deutschland wollten wir vertreten. Kameradschaft, gegenseitige Hilfe, auch noch etwas unbekümmerte Jugendhaftigkeit prägte unser Miteinander. Freundschaft wollten wir aufbauen zwischen unseren Ländern, Beziehungen entwickeln, die Menschen zueinanderbringen, über gegenseitiges Verstehen zum bewußten Miteinander führen. Das waren unsere Ideale, das war das Ziel unserer Arbeit. Karrieredenken und Klüngelfilz, der in späterer Zeit so unheilvoll noch wirken sollte, war uns vom Innersten her fremd.

Der Botschafter, Wilhelm Meißner, ein sozialistischer Grandseigneur der alten Schule, war verehrtes Vorbild und der souveränste Vorgesetzte, den ich je im Leben hatte. Seine langjährigen Erfahrungen als Persönlicher Mitarbeiter des ersten Ministerpräsidenten der DDR, Otto Grotewohl, sein enormes Fachwissen als ehemaliger Leiter der Grundsatzabteilung des Außenministeriums, seine auch in den Nazijahren unbeirrte politische Haltung und seine hochkultivierten Umgangsformen machten ihn zu einem hochgeachteten Mitglied des Diplomatischen Corps und einem bei ungarischen Führungsstellen hochgeschätzten Vertreter unseres Landes. Seine Mitarbeiter konnte er zu äußerstem Einsatz anspornen; Lob war selten, sein Tadeln war Schweigen. Er konnte streng sein und gütig und hatte dabei einen trockenen Humor. Als auf einem Empfang mit ungarischen Kulturschaffenden das Gespräch auf Meißner Porzellan kam, lobten die Ungarn in höchsten Tönen die Qualität der Produkte aus der Meißner Porzellanmanufaktur, wiesen aber resignierend auf die hohen Preise hin, die den Besitz der schönen Dinge mit den „Blauen Schwertern“ für die meisten in unerfüllbare Ferne rücke. Da bemerkte unser Botschafter ganz unvermittelt: „Bei mir zu Hause ist alles Meißner Porzellan!“ Einen Augenblick lang herrschte betretenes Schweigen. Solches Protzen paßte überhaupt nicht zu dem sonst so distinguierten Vertreter der DDR. Doch plötzlich lachten alle schallend los: Natürlich hatte er in seinen Schränken nur „Meißner“ Porzellan. Er hieß doch Meißner!

Meine ungarischen Partner in Presse, Funk und Fernsehen waren größtenteils so jung wie wir, kamen aus dem ungarischen Jugendverband, und wir sprachen von der ersten Minute an die gleiche Sprache, vor der die linguistischen Schwierigkeiten schmolzen. Schon nach kurzer Zeit bestimmte das genossenschaftliche „Du“ den Umgangston. Begegnungen in inoffizieller, ja privater Sphäre waren gang und gäbe und vom Botschafter wohlwollend gefördert. Verständnis für das Anliegen des anderen und das gemeinsame Ideal einer besseren Welt half, wenn - selten genug - einmal Probleme auszuräumen waren. Es war die Praxis der Zusammenarbeit über die Ländergrenzen hinweg, wie ich sie mir in meinen kühnsten Träumen gewünscht hatte. Alle waren mir hilfreiche Partner, viele habe ich bis heute in bester Erinnerung und einige sind persönliche Freunde geworden fürs ganze Leben.

Zumindest genauso erfreulich waren die Kontakte zu den Presseattachés der anderen sozialistischen Länder. War auch hier die gemeinsame sozialistische Grundüberzeugung die Basis, auf der sich unsere Zusammenarbeit entwickelte, so kamen in diesem Falle noch begünstigende Faktoren hinzu. Wir waren alle fast im gleichen Alter. Wir waren fast alle etwa zur selben Zeit nach Ungarn gekommen. Wir alle hatten Kinder im gleichen Alter, unsere Frauen kamen bestens miteinander aus, und wir sprachen alle miteinander ungarisch. Der Zufall (oder eine kluge Kaderpolitik) hatte es so gefügt: Der tschechoslowakische Kollege kam aus jenem Teil der Slowakei, wo viele Ungarn wohnen und hatte dort die Sprache schon gelernt. Der rumänische stammte aus dem ungarischen Grenzgebiet, der bulgarische hatte in Budapest studiert, der sowjetische im Studium Ungarn als Spezialfach gehabt. Und der polnische und der aus der DDR büffelten wie die Wilden, um in der Runde auch dann noch mithalten zu können, wenn es darauf ankam, nicht nur die Witze zu verstehen, sondern auch die Pointe.

Diese sicher nicht häufige Konstellation führte dazu, daß wir schon nach kurzer Zeit einander über alles, was wir über Ungarn wußten, informierten. Bald gingen wir dazu über, gemeinsam Themen aufzufinden, an denen alle unsere Länder (und unsere Botschaftschefs) interessiert waren. Und dann zogen wir los, und jeder stellte seinem besten ungarischen Partner die gleichen Fragen. Die Logik war ganz einfach: Sechs Mann erfahren mehr als einer. Das Ergebnis waren sehr fundierte Informationen, die unseren Ländern nützten und uns nicht schadeten, denn unseren Chefs erschienen wir als besonders talentierte Mitarbeiter. Im Laufe der Jahre steigerte sich das bis zur Groteske: Trafen sich die Botschafter der sozialistischen Länder zu ihrer monatlichen Runde, dann sagte einer: „Zum Thema A gibt es die und die Entwicklung“. Worauf die anderen weise nickten und sagten: „Das stimmt; wir haben die gleiche Information.“ Und nach manch solcher Sitzung gab’s dann noch ein Lob für den gut informierten Presseattaché. Für uns war das ein Riesenspaß, und der „Guten Sache“ hat es auch genützt.

Die gute Kenntnis der Landessprache war dazu freilich unabdingbar. Das Wichtigste erfuhr man nur im Vier-Augen-Gespräch, war ein Dolmetscher dabei, blieb alles offiziell. Doch für alle Arten von Kontakten war es wichtig, gut ungarisch zu sprechen, denn nicht immer löste sich ein sprachliches Dilemma so freundlich wie in der folgenden, selbst erlebten Episode. Auf einem Empfang dolmetschte ein junger Praktikant das Gespräch zwischen unserem Botschafter und einem ungarischen Minister. Alles lief glatt, man war in bester Laune, da erzählte der Ungar einen Witz. Satz für Satz wird übersetzt. Dann kommt die Pointe: Ein Wortspiel, das nur versteht, wer Ungarisch perfekt beherrscht. Der Praktikant versteht nur „Bahnhof“. Er fragt zurück. Der Minister wiederholt die Pointe. Und unser Mann versteht noch immer nicht. Schweiß tritt ihm auf die Stirn und er wagt- schon leicht verstört - ein zweites Mal zurückzufragen, versteht den Wortwitz aber wieder nicht. Da faßt er sich ein Herz und sagt ganz leis’ auf deutsch: „Genosse Botschafter, ich habe die Pointe zum dritten Male nicht verstanden; bitte lachen Sie doch mal.“ Und Wilhelm Meißner lacht auch schon lauthals los - über die jugendfreche Bitte unseres Praktikanten.

Nicht immer freilich war es lustig. Bei meiner Ankunft waren gerade sechs Jahre seit der Konterrevolution im Oktober 1956 vergangen. Die Schäden, vor allem die moralischen, waren noch auf Schritt und Tritt zu spüren. Viele meiner Partner hatten Freunde, Angehörige verloren oder waren selbst den Mördern nur knapp entkommen. Bittere Fragen und harte Diskussionen nach dem „Wie war das möglich?“ gingen bis tief in die Nacht und erfaßten auch uns. Daß so manche politischen Dummheiten der Rakosi-Clique, die Ungarn in diesen Schlamassel geführt hatten, 35 Jahre später unter anderen Umständen von der Parteiführung der SED wiederholt wurden - wer hätte das damals ahnen können.

Auch so hinterließen manche Gespräche einen bitteren Nachgeschmack. Doch unter Kadar faßte Ungarn wieder Fuß, es ging zügig voran, der Alptraum wurde zur Geschichte und von Monat zu Monat brachte die Wirtschaft bessere Ergebnisse, wurde das Leben der Menschen wieder leichter und schöner.

Eine immer enger werdende wirtschaftliche Kooperation mit der DDR, die zum großen Teil von den Mitarbeitern unserer Handelspolitischen Abteilung gesteuert wurde, zeigte sich auch auf den Straßen beider Länder. Der Trabi kam in immer größerer Stückzahl an den Donaustrand, die Ungarn zahlten mit Bauteilen des Kleinwagens und mit ihren in der DDR beliebten Ikarus-Bussen. Unsere Republik baute in Vac, 30 Kilometer nördlich von Budapest, das größte Zementwerk Ungarns. Der Plattensee wurde zum beliebtesten Urlaubsziel der DDR-Bürger - und unsere Konsularabteilung bekam immer mehr zu tun. Die Pläne für den Kulturaustausch wurden von Jahr zu Jahr reicher an Umfang und Inhalt. Das Kulturzentrum der DDR in Budapest nahm seine Arbeit auf und das ungarische in Berlin. Journalistenreisen hin und her, die Zusammenarbeit der Journalistenverbände beschäftigten die Botschaft und brachten dem Presseattaché manche hektische Stunde. In der kleinen Villa waren die gewachsenen Aufgaben beim besten Willen nicht mehr zu bewältigen. Unsere Repulik baute ein schönes, zweckmäßiges und zugleich repräsentatives Gebäude, das den hohen Stand der Beziehungen widerspiegelte und Budapest um einen architektonischen Akzent reicher machte. Jetzt residiert darin der Botschafter der Bundesrepublik. Viel höre ich von den Kosten der Deutschen Einheit. Nie habe ich gehört, was alles die Bundesrepublik an Werten von der DDR geerbt hat. Das schöne Haus in der Nepstadion Straße in Budapest gehört dazu.

In die Budapester Jahre fielen auch die Staatsbesuche Walter Ulbrichts in Ungarn und Janos Kadars in der DDR. Das gab Gelegenheit, die „Großen“ beider Länder einmal aus der Nähe zu besehen. Dem Presseattaché kam es zu, in frühester Stunde die neuesten Meldungen von zu Hause in einem Bulletin zusammenzufassen, es zu vervielfältigen, es noch vor dem Frühstück in die Residenz der DDR-Delegation zu bringen und den Mitgliedern zu übergeben. Wohnten sie im Regierungsgästehaus in den Budaer Bergen, war es gerade noch zu schaffen, wohnten sie während der Rundreise außerhalb, war es ein Wunder, wenn ich rechtzeitig ankam. Doch damals konnte ich scheinbar zaubern.

Was an Kraftanstrengung hinter den paar rechtzeitig überreichten Seiten stand, davon ahnten die Delegationsmitglieder wohl kaum etwas. Doch ihre Gesten und ihr „Danke schön“ beim täglichen Empfang des kleinen Bulletins waren aufschlußreich: Walter Ulbricht, ganz der große Staatsmann, gleich nach dem lieben Gott: höflich, sachlich, unnahbar; Erich Honecker, damals noch qicklebendig, fröhlich, immer in Bewegung; Gerald Gotting, der Vorsitzende der DDR-CDU, kühl, verschlossen, schweigsam; Prof. Homann, der Chef der NDPD, ein arrogantes Ekel; der Rest: unauffällig, sichtlich froh, beim „großen Boß“ dabei zu sein. Doch solche Begegnungen waren selten.

Die meiste Kraft kostete der Alltag. Meine Frau leitete die Botschaftsschule, trug die Hauptlast in Haushalt und Erziehung, und doch fanden wir beide noch Zeit, ein paarmal in der Woche mit ungarischen, deutschen oder internationalen Freunden zusammenzusein und unser Jungsein, die Schönheit des Landes und den Wohlgeschmack des Ungarweines zu genießen. Woher ich dann noch die Kraft genommen habe, bei all der Belastung meine Dissertation zu schreiben und zu verteidigen - es wird wohl das Hochgefühl des Lebens gewesen sein, auf der richtigen Seite zu stehen und einer guten Sache zu dienen.

Erste Zweifel kamen, als 1968 der „Prager Frühling“ versprach, die starre Nachahmung des sowjetischen Sozialismusmodells durch eine tiefgreifende Reform den demokratischen Traditionen der mitteleuropäischen Arbeiterparteien anzunähern. Das stieß auf den wütenden Widerstand der UdSSR, die die anderen sozialistischen Staaten mit massivem Druck dazu brachte, sich letztendlich an der militärischen Besetzung eines Bruderlandes zu beteiligen.

Das Gerangel hinter den Kulissen war ein Vorbote für den späteren Auseinanderfall des ganzen Systems. Eine Beratung der Regierungschefs und Außenminister jagte die andere. Die letzte vor der militärischen Intervention war in Cierna nad Tisou im Osten der Slowakei. Da die Thematik äußerst heikel war, unterlag die Nachrichtenübermittlung der höchsten Geheimhaltungsstufe. Sicher schien nur der Botschaftscode. Da die Budapester Botschaft viel näher am Geschehen war als die Prager, bekamen wir die Aufgabe, den Kontakt zwischen der DDR-Delegation in Cierna nad Tisou und der Regierung in Berlin zu sichern. Mehrere Male jagte ich damals mit versiegelter Kuriermappe und geplagtem Gewissen von der Donau an die Tisza. Das Pflichtgefühl gebot mir, so schnell und so sicher wie möglich die Informationen zu überbringen, die, das spürte ich von Tag zu Tag deutlicher, zu einer harten Reaktion der Bruderstaaten auf den „Prager Frühling“ führen würden. Im Hinterkopfe aber wuchsen täglich neue Zweifel, ob das, was ich da tue, noch dem entspricht, was ich mir als Lebensideal vorgenommen hatte.

Es blieb beim intellektuellen Skrupel, die Realität zwang mich zu ganz profanem Tun: Mit dem Einmarsch der Truppen des „Warschauer Vertrages“ in die Tschechoslowakei wurden alle Grenzen gesperrt. Zehntausende DDR-Bürger, die mit dem Auto in Ungarn, Rumänien und Bulgarien Urlaub machten, waren von der Heimat abgeschnitten. Alle wollten in Anbetracht der angespannten Lage so schnell wie möglich nach Hause, und fast alle kamen sie zur letzten erreichbaren Botschaft der DDR, zu unserer. Riesenschlangen stauten sich vor dem Gebäude; kaum einer hatte noch Geld, alle wollten Rat und Hilfe. Da mußte der Presseattaché, der ja für „Informationen“ zuständig war, mit der großen Flüstertüte, einem Uralt-Megaphon, vor der Schlange auf und ab spazieren und die frohe Botschaft des Trostes verkünden: Habt Geduld, liebe Landsleute, Ihr kommt alle nach Hause, Ihr bekommt heute noch Geld; wir tun alles, um eine Straße für Euch freizukriegen.

Nach zwei Tagen endlich war es soweit: Die ČSSR war nach wie vor gesperrt. Doch der Umweg über die Ukraine und Polen war frei - 1.000 Kilometer mehr. Aber die meisten nahmen es von der guten Seite. Endlich konnten sie einmal auf Straßen fahren, die sonst für „Normalverbraucher“ unzugänglich waren.

Diese dramatischen Tage waren zugleich meinen letzten in Ungarn. Nach sechs Jahren war ich zur Ablösung schon überreif.

 

Zwanzig Jahre später kam ich als Botschaftsrat, als „Zweiter Mann“, an unsere Vertretung im Königreich der Niederlande in Den Haag. Welch ein Unterschied zu meiner Zeit Budapest! Der Vergleich beider Botschaften machte mir deutlich, wie sehr sich die DDR in der Zwischenzeit verändert hatte. Schon zu Hause hatten sich immer unerfreulichere Entwicklungen vollzogen: Die Entfremdung der Parteiführung vom Volk wurde immer offenkundiger; das Parteileben formaler; das Parteilehrjahr, die monatlichen Schulungsabende der SED - einst eine hochinteressante, theoretische Kenntnisse vertiefende Veranstaltung - wurde zur Farce, zum Tummelplatz der „Sprücheklopfer“, deren hohle Phrasen deutlich machten, daß die Partei nicht mehr in der Lage war, die neuen Entwicklungen in Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur theoretisch zu bewältigen, geschweige denn zu gestalten. Die einst so hoffnungsvollen Ansätze zu einer lebendigen Demokratie waren völlig verdorrt, Städte und Gemeinden aller Möglichkeiten zur Gestaltung einer den örtlichen Bedürfnissen entsprechenden Kommunalpolitik beraubt. Eine geradezu aberwitzige Wirtschaftspolitik, die nicht nur die marxistischen Prinzipen außer Acht ließ, sondern sogar einfachste kaufmännische Verfahren, führte zur Stagnation; die Lücken zwischen der Wirtschaftsentwicklung im Osten und im Westen wurden immer deutlicher, Mängel und Versorgungslücken immer häufiger. Die Qualität der Produkte und Leistungen ließ spürbar nach - und mit das Schlimmste - in ihrem Gefolge auch das Engagement der Menschen, an ihrem Arbeitsplatz das Beste zu geben. Schlendrian wurde mit der Zeit zur bewußten Verweigerung. Ein allgemeines Unbehagen wuchs zusehends. Selbst der Republik eng verbundene Bürger wurden von dieser Entwicklung abgestoßen, versagten ihre Mitarbeit, zogen sich in die Nischen zurück. Viele hervorragende Künstler verließen das Land. Die Zahl der Parteiaustritte nahm erschreckend zu, ungeachtet der damit verbundenen meist sehr harten beruflichen und wirtschaftlichen Konsequenzen.

Auf all dies hatte die Partei- und Staatsführung nur die eine Antwort: Noch stärkere Bespitzelung durch die Staatssicherheit. Diese Organisation, einst geschaffen zum Schutze des Aufbaus unserer Republik, wandelte sich immer mehr zu einem Instrument der Bespitzelung der eigenen Bevölkerung. Das Mißtrauen wurde allgemein, vergiftete die Atmosphäre und trieb selbst die Gutwilligsten, wenn schon nicht in die Opposition, so doch in Distanz zu Partei und Republik.

Hatte zu Hause der Alltag mit seinen Pflichten die schleichende Erstarrung und Verkrustung, die wirtschaftliche und politische Degenerierung des Systems noch etwas verschleiert, weil sie unmerklich nach und nach erfolgte, so fiel sie mir bei der Ankunft in Den Haag im Vergleich der beiden Botschaften besonders kraß ins Auge.

Das Gebäude war, wie anfangs in Budapest, eine Villa in gepflegter Gegend. Aber was dort familiäre Atmosphäre schuf, glich hier eher einem Verließ. Sicherheitsmaßnahmen waren offenbar das Wichtigste. Selbstverständlich mußte sich die Vertretung eines sozialistischen Landes am Regierungssitz eines NATO-Mitgliedsstaates anders sichern, als dies in Budapest notwendig gewesen war. Doch der zu Hause um sich greifende Sicherheitswahn trieb hier die skurrilsten Blüten.

Fünf Türen mußte ich passieren, bevor ich in mein Arbeitszimmer kam. Drei davon reagierten elektronisch ohne mein Zutun. Die Benutzung einer Schreibmaschine für ein simples Pressetelegramm war streng verboten; der Klassenfeind hätte ja aus den elektrischen Impulsen mithören können, was seine eigenen Zeitungen am gleichen Tage publizierten. In Budapest wohnten wir, wie es sich ergab. In Den Haag hatte man für alle Mitarbeiter in drei Wohnblocks Wohnungen gemietet, die so gelegen waren, daß man sich gegenseitig in die Fenster sehen konnte. Was so manche mit Genuß auch taten - und dann Meldung machten, daß der und jener wieder einmal die Jalousien nicht herabgelassen habe. Spitzeleien jeder gegen jeden waren gang und gäbe. Ein Ausflug in das benachbarte Belgien war bei Strafe sofortiger Heimreise verboten. Und das, obwohl die Grenze in Flandern schon damals kaum erkennbar war. In manchen Grenzorten verlief sie mitten auf der Hauptstraße, mit gleichsprachigen Firmenschildern zu beiden Seiten. Zur gleichen Zeit organisierten die Gewerkschaftsgruppen der sowjetischen Botschaften in Holland und Frankreich, daß Mitarbeiter beider Vertretungen wechselseitig Paris und Amsterdam besuchten und in den Wohnungen ihrer Kollegen nächtigten. Als ich einen stellvertretenden Außenminister der DDR, den ich seit vielen Jahren recht gut kannte, nach den Gründen solch unsinniger Reisebeschränkungen für uns Botschaftsmitarbeiter fragte, brubbelte er etwas von mangelndem Versicherungsschutz für die Pkws im Ausland. Waren wir in Ungarn gehalten, möglichst viele Bürger des Landes auch privat kennenzulernen (und damit die guten und schwachen Seiten des Landes sowie seiner Regierung), so waren solche Kontakte in Den Haag verpönt. Selbst, als der internationale Diplomatenclub mir antrug, die Präsidentschaft für das nächste Jahr zu übernehmen, mußte ich absagen, weil es meine Obrigkeit so wollte. Wiederholt luden mich Botschaftsräte westlicher Länder zu Freizeitaktivitäten ein, wie sie im Diplomatischen Corps üblich waren. Jedesmal mußte ich sie mit einer Ausrede auf eine spätere Antwort vertrösten, jedesmal bekam ich auf die vorgeschriebene Erlaubnisanfrage vom „Sicherheitsmenschen“ unserer Botschaft ein Verbot. Begründung: Der Einladende sei (naturlich!) ein bekannter Agent des Geheimdienstes des jeweiligen Landes und habe die bösesten Absichten. Dabei waren nach meiner heutigen Kenntnis die meisten Mitarbeiter unserer Botschaft „Diener zweier Herren“, neben dem Außenministerium berichteten sie der Staatssicher heit oder dem Militärischen Abschirmdienst der DDR. Warum sollte es woanders anders sein? Das wußte man, und daran konnte man sich halten. Doch Kleinlichkeit, Engstirnigkeit in solchen Fragen waren einfach die Erscheinungsform einer Politik im Inneren, die erstarrt, verknöchert, lebensfremd und dogmatisch unser Land immer schneller in den Abgrund trieb.

Das Erschreckendste aber waren die Auswirkungen, die die dogmatische Politik der Parteiführung in Wesen und Charakter der Mitarbeiter selbst hervorgerufen hatte. Statt offenen, kameradschaftlichen Miteinander, statt einer Gemeinschaft, in der sich die freundschaftlichen Beziehungen vom Arbeitsplatz nahtlos auch im privaten Bereich fortsetzten und zu einem echten Gemeinschaftsgefühl führten, blieb hier jeder nach Dienstschluß möglichst für sich allein. Abkapselung, um möglichst wenig Ansatzpunkte für Kritik zu geben, war das Gebot. Aus Kampfgefährten, die die Welt verändern wollten, waren „Apparatschiks“ geworden, deren Hauptziel es zu sein schien, möglichst lange am Einsatzort zu bleiben, um so in den Genuß der in westlicher Währung gezahlten Auslandsentschädigung zu kommen. Die lag zwar selbst für meine Funktion unterhalb der einem holländischen Arbeitslosen gezahlten Unterstützung, war aber dennoch durch den Umrechnungskurs eine Pfründe, um derentwillen so mancher sogar seine Selbstachtung opferte. Für Karrieresucht und Intrigenspiel war schon das Außenministerium ein guter Nährboden geworden, seit für die Mitarbeiter in westlichen bzw. „östlichen“ Ländern unterschiedliche Besoldungsrichtlinien galten. Trotz gleicher Ausbildung und gleichem Werdegang. Die DDR hat so in ihrem späten Jahren schon vorweggenommen, was Bonner Bürokraten noch zehn Jahre nach der Wende als ihre heiligste Kuh betrachten: unterschiedliche Entlohnung - für Minister wie für Suppenköche - in Ost und West.

Die jungen Mitarbeiter waren ein völlig anderer Typ als zu Beginn der DDR. Krieg und Nachkrieg, Hunger und Mangel hatten sie nie kennengelernt. Und fremd war ihnen damit auch die daraus erwachsene Motivation, den Beruf des Diplomaten als gesellschaftsverändernde Aufgabe zu begreifen. Statt aufgeschlossener junger Menschen, die lachten, scherzten, Lieder sangen, waren sie zumeist verklemmte Streber, die keiner Intrige aus dem Wege gingen und das immer mehr ausufernde Kauderwelsch hauptamtlicher Parteifunktionäre perfekt beherrschten. Statt, wie noch zu Ulbrichts Zeiten, einfach zu sagen „Wir können nur verbrauchen, was wir vorher geschaffen haben“, hieß es jetzt in beinahe jedem zweiten Satz: „Die vom Generalsekretär des ZK der SED und Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker ausgearbeitete Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik gebietet uns ...“ Noch heute frage ich mich, wie ansonsten so kluge junge Leute derart verquast daherreden konnten.

Auch der DDR-Botschafter in Holland war dem von Budapest weltenfern und entzieht sich jedem Vergleich.

Die Atmosphäre in der Botschaft in Den Haag wurde von Jahr zu Jahr entmutigender. Doch selbst in diesem Kreise regte sich dumpfer Widerspruch, als bei einer Jahreshauptversammlung der Parteiorganisation von den aus Berlin herbeigeeilten Instrukteuren gefordert wurde, einen „persönlichen Brief“ an Erich Honecker zu schreiben. Diese kindische Liebedienerei auf dem Niveau zentralafrikanischer Häuptlingsrituale war allen zuwider - und alle fügten sich. Eine Weigerung hätte sofortige Rückkehr bedeutet und damit Karriereknick und Lohnverlust in Westdevisen. Doch diese und andere Gelegenheiten zeigten, daß bei vielen Mitarbeitern trotz zur Schau getragener „Prinzipientreue“ Unmut und Besorgnis über Inhalt und Stil der offiziellen Politik weitverbreitet waren.

Als Horst Sindermann, Politbüromitglied und Volkskammerpräsident, einmal in einer Parteiversammlung über die Einführung der Computertechnik in der DDR sprach und dabei die einfachsten Begriffe durcheinanderbrachte, wurde allen klar, daß er und offenbar die gesamte vergreiste Parteiführung nicht mehr in der Lage waren, überhaupt noch zu erkennen, worum es bei dieser gesellschaftsverändernden technischen Neuentwicklung ging. Zog man daraus Schlußfolgerungen, wie wohl die Partei- und Staatsführung unter solchen Umständen die künftige Politik gestalten würde, so konnte es einem nur kalt über den Rucken laufen.

Unter diesen Bedingungen wurde meine Arbeit immer schwieriger. Als Leiter der Politischen Abteilung, dem weitere Bereiche der Botschaft unterstellt waren, gab es immer wieder Situationen, in denen die Mitarbeiter spürten, daß hier einer war, der zwischen zwei Feuern stand: Auf der einen Seite sollte ich eine Politik vertreten und gegenüber meinen Mitarbeitern durchsetzen, die mir selbst fremd geworden war; auf der anderen Seite sah ich mich mit der Hochrüstungspolitik der NATO konfrontiert, die gerade zu dieser Zeit mit der Stationierung der Mittelstreckenraketen auch in beiden deutschen Staaten die Spannung zwischen den beiden Systemen bis an den Rand einer nuklearen Katastrophe getrieben hatte. Jeder Schritt zur Distanzierung von der dogmatischen Politik der SED-Führung hätte so zu einem Sympathiebeweis für die NATO-Politik mißdeutet werden können. So blieb ich vier Jahre auf meinem Posten - länger, als gut war.

Meine aus hundert Verhaltensweisen erkennbare innere Einstellung war selbstverständlich den für die politisch-ideologische Überwachung der Botschaftsmitarbeiter Zuständigen nicht unbemerkt geblieben. Eines Tages wurde ich unvermittelt davon in Kenntnis gesetzt, daß ich kurzfristig meinen Einsatz zu beenden hätte. Äußerlich verlief das in sehr freundlichen, umgänglichen Formen. Den Grund dafür erfuhr ich nach meiner Rückkehr. Man hatte befürchtet, ich könne „unüberlegt“ handeln, wenn mir bekannt gewesen wäre, was mir zu Hause blühte. Im Außenministerium teilte man mir kurz und bündig mit, in diesem Hause gäbe es für mich leider keine Planstelle mehr. Außerdem hatte ich auch an jeder anderen Arbeitsstelle alle Kontakte zu Ausländern zu unterlassen.

Mein Leben lang hatte ich danach gestrebt, der Welt - sprich: meinen ausländischen Freunden und Gesprächspartnern - zu beweisen, daß dieser neue deutsche Staat das sei, was er von sich behauptete: eine sozialistische Demokratie. Damit war es nun genauso vorbei wie bald darauf mit der von mir als Heimat empfundenen Deutschen Demokratischen Republik selbst, die von einer verantwortungslosen Partei- und Staatsführung immer näher an den Abgrund geführt wurde, in den sie dann auch zwei Jahre nach meiner Rückkehr aus Den Haag stürzte.

Bleibt die Frage: Und warum bist Du so lange auf Deinem Posten geblieben? Die Antwort ist einfach: Ein Weggang unter Vorwand wäre sinnlos gewesen; ein Weggang unter Protest hätte zum totalen beruflichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aus geführt. Der Weg in die Opposition wäre die logische Folge gewesen. Und die war - soweit erkennbar - eindeutig antisozialistisch und damit für mich nicht akzeptabel. Und in den Westen zu gehen, kam erst recht nicht in Frage. Einer wie ich muß in den Westen gegangen werden. Was zwei Jahre später dann ja auch geschah.

Was bleibt, sind die leuchtenden Jahre von Budapest. Der erlebte Traum einer glücklichen Zukunft, die irgendwann doch einmal kommen wird.

Dr. Franz Köhler

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