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Im Dschungel von Vietnam

 Unsere Herzen - und ich glaube, auch die eines erheblichen Teiles der DDR-Bevölkerung - waren schon auf der Seite dieses tapferen Volkes, als man Vietnam in den Atlanten noch „Französisch-Indochina“ nannte. Begeistert empfingen Hunderttausende Jugendliche unseres Landes und die Vertreter der Weltjugend während der III. Weltfestspiele in Berlin 1951 eine Abordnung junger Kämpfer der vietnamesischen Befreiungsbewegung und feierten Raymonde Dien, die unter Einsatz ihres Lebens einen für den schmutzigen „Indochinakrieg“ der französischen Kolonialherren bestimmten Munitionstransport gestoppt hatte. Henri Martin, ein anderer junger Franzose, verweigerte demonstrativ den Kriegsdienst und wurde dafür eingekerkert. „Henri Martin - Raymonde Dien ...“ - ich weiß nicht mehr, in welcher Sprache dieses Lied gesungen wurde, aber die Melodie kenne ich noch heute.

Dann 1954, endlich, das Ende der Kolonialherrschaft und Hoffnung für die überlebenden Menschen; obwohl mit dem Genfer Abkommen die Frontlinie des Kalten Krieges - nach Deutschland und Korea - durch ein weiteres Land gezogen wurde. Die gesellschaftliche Entwicklung in Nordvietnam konnte sich auf die Hilfe der sozialistischen Staaten stützen, während Südvietnam von den USA abhängig wurde. Große Teile der Bevölkerung wollten sich allerdings mit dieser künstlichen Teilung und der erneuten Vereinnahmung durch eine imperialistische Großmacht nicht abfinden, und bald begann im Süden Vietnams der vom Norden unterstützte bewaffnete Kampf um die Wiedervereinigung des Landes und die Beseitigung der US-amerikanischen Vorherrschaft.

Danach, im August 1964, die zunächst unfaßbare Meldung: Unter dem Vorwand, US-amerikanische Zerstörer seien im Golf von Tonking von nordvietnamesischen Torpedobooten angegriffen worden, setzte die amerikanische Luftwaffe zu mörderischen „Vergeltungsschlägen“ an.

Wahrscheinlich ging es damals vielen ähnlich wie meiner Frau und mir: Zunächst fühlten wir Schmerz und Zorn, fast ins Unerträgliche gesteigert durch das Gefühl der Ohnmacht, gegen diese neue Barbarei nichts tun zu können. Aber als danach auch in der DDR eine Solidaritätsbewegung bis dahin unbekannten Ausmaßes einsetzte, die jeden Betrieb, jede Verwaltung, jede Schule, Hochschule und vor allem die Jugend erfaßte, trugen wir nach Kräften dazu bei.

Quelle. Bildarchiv d. Mark. Allgem.

Solidaritätsbasar der Berliner Studenten auf dem Alexanderplatz 

Und es geschah, was die Welt überraschte und anfangs selbst wir nicht für möglich gehalten hatten: Dieses kleine Nordvietnam, in der Hauptsache noch von einfachen Reisbauern besiedelt, behauptete sich trotz mörderischer Vernichtungsschläge über Wochen, Monate und Jahr um Jahr gegen die führende imperialistische Weltmacht - und bereitete sich mit Unterstützung der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Staaten gleichzeitig auf die friedliche Zukunft des Landes vor.

Bald lernte auch ich einige der zahlreichen vietnamesischen Jugendlichen kennen, die in der DDR einen Beruf erlernten, arbeiteten oder studierten. Entgegen den Gruselmeldungen westlicher Medien, die jeden „Vietcong“ als Ausbund gefährlichster Heimtücke und Brutalität darstellten - vieles davon erinnerte fatal an die Goebbels-Propaganda vom „jüdisch-bolschewistischen Untermenschen“ - fand ich die Mentalität dieser jungen Ausländer sehr einnehmend. Zunächst wirkten sie etwas zurückhaltend, danach aber ungewöhnlich kontaktfreudig, fröhlich, bescheiden, begabt mit natürlichem Gemeinschaftssinn und argloser Freundlichkeit.

 

Die Solidaritätsaktion der DDR-Jugend im Jahre 1968 hatte es ermöglicht, eine große Schiffsladung wichtiger Gebrauchsgüter im Werte von 10 Millionen Mark nach Haiphong auf die Reise zu schicken. Im Rumpf des polnischen Frachters MS Kochanowski waren Medikamente, medizinische Geräte, Dieselmotoren und Aggregate, Ersatzteile, Textilien und anderes mehr verstaut.

Als in Berlin die Nachricht eintraf, daß unser Schiff im Hafen von Haiphong vor Anker gegangen war, begab sich eine Jugenddelegation auf den Weg nach Hanoi, um seine wertvolle Fracht dem vietnamesischen Volk zu übergeben. Ich war Oberstleutnant der Nationalen Volksarmee sowie Mitglied des Büros des Zentralrats der FDJ und wurde mit der Delegationsleitung beauftragt.

Unsere Reise in den Fernen Osten begann im Februar 1969 und führte uns zunächst per Flugzeug nach Moskau und Irkutsk, von dort aus mit der Bahn über Ulan Bator und Peking nach Hanoi und später auch in die Nähe des 17. Breitengrades, der Trennlinie zwischen Nord- und Südvietnam.

Unsere Route verlief durch die unterschiedlichsten Landschaften und Klimazonen - in Ulan Bator erwarteten uns Temperaturen um minus 40 Grad, in Vietnam, nahe des 17. Breitengrades, feuchtwarmer Dschungel. Sie ist touristisch sehr attraktiv, zu jener Zeit war sie allerdings auch riskant. Denn in China herrschte die „Kulturrevolution“, und die chinesisch-sowjetischen Beziehungen waren bis zum Äußersten gespannt. Meine Frau erinnert sich noch heute an ihren Schreck über einen kurz nach meiner Abreise gemeldeten schweren Zwischenfall am Grenzfluß Ussuri und ihre Unruhe, bis ich mich endlich nach mehr als einer Woche wohlbehalten aus Hanoi melden konnte.

Zwischenzeitlich hatte unsere Delegation einige durchaus interessante Erlebnisse, von denen in diesem kurzen Beitrag aber ebensowenig erzählt werden soll wie von der offiziellen Übergabe unserer 10-Millionen-Fracht an die Vertreter des vietnamesischen Jugendverbandes oder von den Treffen mit prominenten Vertretern der Partei der Werktätigen und der Regierung.

Wichtiger erscheint mir, von unserer Fahrt auf der legendären Nationalstraße Nr. 11 zu berichten, die uns weit in südliche Richtung bis 80 Kilometer vor den 17. Breitengrad führte. Denn diese wenigen Tage vermittelten uns nicht nur schockierende Einblicke in die barbarischen Methoden der US-amerikanischen Kriegführung, sondern vor allem unvergeßliche Eindrücke vom Widerstandswillen des vietnamesischen Volkes und seiner Jugend. Es war derselbe Menschenschlag, den wir schon aus der DDR kannten, natürlich und bescheiden - selbst dann noch, wenn das, wovon da berichtet wurde, manch großes Wort gerechtfertigt hätte.

Unser Besuch in Vietnam erfolgte während eines zeitweiligen, von US-Präsident Johnson am 31. Oktober 1968 verkündeten, amerikanischen Bombenstopps. Bis zu diesem Zeitpunkt waren nach dem Bericht des Pentagon 2,9 Millionen Tonnen Bomben über Vietnam abgeworfen worden - rund 900.000 Tonnen mehr, als die US-Luftwaffe während des gesamten Zweiten Weltkrieges eingesetzt hatte. Oder, umgerechnet: 146 Bomben des Hiroshimatyps. Eine unvorstellbare, ungeheuerliche Dimension! Und die Masse dieses verheerenden Vernichtungspotentials richtete sich als scheinbar „todsicherer“ Würgegriff gegen die Lebensadern des Landes, die beiden wichtigsten Verkehrsverbindungen zwischen den Provinzen: gegen die in Nordvietnam wenigstens 800 Kilometer lange Nationalstraße Nr. 1 mit ihren zahllosen Brücken und gegen die über weite Strecken parallel dazu verlaufende Eisenbahnlinie. Aber die militärischen und zivilen Transporte von Nord nach Süd und zurück von Süd nach Nord waren trotzdem nur stundenweise zum Erliegen gekommen.

Zuerst hatten die Amerikaner die Nervenzentren der Nationalstraße Nr. 1 zu lähmen versucht: die an ihr gelegenen Städte. Sooft sich das schmale Band unserer Fahrbahn scheinbar sinnlos durch Kurven zu schlängeln begann, passierten wir die imaginären Häuserzeilen ehemaliger Städte, von denen manchmal nur noch Brandflecke übriggeblieben waren. Unser Fahrer Quy nannte hin und wieder Namen: Phu Yen. Phu Ly. Ninh Binh. Vinh Linh....

Eine Waldwiese lag vor uns. Sie sah aus wie eine Mondlandschaft: Krater neben Krater, kein Grün, tot. Ausgebrannte Autowracks in den Bombentrichtern. „Hier haben wir viele Genossen verloren“, sagte das Mädchen Phuong, unsere Begleiterin. Sie war die Tochter von Reisbauern aus dem Dorf Nadelbäumewald.

Wir standen an der Ham-Rong-Brücke, die über den Song-Ma-Fluß führt. Jeder Stahlträger durchschlagen, jeder Pfeiler von Rissen durchzogen und jede Bohle schon x-mal ausgewechselt. Aber uns kam ein beladener LKW entgegen.

Länger als zwei Jahre hatten die Aggressoren auch jede der anderen zahllosen Brücken über Flüsse und Kanäle angegriffen und immer wieder zerstört. Doch die Transporte rollten weiter.

Dann zeigte uns Phuong drei seit Urzeiten mit Grün bewachsene Berge. Nun ragten sie kahl und zerklüftet gen Himmel, der „Berg der Perle“ war 50 Meter niedriger als zuvor. Die amerikanischen Piloten hatten die Bergflanken bombardiert, um Straße und Eisenbahn mit riesigen Schuttmassen zu blockieren. Es brachte sie ihrem Ziel nicht näher.

Unser Fahrer Quy machte uns unterwegs auf einige der berühmten vietnamesischen „Ersatzlösungen“ aufmerksam: Eine Brücke, 100 Meter flußauf, ist zerschlagen. Aber die von uns benutzte Bambus-Pontonbrücke ist nicht der einzige Ersatz: Ein Fußgängersteig, schmal wie ein Handtuch, geht in einiger Entfernung über den Strom. Zwei Dschunken liegen am Ufer... Auf der Weiterfahrt erzählt er von anderen „Brückenwundern“: von solchen, die am Tage unter Wasser verschwinden oder ans Ufer gezogen und getarnt werden, von Stahlseilen, über die Autos mit zusätzlich montierten Felgen fahren können ... Duc, der Fahrer eines völlig zerschossenen und trotzdem noch rollenden LKW lachte bei der Erinnerung daran, wie oft sie nachts die Amis gefoppt hatten. Da wurden Laternen wie die Lichter eines Konvois in die Bäume gehängt und bewußt schlecht getarnt. „Die Amis schmissen dann die ganze Nacht Bomben - dabei war unsere Straße hundert Meter weiter rechts.“

Irgendwann bog Quy plötzlich von der Straße ab, stieg aus, suchte - zog einen Benzinschlauch aus dem Busch und begann seelenruhig den leeren Tank des PKW zu füllen. Die USA hatten es auf die Zerstörung von Treibstofftanks und Tankstellen abgesehen. Aber die Benzinversorgung funktionierte dezentralisiert - durch Tausende von Fässern.

Die eigentliche Erklärung für das vietnamesische „Wunder“ fanden wir allerdings in den Gesprächen mit Phoung - und während unseres Meetings mit der Brigade 47.

  Quelle: Privatarchiv Münch

Meeting der Brigade 47 mit der FDJ-Delegation

600 Brigadistinnen, nur wenige Jungen. Das Dschungellager der Freiwilligen Stoßbrigaden, von Splittergräben durchzogen, schon weit im Süden, in der „vierten Zone“, die auch während des angeblichen Bombenstopps angegriffen wurde. Die Mädchen empfingen unsere Delegation mit ungeheurem Jubel. „Ihr kommt so weit her, das stärkt unseren Mut“, erklärte man uns. Vier Jahre harrten die Mädchen bereits freiwillig in ihrer Brigade 47 aus, die an vielen Brennpunkten zum Einsatz gekommen war.

Die zierliche Hoan erzählte uns von einer kleinen, aber wichtigen Kanalbrücke. Zwei Jahre war sie aus der Luft angegriffen und immer wieder zerstört worden, bei Tageslicht konnte dort niemand arbeiten. Aber die in dieser Zeit neugeschlagenen Pfeiler und Bohlen wurden von den Mädchen schon in der Dämmerung zur Brücke geschleppt, um sie in zwei Stunden zu reparieren. Denn danach mußten die Wagen wieder rollen. Einmal wurde die Brücke restlos zerstört: „Da legten wir Eisenbahnschienen als Träger über die schnell eingerammten Stützen - aber sie hielten nicht im Schlamm. Da sind wir in das Wasser gesprungen und haben die Schienen mit unseren Schultern gestützt. Als der Morgen graute, hatten uns die vielen Wagen mit ihrem Gewicht bis zum Gesicht ins Wasser gedrückt.“

Auch unsere Phuong war jahrelang Mitglied der Brigade 47 gewesen, bevor sie in das Provinzkomitee des Verbandes der Werktätigen Jugend geholt wurde. Sie berichtete davon, daß die Jugendlichen während ihrer knappen Freizeit lernten - manche auch für die spätere Ausbildung in einem sozialistischen Bruderland: „Aber sie griffen uns pausenlos an.... Einige Male sind wir beim Lernen von den Bombern überrascht worden. Mehrere Mädchen fielen. Wir begruben die Genossinnen, wie sie gefallen waren: mit dem Buch in den Händen.“ Wie oft sie die Brücke über den etwa 150 Meter breiten Fluß Song Chau wieder mit aufgebaut hatte, konnte sie nicht sagen. Aber sämtliche überlebende Mädchen ihrer Kompanie waren dabei verwundet, verschüttet oder vom Luftdruck ins Wasser geschleudert worden: „Mich haben Flaksoldaten aus dem Wasser gezogen, denn ich war bewußtlos. Vier Tage habe ich ohne Besinnung im Lazarett gelegen.“ Und danach? Sie hatte die Papiere von 20 Brigadistinnen bei sich gehabt, die zum Studium in die sozialistischen Bruderländer fahren sollten. Die aber waren futsch „... die Aufregung, bis wir wieder alles zusammenhatten!“

Le thi Chach, eine Zweiundzwanzigjährige, erzählte von der Geschichte eines neun Kilometer langen Kanals. Er mußte verbreitert werden, damit die von den amerikanischen Bomben abgesprengten Felsbrocken eines Berges zum Straßenbau transportiert werden konnten. Die Brigadistinnen hatten es in zwei Monaten geschafft: „Anfang war das leicht, aber als er übermannstief war, mußten wir zum Kanalgrund tauchen. Dort schoben wir den Schlamm in die Körbe und zogen sie mit Stricken ans Ufer. Es war die Zeit des Nordost-Passats, das Wasser hatte nur zehn oder zwölf Grad, und wir waren bald blaugefroren.“

Nach dem Bombardement der Bergflanken haben oft 40 oder 50 Mädchen an einem Stein gezerrt, um ihn von der Straße zu schieben. „Und noch schwerer war es, wenn wir nach solchen Angriffen die Gesteinsbrocken aus dem Kanal holen mußten. Einmal blieb uns nur übrig, den Kanal zu verlegen. Der Felsbrocken war zu groß“.

Anderenorts karrten Bergbauern die Gesteinstrümmer weg - um daraus eine neue Straße zu bauen.

Dieses in kurzer Zeit entstandene und aus der Luft oft unsichtbare Netz von Umgehungs- und Nebenstraßen der Tag und Nacht angegriffenen Nr. 1 war eine der wichtigsten Überlebensstrategien. Von Pham thi Chanh Can erfuhren wir die Geschichte einer solchen Straße. Can war dabei, als die Brigade eine 60 Kilometer lange Trasse durch den Dschungel schlug: „Am Abend bestanden unsere Hände nur aus offenen Wunden.“ Die Mädchen hatten es jedoch nicht nur mit einem Wald fast unzerstörbarer, riesiger Eisenholz(Mahagoni)bäume zu tun, sondern in der Regenzeit auch mit Scharen von Blutegeln, die aus dem dichten Blätterdach auf sie herunterfielen, und in der Trockenzeit wurden Tonnen von Bomben über ihnen abgeworfen. - Inzwischen rollten die Transporte bereits seit zwei Jahren über die neue Trasse.

Am Ende unseres Meetings begleitete uns die ganze Brigade auf einem Dschungelpfad zurück - dorthin, wo Quy mit dem Wagen wartete. Es war ein unvergeßlich herzlicher Abschied.

Aber am nächsten Tag sagten wir Phuong nur „Auf Wiedersehen“. Denn sie wollte ihr Abitur machen und studieren: in Leipzig - an der Hochschule für Körperkultur und Sport. Ich selbst habe sie zwar nicht wiedergesehen, aber falls sie den Krieg überlebt hat, wird sie dieses Ziel wohl erreicht haben.

Kurz vor unserer Rückreise besuchten wir das Hanoier Glaswerk. Die bereits von der Ausbildung in der DDR zurückgekehrten jungen Facharbeiter genossen im Betrieb einen guten Ruf. Phan duc Na begrüßte uns in deutscher Sprache. Er hatte fünf Jahre in Lauscha gelernt und gearbeitet, sein Kollege Nguyen duc Ba sieben Jahre in Weißwasser. Beide sahen in der DDR ihre zweite Heimat.

Günter Münch2


1 Nationalstraße Nr. 1 - von Hanoi bis Saigon 1 800 km lang

2 Unter Zuhilfenahme einer im März 1969 in der Tageszeitung „Junge Welt“ veröffentlichten Reportageserie unseres Delegationsmitgliedes Dieter Wende.


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