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Vom Nutzen einer Bestrafung und der Arbeit eines IM

 Irgendwann im Spätsommer 1955 läutete mein Diensttelefon: Bruno Leuschner, damals Kandidat des Politbüros und Vorsitzender der Staatlichen Plankommission, verlangte mit strenger Stimme, ich solle ihn mit „Genossen Franz Dahlem“ verbinden. Ich sagte ihm, Franz Dahlem sei hier nicht zu vermitteln, hier sei das Staatssekretariat für Hochschulwesen. Dann, meinte er, sei er doch richtig, denn Franz Dahlem sei Hauptabteilungsleiter im Staatssekretariat. Ob meiner Unkenntnis befremdet, legte er auf. Von diesem merkwürdigen Anruf erzählte ich meinem Chef, Staatssekretär Professor Gerhard Harig. Er war ahnungslos und wunderte sich. Wäre der Anrufer nicht zweifelsfrei Leuschner gewesen, hätten wir’s für einen sehr dummen Scherz gehalten. So erfuhr ich, als erster im Hause überhaupt und völlig erstaunt, vom Beschluß des Politbüros, Dahlem bei uns einzusetzen.

Einige Wochen darauf war Dahlem einfach leibhaftig da. Alle Genossen waren überrascht und neugierig. Dahlem wurde nicht, wie sonst üblich, „eingeführt“. Keiner hielt es für nötig, uns zu erklären, weshalb er, der doch wegen verdächtiger Kontakte mit dem USA-„Agenten“ Noël Field und wegen anderer Anschuldigungen („politische Blindheit“) mit Schande 1953 aus dem Politbüro und dem ZK ausgeschlossen worden war, bei uns eingesetzt wurde. Die Neugier war um so heftiger, als einige von uns sich an die frühere Wertschätzung für den legendären Politchef der Internationalen Brigaden in Spanien, für den „Alten von Mauthausen“ erinnerten.

Mit dem Begriff „Rehabilitierung“ hätte niemand von uns etwas anzufangen gewußt. Unvorstellbar schon seine Voraussetzung: eine falsche Anschuldigung. Keiner, vielleicht außer dem einzigen „alten“ Genossen unter uns (das war Gerhard Harig), konnte auf den Gedanken kommen, es hätte Fehlentscheidungen oder gar Schlimmeres gegeben, das nun korrigiert wurde. Erst später, mit dem XX. Parteitag der KPdSU, wurde der Begriff „Rehabilitierung“ Teil unseres politischen Wortschatzes.

Franz Dahlem wurde Leiter der Hauptabteilung Forschung (später Stellvertreter des Staatssekretärs für Hochschulwesen bzw. Stellvertretender Minister). Zu seinem Bereich gehörte die kaderpolitische Schlüsselabteilung „Wissenschaftliche Aspirantur“. Wie das? Bei einem „Parteischädling mit politischer Blindheit“?

Bald hatte ich meine erste Begegnung mit Franz Dahlem. Seine Sekretärin teilte mir mit, er wolle sich einen Überblick über Aufgaben und Probleme der einzelnen Abteilungen des Hauses verschaffen. Ich sollte ihm über die Auslandsbeziehungen vortragen.

Mit innerer Spannung und Neugier sah ich der Begegnung entgegen. Dahlem begrüßte mich freundlich. Er erkundigte sich nach meinem Alter. „Mit 26 schon eine sehr verantwortliche Funktion“, äußerte er ermutigend. Die Probleme unserer Auslandsbeziehungen interessierten ihn offenkundig sehr. Es handelte sich um die enormen Einschränkungen, welchen die internationalen Austauschbeziehungen der DDR-Wissenschaftler unterlagen. Sie bestanden z. T. in den Diskriminierungen, wie sie z. B. von Allied Travel Bureau in Westberlin, ohne dessen Reisepaß damals kein DDR-Bürger ins westliche Ausland reisen konnte, ausgingen. Zu einem nicht geringen anderen Teil waren sie „hausgemacht“ und entsprangen einem Komplex von Abwerbungsfurcht, kleinlicher Zuverlässigkeitseinschätzung und Mißtrauen.

Sehr restriktiv wirkte die Devisenarmut der DDR. Die von uns deshalb initiierten „Direktbeziehungen“ und „devisenloser Austausch“ stießen auf Vorbehalte. Einesteils bei uns - z. B. gegenüber solchen Beziehungen mit Polen -, anderenteils bei der Sowjetunion, wo sowohl Mißtrauen, als auch ein uns kaum faßbares bürokratisches System entgegenstanden.

Dahlem beschränkte sich aufs Fragen und äußerte kaum eine Meinung. Aber die Art seines Fragens ließ sofort Format erkennen. Ich verspürte, keiner unserer anderen Chefs konnte ihm das Wasser reichen - obwohl sie durchaus kein Mittelmaß waren. Außerdem: Franz Dahlems warmherzige und sich selbst öffnende Art erweckten spontan meine Sympathie - er glich anderen von mir verehrten alten Genossen.

Am Abend, zu Hause, las ich bis tief in die Nacht alle veröffentlichten Dokumente der Partei, die direkt oder indirekt Franz Dahlem betrafen.1 Ich erinnerte mich an schon früher von älteren Genossen gehörte Wertschätzungen für Franz, für seine Rolle in Spanien und im KZ Mauthausen. Zum ersten Male in meinem Parteileben brach eine heftige Dissonanz zwischen den offiziellen, in Beschlüsse gefaßten Erklärungen der Partei und eigenem Eindruck und Erleben auf. Nachdem in den nächsten Parteiversammlungen kein Wort der Erklärung über den Einsatz Dahlems gegeben wurde und er überdies einen brillanten Diskussionsbeitrag über eine damals aktuelle Frage der „großen Politik“ gehalten hatte, verstärkte sich dieser Mißklang noch mehr.

Nicht nur ich empfand es so. Die meisten Genossen äußerten Unverständnis und heftige Unzufriedenheit mit der Verfahrensweise. Lebhaft wurde diskutiert, aber nicht in den Parteiversammlungen, sondern „auf den Fluren“. Dieser nach meinem Empfinden ungesunde und der Partei nicht gemäße Zustand wurde mir unerträglich. Vor allem, weil die sich aufdrängenden Fragen zur Sache, also zu den schweren Anschuldigungen gegen Dahlem, ungeklärt schwelten.

Ich faßte mir ein Herz, ging zu Franz und sagte, ich würde ihm gern einige persönliche Fragen stellen. Vielleicht, meinte ich, sei es unhöflich, wenn ich als so junger Genosse solche Fragen hatte - aber ich suche nach Verständnis.

Wir diskutierten dann am Abend einige Stunden lang, später noch ein- oder zweimal. Ich erkundigte mich nach den konkreten Vorwürfen, also zum Komplex Noel Field, zur Einschätzung des Charakters des Krieges von 1939 und in diesem Zusammenhang zu seinem kritisierten Brief an den französischen Ministerpräsidenten Daladier (1939), zur Internierung der kommunistischen Emigranten und weshalb die Mitglieder des in Paris tätigen ZK-Sekretariats der KPD sich registrieren ließen, statt in die Illegalität zu gehen. Dahlems Antworten schienen mir plausibel. Sie öffneten mir einen Einblick in Zusammenhänge, von denen ich bisher nichts ahnte.

Noël Field war die Zentralfigur zur Begründung der Anschuldigungen gegen viele führende Kommunisten und Grundlage von Verurteilungen in der DDR (Merker, Sperling u. a., lange Haftstrafen und Parteistrafen), der ČSR (Slansky-Prozeß, Todesurteil!) und Ungarn (Rajk-Prozeß, Todesurteile!).2 Field habe, so die Behauptung, als USA-Agent unter dem Deckmantel solidarischer Hilfe für Antifaschisten in der Emigration (insbesondere in Frankreich und in der Schweiz) den Auftrag des amerikanischen Geheimdienstes gehabt, in die kommunistischen Parteien einzudringen. Franz Dahlem sagte mir wörtlich: „Field war unser Mann“, er sei Genosse und kein feindlicher Agent. Das habe man auch in Moskau gewußt.

Zur Registrierung der kommunistischen Emigranten in Frankreich und der (von ihm verantworteten) Registrierung der Mitglieder des ZK-Sekretariats im Pariser Stadion Colombes, sowie zu seinem umstrittenen Brief an Daladier erläuterte mir Franz, sie mußten im Kontext der Beurteilung des von den Nazis begonnenen Krieges und der Erwartung gesehen werden, die französische Regierung werde unter dem Druck der patriotischen und antifaschistischen Kräfte der faschistischen Aggressionspolitik offensiv antworten. Er habe damals in enger Abstimmung mit der französischen Partei, mit deren Generalsekretär Maurice Thorez gehandelt. Die führenden Genossen der französischen Partei seien mit der Befolgung ihrer Militär-Einberufungen einer analogen Erwartung gefolgt.

Nach der Befreiung aus dem KZ Mauthausen (bei Linz) sei er in einer Sondermaschine nach Moskau gebracht und dort von Georgi Dimitroff (damals Generalsekretär der Kommunistischen Internationale) empfangen worden. Dimitroff habe die seinerzeit von ihm und der Auslandsleitung der KPD in Paris getroffenen Entscheidungen zur Registrierung akzeptiert und ihr Verhalten gebilligt. Danach sei sein Name unter den bereits fertigen Gründungsaufruf der KPD gesetzt worden.

Franz Dahlem führte an, es seien Entwicklungen im Gange. Er habe an Nikita Chruschtschow und an Walter Ulbricht geschrieben. Er habe seine Rehabilitierung verlangt. Der für 1956 einberufene Parteitag der KPdSU werde Klarheit herbeiführen.

 

In mir entstand ein heftiger Konflikt. Viele Momente gingen in ihn ein:

-     das merkwürdige Verfahren, mit dem begründungslos ein zuvor mit großem Schimpf verstoßener, ehemals führender und angesehener Genosse bei uns „eingebaut“ wurde,

-     die eigene Anschauung der Persönlichkeit Franz Dahlems,

-     die Plausibilität seiner Antworten auf meine bohrenden Fragen,

-     und - dies war ein Hauptgrund - daß innerhalb unserer Parteiorganisation sich zwei Sphären bildeten: eine gleichsam offiziell vorgegebene mit stillschweigend eingehaltenen Tabus und die informelle. In der informellen Sphäre wurde halbwegs offen diskutiert - wenn man auch um manchen Genossen einen Bogen machte.

Eine schizophrene Situation - wie ich sie bisher in der Partei noch nie erlebt hatte.

Mein Konflikt nahm an Schärfe zu, als der XX. Parteitag der KPdSU mit einer unerwarteten und schockierenden Kritik an Stalin und vielen theoretischen Erkenntnissen neue Einsichten eröffnete und uns nötigte, buchstäblich viele unserer Dogmen kritisch zu bedenken und neu zu bewerten.

Wir begannen, Lenin neu zu entdecken. Auch wer nicht völlig vom Kult um den „Übervater“ Stalin in seinem Denken blockiert war, hatte dennoch viel verinnerlicht, insbesondere auch die Intoleranz gegen behauptete „Abweichler“.

Obwohl selbst vom politischen Kult um Stalin angesteckt, war mir nie in den Kopf gegangen, weshalb ein Mensch, der - wie Stalin - als Wissenschaftler bezeichnet wurde, ein für allemal das non plus ultra sein sollte.

Im Februar 1956, noch während des XX. Parteitages der KPdSU, fand bei Kurt Hager, damals Sekretär des ZK, eine Beratung hoher Parteifunktionäre aus dem Bereich Gesellschaftswissenschaft und Propaganda statt. Sie diente der Information und Selbstverständigung zu den in Moskau erörterten Fragen und der Orientierung. Daß ich, als „ganz junger Spund“ in diesen erlauchten Kreis geladen war, erklärt sich vielleicht mit meiner Funktion als Leiter der Auslandsabteilung im Staatssekretariat für Hochschulwesen.

Kurt Hager gab eine Einführung. Die Aussprache war sehr offen, ich blieb aber nur aufmerksamer Zuhörer. An Einzelheiten erinnere ich mich nicht mehr - außer an eine, die sich tief einprägte. Denn sie erhielt für mein weiteres Denken und mein Parteileben eine bis heute wirkende Schlüsselbedeutung. Kurt Hager äußerte sich über die Geschichtsschreibung. „Jetzt endlich, Genossen“, sagte er mit unüberhörbarer Genugtuung, „können wir die Wahrheit schreiben.“ Ich war elektrisiert. Meine Ohren wuchsen, die Sinne schärften sich. Bisher nämlich hatte ich (fast) unbeeinträchtigt und ziemlich naiv geglaubt, „wir“, also die Partei, würden die Wahrheit und nichts als die Wahrheit schreiben. Sicherlich immer nur eine Wahrheit der relativen Erkenntnis, aber nicht Tatsachen manipulierend und nicht mit „weißen Flecken“. Gewiß, politische Irrtümer, Fehleinschätzungen und Fehler sind immer möglich, in der Politik zumal. Das zuzugeben mag vielleicht peinlich sein - aber Geschichte ist auch ein Lernprozeß. Kritisches Lernen ist nicht ehrenrührig.

Plötzlich erschienen mir die Vorgänge um Dahlem und Paul Merker, Lex Ende, Willi Kreikemeyer und andere, sowie die Auskünfte, die ich von Franz Dahlem bekommen hatte, in einem anderen Licht. Kurt Hager sprach den zitierten Satz nicht trocken dahin. Nein, er klang mir wie ein tiefer Stoßseufzer der Befreiung und Erleichterung. Endlich also die Wahrheit, z. B., so Hager weiter, „über die hervorragende Rolle, die Radek und Sinowjew auf dem Vereinigungsparteitag von KPD und USPD in Halle spielten“ - das war 1920. „Hervorragende Rolle“ Karl Radeks und Grigorij Sinowjews? Beide waren für mich - nach dem „Kurzen Lehrgang der Geschichte der KPdSU(B)“ - der Inbegriff von Parteifeinden. Daß Radek und Sinowjew auf dem Halleschen Parteitag überhaupt eine Rolle gespielt hatten, geschweige denn eine hervorragende, war mir unbekannt. Keinen Schimmer hatte ich von der überragenden Bedeutung Karl Radeks für die revolutionäre Arbeiterbewegung in Deutschland und in Polen. Hager resümierte: „Geschichte ist so zu schreiben, wie sie tatsächlich war.“ Er erklärte zur neuen Norm, was mir eigentlich schon bisher als Selbstverständlichkeit erschien.

 

In späterer Zeit konnte ich mich der Kritik an Hager nicht entziehen. Etwa an seinem Satz in einem „stern“-Interview 1988, es sei nicht vonnöten, die DDR neu zu tapezieren, weil in der SU das Haus umgebaut werde. Dennoch bin ich ihm dankbar für diesen im Frühjahr 1956 vermittelten Anstoß: Geschichte ist zu schreiben, wie sie war - und wir müssen die Wahrheit schreiben, endlich.

Aufgewühlt ging ich von der Beratung im Februar 1956 nach Hause. Beim Nachdenken fügten sich Splitter von früheren Kenntnissen, deren wirkliche Bedeutung ich nicht erfaßt hatte, in ein neues, freilich noch sehr unscharfes Bild. Erst danach hörten wir in einer Parteiversammlung ein Resümee der Geheimrede Chruschtschows. Wohl alle Genossen waren erschüttert. Doch eine Diskussion darüber wurde nicht zugelassen. Wir hatten, so war es offenbar der Wille der Parteiführung, alles zur Kenntnis zu nehmen, basta. Noch Unklarheiten? Warum fragst du? Schon drohend: Willst Du eine Fehlerdiskussion?

Das Mißtrauen der Parteiführung, vielleicht richtiger: auch die Angst der führenden Genossen, unsere prinzipielle Haltung als Sozialisten könnte durch Debatten über die Enthüllungen erschüttert werden, war unbegründet und vor allem kurzsichtig. Auf die Dauer mußte es gerade umgekehrt wirken: Die bald einsetzende Tabuisierung und das Verlangen nach absolutem, nicht zu prüfenden Vertrauen in die Führung pflanzte und nährte den Keim des Vertrauensschwundes in sie. Die Führung verlangte unbedingtes Vertrauen - brachte aber selbst für die vielen vielen aufrechten Parteimitglieder und DDR-Bürger Vertrauen nicht auf. Sie billigte ihnen konkrete Kritik nicht oder nur bei besonderen Konstellationen zu. Mißtrauen bestimmte die Sorge um die innere Sicherheit und zerfraß - zusammen mit der verlogenen Schönfärberei - die Stabilität der DDR und die Loyalität ihrer Bürger.

Vom Moment des Hagerschen Stoßseufzers begegnete ich unserer offiziellen Geschichtsschreibung, besonders der Geschichtspropaganda mit Zweifeln und Vorbehalten. Dazu gab es Anlaß. Ich begann, die suggestiven Tabus wahrzunehmen. Z. B. auch an meinem eigenen schlechten Gewissen, daß ich im Besitz des Wortlauts der in der DDR nicht veröffentlichten Geheimrede Chruschtschows war. Sie war uns verlesen worden, weshalb eigentlich sollten wir sie nicht nachlesen können? Wieder eine Dissonanz.

Bei einem Mittagessen im Presseklub in der Friedrichstraße diskutierte ich mit Jürgen Kuczynski. ... Listig, wie JK nun einmal war, berief er sich auf Lenin: "Wir dürfen unsere Fehler nicht verheimlichen, weil der Feind das ausnutzen könnte. Wer das fürchtet, ist kein Revolutionär.“3

Bald nach dem XX. Parteitag der KPdSU erschien im „ND“ eine Rede (oder ein Artikel) Walter Ulbrichts, der mich und viele, vor allem jüngere Genossen äußerst empörte. Als ob die SED gar nicht berührt sei, als ob nicht aus seinem eigenen Munde höchste Lobpreisungen Stalins erfolgt wären, sagte Ulbricht leichthin, Stalin sei „kein Klassiker“. Ich empfand es als zynisch, daß er uns jungen Genossen vorhielt, unser Denken zeuge von erlernten dogmatischen Formeln. Wer hatte sie uns gelehrt? Wer hatte den Leninismus im Grunde auf Stalins Werke reduziert? Weshalb mußten wir Lenin - im Original - erst entdecken? Weshalb war behauptet worden, Lenins „Testament“4 sei eine Fälschung des Klassenfeindes und der Trotzkisten? Wiederum keine offene Diskussion „in“ der Partei, um so mehr in privaten Gesprächen der Genossen.

Das Maß war voll. Vom XX. Parteitag und der verkündeten „Rückkehr zu den Leninschen Normen“ (!) ermuntert, dachte ich, man müsse nicht abwarten, sondern selbst etwas tun, um die nicht parteigemäße Situation zu verändern. Meine Idee war mit einer Initiative von unten, die ja auch im Parteistatut zugelassen war, das Zentralkomitee als gewähltes Organ anzuregen, auch für unsere Partei konkrete Schlußfolgerungen für die Wiederherstellung der Leninschen Normen zu ziehen.

Zu diesem Zweck entwarf ich einen Brief an das ZK-Plenum. Er hatte zwei Teile. Teil I betraf die geforderte Rehabilitierung Franz Dahlems und die Forderung nach Offenlegung der Verantwortlichen für die falschen Beschuldigungen - also den weiten „Komplex Field und die Folgen“. Der zweite Teil des Briefes war durch einen Artikel des Genossen Guido Zamis angeregt, den er in der „Einheit“ über Jugoslawien veröffentlicht hatte. Begehrt wurde eine kritische Darstellung, wieso es zu der - inzwischen mit Chruschtschows Reise nach Belgrad öffentlich korrigierten - Verdammung Titos als „Faschist“ auch durch unsere Partei gekommen war. Gewiß führte auch eine Portion Naivität meine Feder: Ich bedachte nicht den Handlungsrahmen und die Zwänge, denen die SED-Führung möglicherweise ausgesetzt gewesen sein könnte.

Trotzdem - und dabei verharre ich bis heute - mußte nach der Verantwortung derer gefragt werden, die mit Eifer und wider besseres Wissen eigene bewährte Genossen nicht schlechthin wegen begangener Fehler kritisierten, sondern sie diffamierten, verleumdeten und moralisch abqualifizierten, sie im Stich ließen und dann so schäbig waren, sie nicht einmal voll zu rehabilitieren. Zu meinem Entwurf fühlte ich mich ermuntert, weil es im Staatssekretariat wohl kaum einen Genossen gegeben hatte, der nicht in „privaten“ Gesprächen ähnliche Überlegungen vorbrachte. Aber was sollte es, wenn wir nur im privaten Stübchen nachdenklich waren, nicht aber im Parteileben selbst? War dies nicht der Keim von Heuchelei? Denn war nicht ein Grundsatz der Parteimoral, „der Partei die Wahrheit zu sagen“? Wie konnte die Partei in der Systemauseinandersetzung kampffähig bleiben, wenn sie nicht imstande war, in sich die ethische Grundnorm der Aufrichtigkeit, der gegenseitigen Treue und Solidarität unter immerhin bewährten und gereiften Genossen zu bewahren?

Meinen Entwurf verteilte ich zur Erörterung in der nächsten Gruppenversammlung in mehreren Exemplaren an die Genossen der Gruppe. Dann sollte er der Mitgliederversammlung der Grundorganisation zu Beratung und Beschluß vorgelegt werden. ... Die Parteigruppe tagte, diskutierte und beschloß den Entwurf einstimmig. Halb zaghaft, halb ironisch hatte ein Genosse in der Art des sächsischen Königs bei Ausbruch der Revolution gefragt: „Ja, därfen wir denn das?“ Wahrscheinlich war er ein wenig besorgt, weil mein Entwurf durch die Aneinanderreihung vieler konkreter Fragen und deren „Adressierung“ sicherlich eine gewisse Aggressivität aufwies. Die Mehrheit war der Ansicht, wir dürften nicht nur, wir müßten. Der Brief wurde - etwa im April oder Mai 1956 - der Parteileitung übergeben. Später erfuhr ich, daß sie zweimal beraten hatte - ohne Beschluß über eine Vorlage an die Gesamtmitgliederversammlung. Auf Nachfragen erfolgten ausweichende Antworten. Allerdings wurde der Brief „informatorisch“ als Meinung unserer Parteigruppe dem ZK übermittelt. Der Sommer kam, die Urlaubszeit - und dann die Ereignisse in Ungarn.

 

Im Frühjahr 1958 fand die 35. Tagung des ZK der SED statt. Eine angebliche „Gruppe Schirdewan-Wollweber“ wurde als parteifeindliche Fraktion ausgemacht und eine Kampagne gegen jegliche kritische Forderung nach Schlußfolgerungen aus dem XX. Parteitag der KPdSU auch für die SED, insbesondere zur innerparteilichen Demokratie, eröffnet. Der von mir initiierte Brief an das Zentralkomitee war nur scheinbar erledigt - jetzt wurde er Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen.

Nun war ich doch nicht so wichtig, die Mühlen der Partei mahlten langsam. Erst im Sommer 1958 war es dann soweit. Auf Initiative der ZPKK wurde gegen mich ein Parteiverfahren wegen „Parteischädigung“ eröffnet. Es folgte eine Serie von Aussprachen in meiner Parteigruppe; zwei ZK-Mitarbeiter führten das Wort. Als Initiator des Briefes an das ZK war ich der eigentliche „Gegenstand“. Die Genossen meiner Gruppe wurden einigermaßen geschont und mußten sich mit der Kritik begnügen, infolge unzureichender Klassenwachsamkeit meiner Verführung zum Opfer gefallen zu sein. Beim Schreiben über diese Episode konsultierte ich einen Genossen, der seinerzeit die Kommission der Parteileitung für das Verfahren mit mir leitete. Wir waren uns einig über die Irrationalität dieser Art von politischen Auseinandersetzungen und, daß heute kaum noch vermittelbar ist, welche Atmosphäre, welche Psychose geschaffen wurde. Denn das schier Unfaßbare war, daß mehr oder weniger alle Beteiligten an den Unsinn von der Parteischädigung glaubten. Auch ich selber war davon angesteckt. Nach den heftigen, aber immerhin im Ton durchaus kameradschaftlich scheinenden Debatten, die sich freilich zu immer unmäßigeren Forderungen nach Selbstkritik steigerten, ging ich mit der selbstgestellten Frage nach Hause, ob ich nicht vielleicht ein „imperialistischer Agent“ sei. Ein Hauptvorwurf gegen mich war, ich besäße „kein Vertrauen in die Führung der Partei“, in ihre kollektive Weisheit. Das Faß brachte ich zum Überkochen, als ich zu sagen wagte, die kollektive Weisheit sei zumindest einige Male abwesend gewesen, z. B. bevor die Politik der Partei mit dem „Neuen Kurs“ 1953 grundlegend korrigiert werden mußte und in offenkundig vielen Fehlbewertungen: etwa vom „Klassiker“ Stalin bis zu Field. Ich sei bereit, Fehler einzuräumen, z. B. daß ich das „Gesicht vom Klassenfeind abgewendet“ und eine „Fehlerdiskussion“ gefordert hätte (so weich war ich geklopft). Aber ich sei nicht bereit, „den Kopf in den Fleischwolf zu stecken und selbst daran zu drehen.“ In der bald darauf stattfindenden Vollversammlung erhielt ich als Parteistrafe eine strenge Rüge. Danach wurde ich von der staatlichen Leitung aus dem Dienst entfernt. Während man die Jahre zuvor des Lobes voll war über meine Leistungen, wurde mir nun sogar eine Beurteilung verweigert.

Ich wurde aus dem Dienst entfernt und stand auf der Straße. Zur Bewährung sollte ich „an die Basis“, möglichst in die Produktion. Die Genossen der Staatssicherheit, mit denen ich in meiner dienstlichen Funktion gelegentlich zu tun hatte (Mitarbeiter war ich noch nicht), waren die einzigen, die sich kameradschaftlich besorgt über mein Schicksal zeigten. Von ihnen stammte die Idee, ob ich nicht in irgendeiner Landgemeinde Bürgermeister werden wollte. Das traute ich mir überhaupt nicht zu: Als Stadtkind hatte ich vom Lande keine Ahnung.

Für mich lag es nahe, nach Halle zu gehen. Die Stadt war gleichsam mein Hinterland. Bei meinen Eltern konnte ich wohnen. Also ging ich dort auf Arbeitssuche. In Berlin hatte ich gehört, die Partei werde mir bei der Suche nach einer Arbeitsstelle für die „Bewährung an der Basis“ helfen. Unverbindliche Worte. Ich bewarb mich im Bunawerk als Chemiearbeiter. Mit der wenig glaubhaften Begründung, eine andere Stelle sei nicht verfügbar, wurde mir angeboten, in der Karbidfabrik zu arbeiten. Wegen meines Asthmas war das aber unmöglich. Nach weiteren vergeblichen Bemühungen wandte ich mich an die Bezirksleitung der Partei. Sie schickte mich zur Universitätsparteileitung. Eines anderen „Unglück“ war mein Gluck. Tage zuvor war an den Universitätskliniken ein Verwaltungsleiter wegen moralischer Verfehlungen entlassen worden. Man suchte einen Nachfolger - und fand mich. Zufall.

August 1958. Der „Absturz“ war einesteils hart. Nicht nur wegen damit verbundenen schwierigen materiellen Folgen. Die konnte ich mit Hilfe meiner Eltern noch beherrschen. Sondern weil ich in der neuen Parteiorganisation zunächst nur mit großen Vorbehalten aufgenommen wurde - schließlich war ich ein parteischädigendes zweifelhaftes Subjekt.

Aber der Wechsel nach Halle hatte auch seine guten, auf die Dauer wichtigeren Seiten. Nicht nur, daß ich dort meine spätere Frau Barbara kennengelernt habe, damals noch Medizinstudentin. Der Basis-Kontakt hat mir außerordentlich gut getan. Obwohl noch ganz jung, war meine Entwicklung bis dahin, durchaus DDR-typisch, sehr schnell und steil verlaufen. Für die verantwortliche Funktion, die mir mit 22 Jahren übertragen worden war, wäre gewiß viel mehr natürlich gewachsene Lebenserfahrung und Weisheit nötig gewesen. Zwar hatte ich in meiner Berliner Funktion viel gelernt und viele Anregungen durch die Bekanntschaft mit prominenten Politikern, Wissenschaftlern und Künstlern aus sozialistischen und kapitalistischen Ländern aufnehmen können. Insoweit eine gute Zeit für mich und für die späteren Aufgaben. Aber in einer solchen „zentralen“ Funktion, wie ich sie hatte, konnte sich das Bild von den harten und widerspruchsvollen Realitäten des Alltags, vom Denken und den Interessen der Menschen schnell stilisieren. Groß die Gefahr, mit beiden Beinen fest auf der siebenten Wolke zu stehen. Jetzt konnte ich viel nachholen, „auftanken“ gewissermaßen. Der „Sturz“ war produktiv: Die politischen Probleme „vor Ort“ haben mich Realismus gelehrt. Ich erlebte die Verschiedenheit und den immanenten Widerspruch der Perspektiven „von oben“ und „von unten“. Vieles aus der Arbeit im Staatssekretariat erschien mir mit mangelndem Verständnis für die Basis und für die legitimen Interessen der Wissenschaftler und Studenten behaftet. Aus der Sicht der Basis entdeckte ich nun Unausgereiftes, Vereinfachungen, Irrtümer, auch Fehler unserer Arbeit. Anregungen taten sich auf. Und, dies ist nicht minder wichtig, ich konnte das Geschehen an der Basis mit der Zusammenschau, dem Problembewußtsein der „oberen Leitungsebene“ erfahren und bewerten. Bestehende Widersprüche erhielten z. T. eine Relativierung, z. T. eine Verschärfung. Ich lernte auch, daß man mit Widersprüchen leben muß und daß das Heil nicht einfach in ihrer Beseitigung liegen kann.

Meine weitere Entwicklung, so ich und andere sie positiv sehen mögen, habe ich diesem „produktiven Sturz“ zu verdanken. Vor vielen Irrtümern blieb ich bewahrt.

 

Die Kliniken und Institute der Medizinischen Fakultät waren drei Verwaltungsbereichen zugeordnet. Als Verwaltungsleiter bekam ich den aus Chirurgischer, Frauen- und Zahnklinik bestehenden Bereich übertragen, zusammen etwa 450 Betten. Dazu kamen die in jede Klinik integrierten Polikliniken für die ambulante Versorgung. Das Aufgabenfeld war ungewohnt. Vor allem betraf es die Verwaltung des Budgets dieser Kliniken, die Gehalts- und Lohnabrechnungen (Überstunden-Zuschlage usw.) und die Materialversorgung, d. h. die Einkäufe von Ausrüstungen und dergleichen. Die Finanzplanung mußte streng eingehalten werden. Mit zwei Ausnahmen: Diese Budgetüberschreitungen waren Regel und wurden stets hingenommen: Kosten für den klinischen Medikamentenbedarf und für die Zahlung der Zuschläge für Überstunden, Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit.

Näher lag mir eine andere Aufgabe. Der Verwaltungsleiter war eine Art Moderator und Streitschlichter bei allerlei Konflikten. Oft gingen sie von Störungen des Arbeitsklimas aus. Im zugespitzten Fall nahmen sie arbeitsrechtlichen Charakter an.

Schnell bemerkte ich, daß - nur wenig gebrochen durch jeweilige persönliche Eigenschaften der einzelnen Leitungspersonen - an allen Kliniken ein äußerst striktes autoritäres Regime herrschte. Es war in zwei Hierarchien gegliedert. An der Basis befanden sich die Reinigungskräfte, Stationshilfen und handwerklichen Kräfte sowie das mittlere medizinische Personal: Schwestern, Pfleger und medizinisch-technische Assistentinnen. An deren Spitze stand in jeder Klinik die Oberschwester. Sie war für den eigentlichen Pflegetrieb und weitgehend für die organisatorischen Abläufe verantwortlich. Daneben oder darüber die Hierarchie der Ärzteschaft. An deren Spitze die Oberärzte, der erste Oberarzt und der Klinikchef. In formeller Hinsicht herrschte das „Prinzip der Einzelleitung“ (unterschieden von kollektiver Leitung). Je höher die Stufe der Hierarchie, desto ausgeprägter der autoritäre Stil. Diese Verhältnisse erschienen mir, obwohl ich das Prinzip der Einzelleitung in solchen Einrichtungen für richtig und angemessen halte, ausgesprochen undemokratisch. Eine solche Erfahrung hatte ich bisher noch nicht gemacht. In meinen bisherigen Arbeitsstellen - als Lehrling an der Universität, in hauptamtlichen Funktionen im Kulturbund, als Mitarbeiter in der DDR-Regierung - hatte trotz aller disziplinierten Ordnung intern stets ein kollegiales demokratisches Klima geherrscht, natürlich verstärkt oder beeinträchtigt durch die jeweiligen subjektiven Eigenschaften der Chefs (und der Parteisekretäre). Das Klima war bestimmt von unserem Kollektivitätsverständnis, vom Geist gleicher Grundinteressen beseelt. Dieses neue gesellschaftliche Klima hätte sich ohne die neuen Eigentumsverhältnisse in der DDR nicht durchsetzen können.

In den fünfziger Jahren - im Staatssekretariat für Hochschulwesen jedenfalls - war offene und kritische Diskussion der Arbeitsprobleme üblich. Während das Weisungsrecht der staatlichen Leiter respektiert wurde, wurden der Minister oder der Staatssekretär in den Parteiversammlungen ohne Scheu kritisiert. Die Chefs waren alte bewährte Kommunisten, aber wir jungen Mitarbeiter der Aufbruchgeneration (Durchschnitt unter 30 Jahre) waren ihnen gegenüber ziemlich respektlos. Gegen das, was ich jetzt in den Kliniken kennenlernte, war selbst der autoritärste meiner bisherigen Chefs, Staatssekretär Dr. Wilhelm Girnus, ein Ausbund demokratischen und liberalen Habitus’.

In den Kliniken fiel mir auf, wie die jeweils „Unteren“ über das autoritäre Regime der Chefs stöhnten, indessen sie selbst nach oben oft devot, nach unten aber nicht weniger autoritär waren. Ein ärztlicher Gesprächspartner meinte zu meiner Beobachtung resigniert, wer nicht „als Hämorrhoide im Hintern seines Chefs sitzt, hat keine Aussicht, etwas zu werden“. Etwa um 1960 veröffentlichte der „Spiegel“ eine Titelgeschichte über die „Halbgötter in Weiß“. Mehrere Exemplare dieser Ausgabe waren an die Fakultät gelangt und machten heimlich die Runde. Sie sorgte im Rat der Fakultät für nervöse Aufregung, denn die im „Spiegel“ für Westdeutschland beschriebenen Verhältnisse glichen den hiesigen fast aufs Haar. Ausgenommen, daß in allen hiesigen Kliniken selbstverständlich Gewerkschaftsgruppen und Betriebsgewerkschaftsleitungen (BGL) bestanden. Mir ging damals flüchtig, leider ohne Nachhaltigkeit, die Frage durch den Kopf: Weshalb diese Geschichte eigentlich im „Spiegel“ - und nicht in einer DDR-Zeitschrift? Eine „Eulenspiegel“-Ausgabe brachte später eine Glosse über die auch in DDR-Kliniken zu findenden autoritären Bräuche - und wurde prompt wegen Verstoßes gegen die Intelligenzpohtik von der Parteiführung scharf gerügt. Ich glaube, diese Ausgabe wurde sogar eingezogen. Absurd.

Als Korrekturinstanz spielten die Parteigruppen der SED an den Kliniken keinerlei Rolle. Sie waren dafür viel zu schwach. Ähnlich gering war - in dieser Hinsicht - der Einfluß der Gewerkschaft. Die meisten Klinik- und Institutschefs an der Fakultät waren nicht Mitglied der SED und „parteimäßigem“ Einfluß völlig entrückt. SED-Mitgliedschaft war für einen Arzt oder Assistenten kaum karrierefördernd. Studenten, die ein Parteiabzeichen trugen, galten bei ihren Kommilitonen als besonders mutig. Daß meine Frau zu den Staatsexamensprüfungen am obligaten Kostüm das Parteiabzeichen trug, erschien ihren Kommilitonen als sehr waghalsig. Besser schien zu sein, vor den Prüfungen nicht aufzufallen.

Mit dem Aufrücken in der Hierarchie verstummte die Kritik der meisten Ärzte an autoritärer Leitung. Eigene Vorsätze, anders leiten zu wollen, schwanden mit der eigenen Karriere dahin. Aber es gab sehr beeindruckende Ausnahmen.

Die Gewerkschaft konnte kritische Positionen zu den Arbeitsbedingungen in den Kliniken nur deutlich machen und durchsetzen, wenn eindeutige Verletzungen des Arbeitsrechtes vorlagen. Daß Schwestern, Pfleger und Laborpersonal in der Gewerkschaft nicht nur Mitglieder waren, sondern sich z. T. sehr engagierten, war - zu jener Zeit noch - von den Oberschwestern zwar geduldet, aber nicht besonders gern gesehen. Vor allem dann nicht, wenn in den Gewerkschaftsgruppen Interessen artikuliert oder gar Kritiken laut wurden. Als unschickliche Kritik galt vielfach schon der bloße Vorschlag, diese und jene Neuerung einzuführen oder einen der alten Zöpfe wenigstens zu kürzen! Ich lernte, daß die autoritäre Abwehr von gutgemeinten und brauchbaren Vorschlagen, z. B. für die Regelung von Arbeitsabläufen und -Zeiten, welche verheirateten Schwestern und Patienten gleichermaßen zugute kamen, aber nicht einfach subjektiver Willkür entsprang.

In einer Mitgliederversammlung der Gewerkschaft in der Chirurgischen Klinik (1959) wurde einer der verborgenen Gründe offen ausgesprochen: Die Ober- und oft auch Stationsschwestern vermochten sich kaum auf die als Folge des Krieges völlig veränderte soziale Struktur des Personals sowie auf die neuen sozialen Bedingungen einzustellen. Die leitenden Schwestern waren - selbst meist ledig und kinderlos - noch stark vom früheren Berufsbild der Ordensschwestern mit religiös formuliertem Berufsethos geprägt. Ihr Leitungsstil war von den alten konfessionellen Schwesternhierarchien der Diakonissen-Dienste, bei denen die Schwestern ledig waren und in den Krankenhäusern wohnten, geprägt und übernommen. Was ihnen früher gewohnt war und richtig erschien, mußte es nicht auch heute noch richtig sein? Zwar mußten die Oberschwestern hinnehmen, daß die neuen sozialen Bedingungen nicht mehr zuließen, den verheirateten Schwestern mit säkularisierten Berufsauffassungen die früher traditionellen Selbstbeschränkungen abzuverlangen. Allein die Personalknappheit zwang sie dazu. Aber sie konnten sich kaum zu einem konstruktiven Umgang mit den neuen Bedingungen und mit den nunmehr starken arbeitsrechtlichen Positionen der Schwestern durchringen. „Viel leichter ist es“, meinte eine Diskussionsrednerin, die sich darum nicht gerade als Anhängerin der DDR sah, „Grotewohl oder Ulbricht zu kritisieren, als der Oberschwester einen Vorschlag zu machen“. Schon etwas grotesk, aber erhellend, daß die „männliche“ Interessenlage der Pfleger viel eher respektiert wurde!

Dennoch: Bei der Leitung der Pflegeprozesse vollbrachten die Oberschwestern ungeachtet ihres Konservatismus Respekt gebietende Leistungen. Ich zollte ihnen dafür meine Hochachtung. Trotz gelegentlich unvermeidlicher Differenzen gab es eine gute Zusammenarbeit - denn schließlich waren gut funktionierende klinische Abläufe ein gemeinsames alltägliches Ziel.

Die weltlich orientierten Schwestern arbeiteten mehrheitlich hingebungsvoll und führten - auch ohne die religiöse Motivation - nicht einfach einen „Job“ aus. Ihre Arbeit war psychisch und physisch schwer. Aber die Gehälter waren - gemessen an Verantwortung, Qualifikation und Belastung - relativ schlecht. Sie standen in einem sehr ungerechten Verhältnis zu den Löhnen von Facharbeitern der Industrie. Auch die Tarifstruktur war noch immer mit der Hypothek längst vergangener Verhältnisse des Pflegebetriebes belastet. Erst um 1960 wurde zwischen der Regierung und der Gewerkschaft Gesundheitswesen eine gerechtere, wenn auch noch nicht gänzlich gerechte Gehaltsordnung vereinbart.

Das Moderieren der angedeuteten Konflikte nahm einen erheblichen Teil meiner Zeit in Anspruch. Ich fühlte, daß mein Engagement und meine praktizierte Vorstellung von Kollegialität nicht bloß als meine persönliche Eigenschaft, sondern als Reflex der gesellschaftlichen Ordnung in der DDR positiv aufgenommen wurde - je weiter „unten“, desto mehr. Je weiter „oben“, desto ablehnender.

In der Chirurgischen Klinik wurde mein Verhältnis zur Oberschwester durch eine „exotische“ Besonderheit geprägt. Sie stammte aus Mannheim. Zum Erstaunen mancher Mithörer schwätzte mer, wenn ebbes zu bebabbeln war, im mannemer Idiom - so wie in meinem Elternhaus gesprochen wurde. Entweder einigten wir uns am Ende mit der Formel: „So mache mer’s, gell?“ - oder die Oberschwester Gustl lenkte mit den Worten ein „Mer werre halt sehe, ob’s a so geht.“ Nach ihrer Berentung kehrte sie nach Mannheim zurück. Zufällig bezog sie dort am Almenhof eine Wohnung neben dem Häus’le meines Onkels Franz. Bei einem späteren Besuch in Halle trafen wir uns. Sie erzählte in aller Offenheit, daß sie nach ihrer Eingliederung als Bundesbürgerin von einem Beamten des Verfassungsschutzes aufgesucht und sehr gründlich über die Verhältnisse in Halle ausgefragt wurde. Gezielte (!) Fragen hatten auch mir gegolten und sie habe „nur Gutes“ über mich berichtet. Sollte ich ihr nun wegen eines „Spitzeldienstes“ böse sein? Oder sollte ich heute darauf bestehen, mein auch auf solche Weise entstandenes Dossier beim bundesdeutschen Verfassungsschutz einzusehen? Neugierig wäre ich schon, aber das ist kein zureichender Grund. Es wäre ein wenig albern.

 

Etwas modifiziert und akademisch kultiviert, gab es in der Ärzteschaft ähnliche krankenhausinterne Probleme und Konflikte wie beim mittleren medizinischen Personal. Aber in meinen Diskussionen mit Ärzten standen andere mehr im Vordergrund - gesellschaftliche und solche mit dem Staat.

Zu dieser Zeit, in den Jahren vor dem „Mauerbau“, machte uns die sogenannte Republikflucht sehr zu schaffen. Sie war ein erstrangiges politisches Problem. Vom Weggang der Ärzte und hochqualifizierter Fachschwestern waren immer viele Menschen direkt oder mittelbar betroffen. Schließlich war die Arbeitsfähigkeit in den Kliniken betroffen. Aus heutiger Sicht muß ich freilich einfügen, daß das Wegrationalisieren von Personal durch die „Gesundheitsreformen“ der Bundes- und Landesregierungen weitaus extremere Einschnitte schafft, als je die Republikflucht medizinischen Personals in den Kliniken. Weil nicht alles vom inzwischen höheren technischen Niveau in Diagnostik, Therapie, auch der Pflegetechnik aufgefangen wird, ist das ein Verlust an unersetzbarer menschlicher Zuwendung. Diese ist jetzt zu einem marktwirtschaftlichen Kostenfaktor geworden. Sicher kann man sagen, die DDR habe auch hier - indem wie erwähnt der Finanzplan für Überstunden und Zuschläge immer überschritten werden konnte - „über ihre Verhältnisse“ gelebt (im Vergleich zur reichen Bundesrepublik). Aber hat solche Überschreitung ökonomischer Grenzen nicht auch ein sehr sympathisches Moment?

Weil ich mich als politischen Funktionär und nicht als Verwalter verstand, interessierte mich sofort, welche Ursachen und Bedingungen am Werke waren, wenn Ärzte „nach drüben“ gingen. „Abwerbung“ durch den Westen war mir eine zu vereinfachende Erklärung. In vielen Gesprächen mit Ärzten und Schwestern versuchte ich, den Dingen auf den Grund zu kommen. Obwohl meine politische Position bekannt war, spürte ich nur in seltenen Einzelfällen Reserviertheit. Typisch war vielmehr große Offenheit. Keiner nahm ein Blatt vor den Mund. Eigentlich grotesk, denn in der eigenen Hierarchie der Kliniken war vorauseilende Anpassung an die Chefmeinung vorherrschend.

Die Tagesarbeit ließ den Ärzten kaum Zeit für Debatten. Deshalb wurde ich oft zu Gesprächen während des nächtlichen Bereitschaftsdienstes eingeladen. Blieben akute Vorfälle aus, hatten wir nicht selten stundenlange Diskussionen. Gelegentlich mit Schärfe, immer mit gegenseitigem Respekt. Ich habe mich nie als bloßen Agitator verstanden, sondern immer als Lernenden, der dann auch bereit sein mußte, eigene Sichten zu differenzieren oder zu korrigieren. Die vielen nächtlichen Diskussionen waren für mich ein Gewinn. Meine Diskussionspartner redeten oder stritten mit mir auch nicht aus bloßer Diskussionsfreude. Sie erwarteten - für ihre Interessen - Wirkungen.

Gab es vom Westen „Abwerbung“? Dieser in der DDR etablierte Begriff suggerierte, es handle sich um gezielte westliche Absichten - sei es, um eine bestimmte Persönlichkeit für eine Aufgabe zu gewinnen, sei es, um sie bewußt der DDR „wegzunehmen“ und schädliche Wirkungen zu erzielen. Ich unterscheide zwei Aspekte: tatsächlich gezielte Werbungen und Sogwirkungen, die spontan wirkten und - je auf ihre Weise - von der BRD und der DDR politisch absichtsvoll begünstigt wurden.

Die gezielte Werbung um einzelne Persönlichkeiten war im deutschen Hochschulwesen traditionell ein normales Verfahren, besonders qualifizierte oder profilierte Persönlichkeiten für einen Lehrstuhl, ein Institut, eine Klinik usw. zu gewinnen. Berufungs- und „Bleibeverhandlungen“ sind in der Wissenschaft international üblicher Brauch. Diesen Aspekt nicht zu sehen und jegliche Werbung als vorsätzliche Schadenszufügung für die DDR mißzuverstehen, war schon ein provinzielles, jedenfalls ein engstirniges Element unserer Politik, jedenfalls vieler Funktionäre. Gewiß konnte objektiv für die DDR ein Verlust eintreten, vor allem, wenn wir - z. B. aus materiellen Gründen - keine erfolgsträchtigen „Bleibeverhandlungen“ führen konnten. Unsere Engstirnigkeit, das ist gerechterweise zu vermerken, war selbstverständlich auch ein Reflex auf die ökonomisch schwächere Lage der DDR, deren Startbedingungen bekanntlich viel schwieriger waren (Stichwort Reparationen). Und ihr „Großer Bruder“ konnte - anders als die USA für die BRD - nicht „Mäzen“ sein.

Hochqualifizierte Wissenschaftler und Ärzte (und Künstler) konnten nicht verstehen, daß wir die traditionellen Berufungsverfahren (und das darin steckende Prinzip der Freizügigkeit) immer mehr ablehnten. Anstatt Berufungen von DDR-Wissenschaftlern auch als ein Zeichen der Leistungsanerkennung auch der DDR-Gesellschaft zu verstehen, entstand ganz allmählich und oftmals gar nicht bewußt wahrgenommen (bis zu meinen neuen Halleschen „Lehrjahren“ auch von mir nicht), eine Disposition, solche hochqualifizierten Persönlichkeiten, wie die Staatsbürger überhaupt, gleichsam als eine Art Eigentum der DDR anzusehen. Das konnte natürlich bei den sich betroffen fühlenden Personen leicht zu einem Reflex der Beengtheit, vielleicht sogar zu „Erstickungsängsten“ führen.

Ohne jeden Zweifel gab es gezielte Personalabwerbungen zu dem eigentlichen Zweck, der DDR Ärger und Schaden zuzufügen. Von meinem Vater wußte ich, welche lukrativen Angebote sowie intrigantenhaften Anstrengungen sein „Heimat“-Konzern (BBC in Mannheim) unternommen hatte, um ihn und andere Ingenieure aus den im Osten bestehenden Konzernniederlassungen „abzuziehen“.

Unbezweifelbar bestand eine allgemeine magnetische Wirkung des Westens auf Teile der Intelligenz. Angesichts des Ost-West-Gefälles konnte es gar nicht anders sein. Infolge des Zusammenspiels einiger Faktoren unterlagen Ärzte vielleicht solcher Magnetwirkung besonders. Denn das sozialistische Gesundheitswesen5 in der DDR war patientenorientiert und - prinzipiell gesehen - nicht als Geschäft mit der Krankheit bzw. Gesundheit organisiert. Auch wenn für junge Ärzte im Kapitalismus die Begründung ihrer ärztlichen Existenz oft kein Zuckerschlecken ist, war es den Ärzten in der DDR kaum möglich, einen ihrem erfolgreichen westdeutschen Kollegen vergleichbaren Standard zu erwerben (beginnend mit der Wohnungssituation oder dem unkomplizierten Erwerb eines PKW). Deshalb besaß die reiche Bundesrepublik ein spontan wirkendes „Verführungs“-Potential. Ein Faktor war, daß der aus der DDR weggehende Mediziner mit Facharztausbildung, gar mit mehrjähriger Praxis in Universitätsklinken, in der BRD schnell auf relativ hohem Niveau von der Seite einsteigen konnte. Der politisch gewollten Förderung konnte er sicher sein. So blieb ihm der viel unangenehmere Weg des bundesdeutschen Jungarztes erspart. Die Sogwirkung aus dem Westen wurde zeitweilig besonders stark, als mit dem Aufbau der Bundeswehr für die militärmedizinischen Einrichtungen viele zusätzliche Ärzte benötigt wurden.

Das westliche Verführungspotential erstreckte sich nicht nur auf die Chancen, einen besseren privaten Lebensstandard als in der DDR zu erzielen. Seine Wirkung wurde durch eine Grundschwäche begünstigt, die das Gesundheitswesen der DDR nie überwinden konnte: den Spagat zwischen moderner patientenorientierter Gesundheitspolitik, der Organisation des Gesundheitswesens sowie der wissenschaftlich und nicht profitorientierten Pharmazeutik auf der einen Seite und der relativ zurückgebliebenen „materiell-technischen Basis“ auf der anderen.

Die DDR hatte auf ihrem Gebiet - von Zeiss in Jena und einem Röntgenwerk in Dresden abgesehen - fast keine hochqualifizierte medizintechnische und keine pharmazeutische Industrie „geerbt“. Medizin- und moderne Pflegetechnik mußten zu einem nicht geringen Teil von der notorisch devisenschwachen DDR importiert werden. Ähnliches galt für einige wichtige Erzeugnisse der Pharma-Industrie, ja selbst lange Zeit für die Lehrbücher der Studenten. Die Bausubstanz der Kliniken war überaltert. Das Hallesche Klinikum war im vergangenen Jahrhundert entstanden. Größen und Grundrisse waren nach den Diagnose-, Therapie- und den sozialen Pflegekonzepten des 19. Jahrhunderts konzipiert und für moderne Medizin, Krankenhausorganisation und -hygiene wenig effizient. Große Krankensäle herrschten vor. Die wenigen kleinen Zimmer waren früher den Privatpatienten vorbehalten. Umbauten nach modernen klinischen und sozialen Gesichtspunkten erforderten einen riesigen Aufwand - soweit die Grundrisse dies überhaupt ermöglichten. Die ökonomische Leistungskraft der DDR war überfordert - denn die Lage fast aller anderen Universitätskliniken, z. B. der Berliner Charité, war ähnlich. Was Wunder, daß die westlichen Arbeitsbedingungen für klinische Medizin und medizinische Forschung anziehend waren.

Die Pauschalerklärung „Abwerbung“ aber hinderte oder verhinderte eine sorgfältige und differenzierte Analyse sowie - vor allem - nötige Konsequenzen. Der Begriff „Abwerbung“ war undialektisch, oberflächlich und kontraproduktiv. Er hob sachlich begründete Interessen, Konfliktursachen und Grundprobleme auf eine fast ausschließlich ideologisch verstandene Ebene und urteilte nur moralisierend über die Weggegangenen. Vor allem aber blockierte er das Nachdenken über „unsere Seite“ und eine realistische Gegenkonzeption. Sie hatte - so wie die deutsche Welt nun real beschaffen war - wenigstens bestimmen müssen, wie wir versuchen könnten, der gegebenen Konkurrenz zu entgegnen. Dieses Problem wurde stets nur punktuell und meist kampagnehaft angegangen, ungelöst bis zum Ende der DDR mitgeschleppt sowie mit falsch adressierten Schuldzuweisungen - z. B. an den Gesundheitsminister Professor Mecklinger - vertuscht.

Trotz der gravierenden Mängel wußte die Mehrzahl der Ärzte um die Vorzüge des DDR-Gesundheitswesens, die sich aus der Befreiung vom Profitprinzip, aus der Befreiung von den Interessen der Pharmaindustrie und anderen Faktoren ergaben.

Die Konfliktträchtigkeit unserer Situation wurde mir eindrucksvoll klar, als ein nach dem Westen gegangener angesehener Arzt der Halleschen Universitätskliniken, Dr. P., einen privaten Besuch abstattete. In einem Gespräch deutete er mir an, er könne nur aus Prestigegründen seinen Schritt in den Westen nicht mehr korrigieren. Nach den Gründen seiner Nachdenklichkeit befragt, schilderte mir Dr. P. ein Erlebnis. Im Westen hatte er keine Forschungsstelle gefunden und sich deshalb mit finanzieller Hilfe von Verwandten in eigener Praxis niedergelassen. Wegen einer Diagnoseunterersuchung, für die er als Spezialist einen besonderen Ruf besaß, suchte ihn ein Privatpatient auf, ein zahlungskräftiger Top-Manager eines größeren Konzernbetriebes. Nach der halbstündigen Konsultation erkundigte sich der Patient, was Dr. P. liquidiere. Dieser nannte einen ihm schon hoch erscheinenden Betrag. Der Patient überreichte einen Scheck über ein Mehrfaches und erläuterte: Wenn Dr. P. seinen „guten Ruf behalten“ wolle, dürfe er sich nicht selbst durch ein so bescheidenes Honorar desavouieren.

 

Mit den genannten Momenten wirkte eine weitere Ursache zusammen. Sie zu nennen, gehört zur Wahrhaftigkeit des Berichts. In Halle sah ich bald, wie wir durch politische Dummheiten und Engstirnigkeit westliche Verlockungen begünstigten und Republikfluchten selbst provozierten. Zu meinem Erschrecken entdeckte ich den weitgehenden Verlust wirklicher, konkret gestalteter „Bündnispolitik mit der Intelligenz“. Statt dessen eine mir unglaubliche Sektiererei. Viele Parteifunktionäre und Kommunalpolitiker besaßen zwar guten Willen, aber keine Sensibilität und wenig Verständnis für die besonderen materiellen und geistigen Interessen der Ärzte (modifiziert gilt das gleichfalls für andere Teile der Intelligenz). Zu dieser Einschätzung kam ich keineswegs, weil ich eine besondere persönliche Sicht hatte. Nein, in meiner Sicht fühlte ich mich völlig konform mit der Intelligenzpolitik, wie ich sie aus meiner Kulturbundzeit kannte und wie sie uns vom ZK der SED für die Hochschulpolitik vorgegeben war.6 Das gab mir die Sicherheit, alsbald offensiv gegen die von mir gesehene Entstellung der Intelligenzpolitik an der Medizinischen Fakultät zu wirken. Dies, obwohl der dortige Parteisekretär unter Bezug auf meine Parteistrafe hinterrücks verbreitete, ich sei ein „Parteifeind“. Selbstverständlich fühlte ich mich keineswegs als solcher.

Ich schildere ein Beispiel. Es ist extrem, aber in seinem Wesen nicht untypisch. Der Vorgang hat mich damals auf das äußerste erregt und angeregt, in der Partei - und später mit Hilfe des MfS - gegen die bösartige und schädliche Sektiererei vorzugehen.

Wie es sich gehörte, stellte ich mich bei Aufnahme meiner Arbeit beim Sekretär der SED-Parteiorganisation an der Medizinischen Fakultät vor. Mein Eindruck - den ich insoweit auch nicht korrigieren muß - war, mit einem subjektiv bemühten und aufrichtigen Genossen zu sprechen. Doch bald darauf bemerkte ich, wie sehr er überfordert war. Die Überforderung erlaubte ihm nicht, sich engstirnigen Denkens zu entledigen. Deshalb gehörte er keinesfalls in diese Funktion.

Ich hatte mich bei ihm über die Lage in „meinen“ Kliniken erkundigt und von ihm eine Charakteristik leitender Ärzte erhalten. Sie erwies sich als völlig irrig. Dr. Karl-Ludwig Schober, damals noch erster Oberarzt der Chirurgischen Klinik, so hörte ich sei ein „ganz abweisender, ja reaktionärer Mann“. Zudem habe er „zahllose Frauengeschichten“. Über unmittelbare Arbeitsgegenstände hinaus sei mit ihm in kein Gespräch zu kommen. Erst auf Nachfrage ergänzend: Dr. Schober solle als Arzt „ganz gut“ sein. Nach einigen Wochen hatte ich mein erstes Gespräch mit Dr. Schober. Längst hatte ich gehört, mit welcher Hochachtung sein ärztliches Können bedacht wurde. Er war speziell für die Herz- und Thoraxchirurgie zuständig - und für die Kinderchirurgie. Aus der kinderchirurgischen Station hörte ich, wie er mit seinen kleinen Patienten verkehrte und welchen schon legendären Ruf er republikweit bei Kinderärzten und Eltern besaß. Die ganze DDR war sein Einzugsbereich - obschon es in allen Universitätskliniken und den meisten Bezirkskrankenhäusern eine gute Kinderchirurgie gab. Solcher Ruf war nicht mit irgendwelcher Medizinmann-Mystik zu erklären, schon gar nicht mit so etwas, wie dem Jet-set-Image gewisser westlicher Modeärzte. Ich war neugierig.

Dann war es soweit. Der Oberarzt - eine eindrucksvolle Erscheinung mit sehr sympathischer Ausstrahlung - bat mich zur Besprechung eines Beschaffungsproblems, nur kurz, er habe nur drei Minuten Zeit. Ich kam in sein Zimmer, begrüßte ihn und entdeckte an der Wand einen Picasso. Ich verweilte vor dem Blatt und erkundigte mich, ob er wirklich echt sei (tatsächlich!). Dann sprachen wir eine Weile über die Picasso-Zeichnung. In einer halben Minute war das Beschaffungsproblem gekärt. Nach meiner Bitte, ihm meine Eindrücke von der Klinik vortragen zu können und seine Meinung zu hören, verabredeten wir uns für den späten Nachmittag. Diesem ersten folgten andere interessante, anregende und für mich lehrreiche Gespräche über die Klinik, über Literatur, Kunst - und Politik. Welche Fehleinschätzung des Parteisekretärs, mit Dr. Schober könne man nicht reden! Politisch war er Pazifist - für einen Arzt doch eine sehr verständliche Haltung. Sein Habitus war ein ganz und gar demokratischer. Ein Anti-Typ zu den autoritären Klinikchefs. Wie begeistert erzählte er mir über einen Studienaufenthalt in Schweden und das demokratische Regime in den dortigen Kliniken. Dr. Schober war von einer außerordentlichen und gewinnenden Kultiviertheit, mit feiner intellektuellen Ironie und mit Warmherzigkeit verwoben. Und die Frauengeschichten? Ich habe wenige Menschen kennengelernt, die einen so gewinnenden natürlichen Charme besaßen, wie er. Und gut sah er aus: sportlich, braungebrannt und ein ihm genau stehendes Bärtchen. Die Geschichte seiner Patienten in den Klinikbetten war mir wichtiger als aus Spießerperspektive private Bettgeschichten erwähnenswert zu finden.

Dr. Schober war zwar nicht gerade ein Anhänger des Sozialismus, jedoch von kritischer Loyalität zur DDR. War das nicht schon viel? Wie hätte er ein Anhänger unseres Sozialismus sein können, angesichts des Ärgers und der Verletzungen, die wir ihm bereitet hatten! Darüber hörte ich: Die Universität hatte - wie jährlich - einen „Tag der offenen Tür“ veranstaltet. Die Bürger der Stadt konnten Institute und Kliniken besuchen, in populärwissenschaftlichen Vorlesungen von deren Chefs und Mitarbeitern über die Forschungen hören, Experimente ansehen und Fragen stellen. Eine schöne und von den Bürgern lebhaft genutzte demokratische Form der Verbindung von Universität, Stadt und Bürgern. Dr. Schober berichtete in einer solchen Veranstaltung über die Entwicklung der „großen Herzchirurgie“, d. h. über die Möglichkeiten, mittels einer Herz-Lungen-Maschine Operationen am offenen Herzen ausführen zu können. So ließen sich die therapeutischen Möglichkeiten sehr ausweiten. Schobers Vortrag vermittelte einen Blick auf die damals erst am Anfang stehende Entwicklung. Welcher Schock für ihn und seine Kollegen im Hörsaal, als in dieser Veranstaltung der damalige Parteisekretär der Universitätskliniken auftrat und dem Oberarzt vorwarf, er habe frevelhaft verschwiegen, welches Land der Welt in der großen Herzchirurgie führend sei, nämlich die Sowjetunion. Für den Parteisekretär war der Eklat gegeben, als Schober sachlich darauf verwies, wie gut er die sowjetische Herzchirurgie kenne, daß er - aus Zeiten der Kriegsgefangenschaft der russischen Sprache mächtig - die sowjetische Fachliteratur lese und auch wisse, daß die beiden Herz-Lungen-Maschinen in der Sowjetunion aus den USA stammten. Dr. Schober erzählte mir, wie schwer es ihm gefallen sei, die Beherrschung zu behalten und nicht kurzschlüssig zu handeln. Aber er könne seine Kollegen nicht verurteilen, wenn sie wegen dieses rüden Parteisekretärs vorgezogen hatten, in den Westen zu übersiedeln. „Ich liebe meine Arbeit - hier, wo ich bin, aber Sie machen es mir sehr schwer!“

Solche Offenherzigkeit konnte ich nicht bloß nur zur Kenntnis nehmen und sie dann auf sich beruhen lassen. In wenigen Wochen wurde mir klar, daß Schobers Probleme mit uns nicht eine zufällige Einzelheit waren. Eine Auseinandersetzung mit der Parteileitung wurde unvermeidlich. Verbal fand ich die Zustimmung der Mehrheit der Leitungsmitglieder, aber es änderte sich nichts. Die Leitung war - auch in ihrer Zusammensetzung - zu einer offensiven Kurskorrektur, ja überhaupt zu eigener Politik nicht fähig. Sie wurstelte. Meine Kraft - noch galt ich ja als eine Art Parteifeind -reichte nicht aus.

In dieser Situation öffnete sich ein anderer Weg. Die Chirurgische Klinik erhielt eine aus Schweden importierte Künstliche Niere, die zweite in der DDR. Was heute längst alltägliche Routine ist, war damals ein herausragendes medizinisches Ereignis. Die Urologische Station der Klinik wurde für „die Niere“ umgebaut. Im alten Klinikbau aus den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts entstand ein Schmuckstück. Der Ruf des medizinischen Ereignisses verbreitete sich - auch hin zur Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Sie hatte einen Beauftragten für die Medizinische Fakultät. Er war bekannt und bewegte sich im Klinikum keineswegs konspirativ. So hatte auch ich Genossen Trautsch kennengelernt, der mich im Büro mit der Frage aufsuchte, ob ich vermitteln könne, daß sich Fritz Reich, der stellvertretende Chef der Halleschen Bezirksverwaltung des MfS, die neue Einrichtung einmal ansehen könne. Einige Tage später empfing der Klinikchef, Professor Mörl, den Staatssicherheitschef und machte ihn mit dem zuständigen Oberarzt Professor Rockstroh bekannt. Nicht ohne Stolz erläuterte dieser an Ort und Stelle die neue Errungenschaft der Klinik. Nach der Besichtigung begleitete ich Fritz Reich zum Ausgang. Vom Gesehenen beeindruckt, erkundigte er sich bei mir erstaunt, wieso - angesichts solcher Modernität - viele Ärzte unzufrieden seien und die DDR verließen. Ich sagte meinem Genossen, er habe eine falsche Vorstellung. An den Kliniken werde zwar gut gearbeitet, aber das Gesehene sei keineswegs typisch für das Niveau der Einrichtung. Hinsichtlich der materiellen Arbeits- und der persönlichen Lebensbedingungen der Ärzte liege vieles im argen. Sektiererei tue das ihre, um Verärgerungen anzuhäufen. Fritz Reich meinte, diese Sicht auf die Lage sei ihm neu. Auch mir, erwiderte ich ihm, sei vieles „neu“ erschienen, als ich mit dem aus der Berliner Perspektive stilisierten Bild von der Wirklichkeit hierhergekommen sei. Die Republikflucht von Ärzten könne nicht grob vereinfachend mit „feindlicher Einwirkung“ und Abwerbung erklärt werden. Zuerst müsse untersucht werden, welche von uns selbst zu verantwortenden Bedingungen solche Verluste begünstigten.

Reich reagierte mit einer Mischung von mürrischer Skepsis, Staunen und Interesse. Davon gereizt, bot ich an, ihm das ausführlich auseinanderzusetzen. Wir verabredeten uns für den Abend in einem Café. Dort diskutierten wir bis spät in die Nacht. Wir hatten „Antennen“ füreinander und waren uns sympathisch. Früher hatte ich nur funktionsbedingte dienstliche Beziehungen zu den Vertretern des MfS gehabt. So begann jetzt meine „inoffizielle“ Zusammenarbeit mit dem MfS. Für mich war sie nie etwas anderes als eine Form politischer Tätigkeit. Meine politischen bzw. gesellschaftspolitischen Vorstellungen ergaben mein eigenes Programm, das galt auch für meine Zusammenarbeit mit dem MfS. Deshalb hatte es für mich eine ausgesprochen sekundäre Bedeutung, daß sie mit einer Verpflichtungserklärung und Belehrung über Verschwiegenheitspflicht verbunden war. In meiner „offenen“ politischen Arbeit sprach ich Klartext. Jeder kannte meine Ansichten, ich habe sie immer offen vertreten. In der Zusammenarbeit mit dem MfS gab es nichts anderes. Allerdings erschien mir, wie ich es gleich beispielhaft schildern werde, diese Zusammenarbeit eine zusätzliche Möglichkeit zu geben, gegen die Dummheiten unserer praktischen Politik (so, wie ich sie sah) Verbündete zu gewinnen.

Solange ich an den Kliniken war, traf ich mit Fritz Reich relativ oft zusammen, vielleicht einmal im Monat, später dann seltener. Er war ein großartiger Mensch: warmherzig, undogmatisch, sehr aufmerksam, für kritische Überlegungen empfänglich - vor allem ohne jeglichen Machtdünkel. Wir verabredeten, daß ich ihm eine ausführliche Analyse meiner Erfahrungen an den Kliniken anfertige: beginnend mit den materiellen Bedingungen der Kliniken und der Institute, endend mit der Beurteilung der gesellschaftlichen Situation, darunter der wenig erfreulichen Rolle der Parteiorganisation an der Fakultät. Und selbstverständlich über meine Sicht auf die Ursachen der Republikflucht.

Im Unterschied zu meinem Parteisekretär an der Medizinischen Fakultät unterstützte Reich meine Bemühungen um eine andere Einstellung zur den Ärzten. Ich fertigte ihm die verabredete Analyse an. Sie belegte mit zahlreichen konkreten Beispielen die Fehleinschätzungen, die über die Probleme der Ärzte und über das bei ihnen verbreitete kritische Denken im Umlauf waren. Das Beispiel Schober war ein klassischer Beleg. Eingedenk der Erfahrungen mit meinem Vater plädierte ich nachdrücklich dafür, widerspenstige Reden oder scharfe Kritik an unseren Verhältnissen nicht als Kriterium zu sehen, sondern die tatsächlichen Leistungen in der Klinik, in der Wissenschaft und nicht zuletzt bei der Meisterung der vielen ärgerlichen Hindernisse.

Nie wäre ich auf die Idee gekommen - und ich sehe es heute überhaupt nicht anders - dies sei eine „Spitzelarbeit“ gewesen. Es war eine Form politischer Arbeit. Sie war nicht gegen Menschen gerichtet, sondern sie warb um Verständnis für objektive und subjektive Konflikte. Sie gründete sich nicht auf irgendwie durch Täuschung erworbene Information. Ohnehin war niemandem ein Geheimnis, welche politischen Ansichten ich hatte und wofür ich eintrat.

Heute ist allerdings zu fragen, weshalb denn die Probleme der allgemeinen Innen- und speziell der Gesundheitspolitik ein Gegenstand geheimdienstlichen Interesses sein mußten! Denn eigentlich haben innere Geheimdienste andere Funktionen: hauptsächlich die Abwehrtätigkeit gegen Spionage, Landes- und Hochverrat sowie Terrorismus. Offensichtlich funktionierten andere, „normale“ gesellschaftliche Mechanismen des Erkennens, des Austragens und Lösung solcher Konflikte nicht. Das MfS hat - schon damals - angesichts fehlender effizienter demokratischer Prozeduren und Mechanismen auch eine Ersatzrolle bei der Feststellung gesellschaftlicher Probleme, ihrer Analyse und Bearbeitung gespielt. Manchmal auch „Feuerwehrfunktionen“ zur unbürokratischen Behebung von Problemen (z. B. der operativen Beschaffung medizinischer Materialien).

Als ich später Mitglied der Universitätsparteileitung wurde, bekam ich Einblick in die Handhabung der „Parteiinformation“ - also in das System der Information „von unten nach oben“. Ein Unterschied zur MfS-Praxis sprang mir sofort ins Auge: Die Parteiinformation wurde zunehmend schon bei der Auswahl der Gegenstände von Schönfärberei verzerrt und oftmals auf Ideologisches konzentriert. Es nisteten sich taktische Überlegungen der berichtenden Leitungen und Funktionäre ein, welche Rückwirkung es wohl auf die Beurteilung der eigenen Arbeit und der eigenen Verantwortung haben könnte, wurde über „Negatives“ berichtet - ausgenommen ausschließlich individuell zuzuordnende negative Erscheinungen. Ganz anders (nach meiner Erfahrung) das MfS. Es interessierte sich für die tatsächliche Lage, für Tatsachen. In seiner Informationssammlung und -verarbeitung waren opportunistische Rücksichten wegen eines womöglich einsetzenden Bumerang-Effekts neutralisiert.

Wie auch immer man heute diesen wichtigen Aspekt der Rolle des MfS kritisch bewerten mag: Sie war ein selbstverständlicher Teil des politischen und gesellschaftlichen Mechanismus in der DDR. Das MfS war eine Gegebenheit. Mit ihr nicht umzugehen, wäre ebenso politisch töricht gewesen, wie es heute unredlich ist, diese damalige Normalität zu leugnen und die Position einer relativ kleinen Minderheit (die in ihrem Verhältnis zur DDR ohnedies politisch aufgefächert war) als eine angeblich schon damals typische zu behaupten. Der eigentliche - linke! - Kritikpunkt muß, grundsätzlich gesehen, nicht am MfS „an sich“ ansetzen, sondern am Fehlen wirklich demokratischer Prozeduren der effizienten Mitwirkung von unten nach oben bei der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung - so, wie sie Rosa Luxemburg in ihrem Artikel „Zur Russischen Revolution“ erörtert hat.7

Die „Ersatzrolle" des MfS mit den ihr innewohnenden Gefahren erkannte ich damals nicht, trotz der Warnsignale, die vom XX. Parteitag der KPdSU schon gesetzt worden waren. Und im genannten Falle war die Mitwirkung des MfS eine Folge meiner eigenen politischen Initiative - mit praktischen Ergebnissen. Außerdem - in der dem 13. August 1961 unmittelbar folgenden Zeit - schien es so, als ob im Schutz der gesicherten Grenze nun ein demokratisches Verfahren zum Austragen von Konflikten und unterschiedlichen Vorstellungen etabliert werde.

Fritz Reich verarbeitete meine Analyse und trug die Probleme dem damaligen Ersten Sekretär der SED-Bezirksleitung, Bernard Koenen, vor. Daraufhin überprüfte die Bezirksleitung die Parteiarbeit an der Medizinischen Fakultät. Es folgten - auf „politisch-ideologischem“ Feld - eine Korrektur der Arbeit und eine Neuwahl der Fakultätsparteileitung.

Grundlegende Veränderungen der materiell-technischen Arbeitsbedingungen und der allgemeinen Lebensbedingungen vermochte die Bezirksleitung nicht herbeizuführen. Dem standen die zu geringe ökonomische Leistungsfähigkeit der DDR, aber auch die zentralisierte Verfügung über die Ressourcen entgegen. (Immerhin drang die Bezirksleitung darauf, daß in Halle endlich der seit langem geplante und immer wieder aufgeschobene Neubau eines modernen Universitätsklinikums an den Brandbergen begonnen wurde.) Die Universitätsparteileitung blieb von Kritik nicht verschont, sie hätte längst in die Parteiarbeit an der Medizinischen Fakultät eingreifen müssen. Ein Genosse der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, Dr. Rolf Fleck, und eine Historikerin, Dr. Helga Herdegen, wurden als Parteisekretär und stellv. Parteisekretär an die Medizinische Fakultät „delegiert“, d. h. sie wurden der Parteiorganisation zur Wahl vorgeschlagen, womit eine wirkliche Kurskorrektur personell fundiert wurde. Es entstand ein entspanntes und vielfach freundliches Verhältnis mit den Ärzten und dem mittleren medizinischen Personal. Die Republikflucht ging deutlich zurück. Die politische Arbeit der Partei bekam Format, weil sie begann, sich vom vorherrschenden Ideologisieren und sektiererischem Mißtrauen zu befreien. Endlich wurde sie konstruktiv. Das heißt, sie widmete sich den tatsächlichen Problemen an der Fakultät und sie richtete sich zugleich auf die Demokratisierung der „innerbetrieblichen“ Verhältnisse in den Kliniken, die weit unter dem Niveau der innerbetrieblichen demokratischen Beziehungen in volkseigenen Einrichtungen lag. Es ging insbesondere um mehr Einfluß der gewerkschaftlichen Vertretungen, der Konfliktkommissionen sowie der FDJ als Vertreterin der studentischen Interessen - und um die Ergänzung des (richtigen) Prinzips der Einzelleitung durch Formen der kollektiven Beratung. Für solche Ziele gab es Unterstützung bei der Mehrheit der Mitarbeiter - Ärzte und Schwestern gleichermaßen. Schließlich entwickelte sich, als mit der dritten Hochschulreform eine Reform des Medizinstudiums begonnen wurde, eine gute Zusammenarbeit auch mit den leitenden Klinikern und Wissenschaftlern der theoretischen Institute.

Zwei Jahre sollte ich „zur Bewährung an der Basis“ bleiben. Die Zeit war um. Ich hätte darauf dringen können, mich wieder mit einer Funktion in Berlin zu betrauen. Zwar wollte ich nicht mehr zurück in das Ministerium für Hochschulwesen, aber doch wieder in die internationale Arbeit. Mir schwebte vor, als Journalist beim Rundfunk oder in der Presse tätig zu werden. Aber jetzt, mit der von mir mitbewirkten „Wende“ der Parteiarbeit an der Fakultät wollte ich das Feld noch nicht verlassen, zumal in einer Parteiversammlung meine Arbeit gewürdigt wurde. Gestaltungsmöglichkeiten taten sich auf und reizten mich.

Aber es kam anders. Mir wurde eine andere Funktion übertragen. Einige Jahre später zog ich dann wieder nach Berlin.

 

(aus dem Manuskript eines Erinnerungsbuches, in sich gekürzt)

Wolfgang Hartmann


1 Vgl. Hermann Matern: Über die Durchführung des Beschlusses des ZK der SED ‚Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum Slansky“, 13 Tagung des ZK der SED 13 -14 Mai 1953, Berlin 1953. Im Anhang zu dieser Broschüre befinden sich die einschlägigen Beschlüsse und Erklärungen des ZK, sowie der Brief Dahlems an den französischen Ministerpräsidenten Daladier v. 12. September 1939.

2 Vg.l zum Komplex Noël Field: Wolfgang Kießlmg: „Partner im ‚Narrenparadies’ - Der Freundeskreis um Noël Field und Paul Merker“ Berlin 1994; Georg Hermann Hodos: „Schauprozesse“ - Stalinisti­sche Säuberungen in Osteuropa 1948-54. Berlin 1990.

3 Lenin auf dem III Kongreß der Kommunistischen Internationale In Lenin, Werke, Bd. 32 Berlin 1967, S. 500

4 Vgl. „Brief an den Parteitag“ vom 23  -26 12. 1922 mit Ergänzung vom 4 1 1923. In: Lenin, Werke, Bd. 26, Berlin 1964, S. 577 f.

5 Ich halte es für gerechtfertigt, vom sozialistischen Gesundheitswesen in der DDR zu sprechen - auch wenn nach heutiger Einsicht dieses Prädikat der DDR als Ganzes nur bedingt gewährt werden kann. Das Gesundheitswesen der DDR folgte - anders als das bundesdeutsche - dem Grundsatz der Weltge­sundheitsorganisation, daß Gesundheit nicht allein „Abwesenheit von Krankheit (ist), sondern ein Zustand des physischen, psychischen und sozialen (!) Wohlbefindens“. In der DDR wurde das Prinzip der Einheit von Prophylaxe, Therapie und Nachsorge verwirklicht, Arbeitsschutz und Arbeitshygiene waren auf einem hohen Stand. Sozialhygiene war kein Störfaktor. Die ärztliche Praxis war nicht marktwirtschaftlichen Profit- und Konkurrenzinteressen unterworfen. Die Medikation folgte wissenschaft­lichen Grundsätzen und nicht kommerziellen Interessen der Pharma-Industrie. Defizite der materi­ell-technischen Basis und in einzelnen Bereichen ergaben sich aus der fehlenden ökonomischen Po­tenz der DDR, aber nicht ihrem gesundheitspohtischen System.

6 Diese Bündnispolitik war allerdings schon in den fünfziger Jahren für die als ideologisch prägend angesehenen Teile der Intelligenz deutlich eingeengt worden. Wurde ein Abweichen, gar ein gefährli­ches Abweichen von den (jeweils) herrschenden Doktrinen gesehen, führte das zu einer deutlichen Herabsetzung der Toleranzschwelle. Prominente Markierungspunkte dieser Zurücknahme der antifa­schistisch-demokratischen Bündnisbreite und der Toleranz sind z B. die Behandlung Ernst Blochs, Hans Mayers, Walter Markovs, Wieland Herzfeldes, Jürgen Kuczynskis, Fritz Behrens. Gegenüber der künstlerischen Intelligenz hatte diese Entwicklung mit der Formalismusdebatte (Stichworte: Diskus­sionen über Barlach, Hanns Eislers „ Dr. Faustus“, Brecht/Dessaus „Lukullus“, Bauhaus u a ) schon vorher eingesetzt und das Verhältnis der Intelligenz überhaupt zum Staat und zur Partei belastet. Im Kontrast dazu die Toleranz und Förderung im naturwissenschaftlichen Bereich. Beispielhaft: Ob­wohl öffentlich in die von sowjetischer Seite betriebene Verdammung der Genetik und des „Mendelismus/Morganismus“ eingestimmt wurde, erhielten die Genetiker in der DDR moderne Institute (in Gatersleben, Berlin, Buch) und ein führender „bürgerlicher“ Genetiker, Professor Dr . Stubbe, wurde Gründungspräsident der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften.

7 Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. 4. Berlin 1974, S 359 ff.


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