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Ein Brief an den Gesundheitsminister
Sehr geehrter Herr Dr. Seehofer!1
Einige Ihrer jüngsten Äußerungen über das Gesundheitswesen der DDR zwingen mich geradezu, Ihnen ein paar Wahrheiten zu schreiben. Verstehen Sie bitte: Ich bin eine 82jährige Frau, die das Leben kennenlernte und zu unterscheiden weiß, was rechtens war und was Propaganda.
Mir ist sehr gut ein Film in Erinnerung, der damals in der DDR für viel Diskussion sorgte: „Weil du arm bist, mußt du früher sterben“. Der Film schilderte authentisch das Leben eines armen kranken Mannes in einem kapitalistischen Staat. Seine Krankheit wäre zu heilen gewesen. Doch er konnte weder Krankenhaus- und Kuraufenthalt noch die erforderlichen Medikamente bezahlen. Deshalb siechte er dahin bis zu seinem frühen Tod.
Ich glaubte zuerst an einen Lesefehler, als ich Ihre Darstellung las, Herr Gesundheitsminister. Sie drehten den Spieß einfach um. So wäre es in der DDR gewesen, behaupten Sie. In der DDR blieben Ihrer Meinung nach die medizinischen Einrichtungen und Medikamente nur einer „privilegierten Oberschicht“ vorbehalten.
Allerdings, so hätte es sein können, mußten wir doch auch für die damalige BRD die Kriegsschulden bezahlen. Das haben renommierte westdeutsche Institute nachgewiesen. Entgegen den internationalen Abkommen lieferte uns die BRD auch keine Steinkohle, obwohl die Halden dort bis in den Himmel wuchsen. Sie lieferte uns keinen Stahl und andere für den Aufbau wichtige Rohstoffe, so daß wir mühsam nach Auswegen suchen mußten. Doch trotz dieser großen Belastungen wurde gerade das Gesundheitswesen der DDR in keiner Weise vernachlässigt.
Wie dies entgegen Ihrer Behauptung aussah, das habe ich beispielsweise an unserer Schule jahrzehntelang miterlebt. Jährlich zweimal kam der Schularzt in den Kindergarten und in die Schule. Ebenso oft der Schulzahnarzt. Da wurden gefährdete Schüler kostenlos zur Erholung geschickt, darunter mein Sohn. Viele Schüler erhielten unentgeltlich Zahnspangen in der Schulzahnklinik Altenburg. Sogar das Fahrgeld bekamen sie - bei insgesamt kostenloser Behandlung - zurück. Ich erinnere mich an die zahlreichen Impfaktionen. Die damals grassierenden Volkskrankheiten, wie Masern, Keuchhusten, spinale Kinderlähmung usw. wurden im wahrsten Sinne des Wortes ausgerottet.
In jeden Ort des Landes kam regelmäßig der Röntgenzug. Eine geradezu beispielgebende Sache wurde die flächendeckende Einrichtung der Polikliniken. Alle Fachärzte, medizinische Einrichtungen und Labors unter einem Dach! Darüber müßte Ihnen ehrlicherweise Ihre Staatssekretärin, Frau Bergmann-Pohl, die Wahrheit sagen. Sie war doch selbst Ärztin in der DDR, hat hier eine kostenlose, gediegene Ausbildung erfahren und in der Praxis viel lernen können. Alles vergessen? Wie ich hörte, hat sie ja bereits eingeräumt, daß die Ausbildung der Ärzte in der DDR gut war, sonst hätte sie sich ja auch selbst ein mieses Zeugnis ausgestellt.
Was meine Familie und ich vom DDR-Gesundheitswesen an spürbarer Zuwendung und Hilfe erfuhren, das ist eigentlich so normal, daß es jeder andere Bürger genauso schildern könnte.
Mein Mann, schwer Tbc-krank aus der Gefangenschaft heimgekehrt, wurde in die Heilstätte Ernsee bei Gera eingewiesen und verbrachte dort ein ganzes Jahr. Er hatte dann einen Doppel-Pneu und mußte noch lange Zeit wöchentlich nach Altenburg fahren. Alles dies war auch für ihn kostenlos, er erhielt sogar noch das Fahrgeld zurück.
Ich selbst mußte den Schuldienst im Juni 1953 für 14 Monate unterbrechen, da sich bei einer Reihenuntersuchung Tbc herausgestellt hatte. Zunächst wurde ich in der Heilstätte Görlitz und zur Weiterbehandlung in Plottendorf betreut, später für drei Monate zur Rehabilitation nach Dambeck bei Neustrelitz geschickt. Was mir allein hier an ärztlicher und auch kultureller Betreuung geboten wurde, war einmalig!
Zu allem Unglück erkrankte auch mein Sohn an Tbc. Er wurde in der Heilstätte Bad Berka beidseitig operiert.
Als mein Mann und ich 1976 in Rente gingen, brauchten wir überhaupt keine Sozialversicherung mehr zu zahlen, ärztliche Betreuung und alle Medikamente waren nach wie vor frei, Brillen und Zahnprothesen unentgeltlich.
Es wird nie vergessen werden, wie in der DDR für den kranken Menschen gesorgt war. Und wenn Sie die Behauptung aufstellen, Herr Minister, daß nur „Privilegierte“ alles erhielten, wird sich jeder ehrliche ehemalige DDR-Bürger angewidert abwenden. Denn in diesem Sinne war jeder von uns privilegiert.
Im hohen Alter erlebe ich nun das Gegenteil der DDR-Gesundheitspolitik und denke oft an den eingangs erwähnten Film.
Im Januar 1998 mußte ich mich in Eisenberg einer Hüftoperation unterziehen und für jeden Krankenhaustag 14 DM zuzahlen. Nicht auszudenken, wenn so etwas Unsoziales in der DDR gefordert worden wäre! Gleich nach der „Wende“ begann auch der Abzug der SV-Beiträge von der Rente. Für meine neue Brille durfte ich 500 DM bezahlen, und bei den Medikamenten steigen dank Ihrer „sozialen“ Gesundheitspolitik die bereits enormen Zuzahlungen ständig weiter. Ja, mir wurde sogar ein für mich wichtiges Medikament nicht verschrieben, weil es angeblich zu teuer sei!! Um nicht falsch verstanden zu werden, Herr Minister, die für mich lebenswichtigen Tabletten könnte ich durchaus erhalten. Ich müßte mir nur ein Privatrezept ausstellen lassen und sie dann voll aus eigener Tasche bezahlen. Und wenn ich das nun nicht kann?
„Weil du arm bist mußt du früher sterben“, jedoch nicht in der ehemaligen DDR, sondern in der heutigen, ach so reichen Bundesrepublik Deutschland.
Aus meinem großen Bekanntenkreis
weiß ich sehr genau, daß alle diese hier angesprochenen Dinge allgemeine
Erfahrung sind.
Einen schönen Gruß
von
Erna Himmer
aus Kriebitzsch
1 Dieser Brief wurde 1998 geschrieben. Danach änderten sich zwar Geschlecht, Name und Parteizugehörigkeit des Gesundheitsministers, die Gesundheitspolitik dieser BRD jedoch nicht. Deshalb bleibt mein damaliger Text leider auch weiterhin aktuell (d. Aut.).
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