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Lebensaufgabe: Sicherung des Friedens
Meine Entscheidung für die Tätigkeit als Offizier des Ministeriums für Staatssicherheit war maßgeblich bestimmt von der Grundhaltung in meiner Familie: „Nie wieder Faschismus - nie wieder Krieg“.
Nach mehreren Stationen seit 1957 in der Spionageabwehr und Aufklärung war ich ab 1974 mit analytischen Aufgaben über die Funktionen der imperialistischen Geheimdienste, insbesondere der Geheimdienste der USA, betraut.
Die Besonderheiten der Arbeit auf diesem Gebiet brachten es mit sich, daß ich wesentlich direkter als andere Analytiker in die Führung einer Quelle in den amerikanischen Geheimdiensten einbezogen war.
Diese Quelle, zuletzt bei der Hauptverwaltung A (HVA) unter dem Decknamen PAUL registriert, war ein anerkannter Spezialist der Fernmelde-/elektronischen Spionage und der Elektronischen Kriegführung der USA-Geheimdienste. Nachrichten-dienstliche Operationen dieser Art hatten auf beiden Seiten bereits Tradition - es sei nur an die Operation ULTRA der britischen und amerikanischen Geheimdienste im Zweiten Weltkrieg zur Dechiffrierung des Funkverkehrs der deutschen Wehrmacht erinnert, die wesentliche Grundlagen für die militärischen Erfolge der westlichen Alliierten schuf.
In den folgenden Jahrzehnten wuchs die Bedeutung der Elektronischen Kriegführung (in der Bundeswehr unter dem Begriff ELOKA = Elektronische Kampfführung bekannt) ständig weiter an. Das entsprach der z. T. sprunghaften Entwicklung der technischen Möglichkeiten für die Peilung, Erfassung, Auswertung sowie Analyse der dabei anfallenden Daten. Parallel dazu wuchsen die Schwierigkeiten eines effektiven Umgangs mit dem Informationsaufkommen in völlig neuen Größenordnungen.
Die ELOKA wurde zunehmend zu einem bestimmenden Faktor der modernen Kriegführung. Der Bereich der Fernmelde-/elektronischen Aufklärung gewann damit bei allen Aufklärungseinheiten der Teilstreitkräfte der westlichen und östlichen Militärbündnisse und bei ihren Nachrichtendiensten zunehmend an Bedeutung und wurde entsprechend forciert.
In Westberlin ragten als eine ständige Mahnung der westlichen Präsenz und Aktivitäten die an riesige Golfbälle erinnernden Türme der Anlagen auf dem Teufelsberg im Grunewald in den Himmel Von den Hochhäusern der Leipziger Straße in Ostberlin aus konnte man diese Anlagen sehen. Aber wir brauchten nicht zur Leipziger Straße zu fahren - wir konnten an unserem Schreibtisch Dokumente über die Funktion, Arbeitsweise, Arbeitsergebnisse, bis hin zu den mittelfristigen Modernisierungsmaßnahmen bis in die neunziger Jahre für diese Anlage - genannt Field Station Berlin - studieren. Das verdankten wir unserer Quelle PAUL.
Die Field Station Berlin auf dem Teufelsberg in Westberlin gehörte zu den bedeutendsten Stationen der Fernmelde-/elektronischen Spionage der USA-Geheimdienste in Europa.
Diese Funktion wurde begünstigt durch die geographische Lage des 115 Meter hohen Trümmerberges im Grunewald und durch das physikalische Umfeld mit nach Aussagen der Experten besonders günstigen Ausbreitungsbedingungen für elektromagnetische Wellen.
Im Zusammenwirken mit einer Anlage der amerikanischen Luftwaffe in Berlin-Marienfelde waren damit die USA-Geheimdienste in der Lage, von Westberlin aus Erfassungen von elektronischen Abstrahlungen z. B. von Waffen und Waffenleitsystemen, von Funkverkehren unterschiedlicher Reichweite bis in Tiefen von 300 Kilometern in die osteuropäischen Staaten vorzunehmen.
Außerdem wurden von diesen Objekten aus spezielle Funk-Fernverbindungen (die Fachleute nennen sie Troposcatter-Verbindungen = Funkverkehre unter Nutzung der stratosphärischen Streustrahlungen), mit deren Hilfe z. B. die Kommunikation mit dem Hauptquartier des Warschauer Vertrages und dem Generalstab der sowjetischen Streitkräfte aufrechterhalten wurde, sowie die sowjetischen Satellitenfunkverbindungen erfaßt und ausgewertet.
1986 hatte Gorbatschow schon seine Politik des „neuen Denkens“ öffentlich verkündet, die Vision einer menschlichen Gesellschaft ohne Atomwaffen bis zur Jahrtausendwende in die Diskussion gebracht, das Aufbrechen der erstarrten Blockkonfrontation eingeleitet. Vertreter von SPD und SED begannen ihre Diskussionen über den „Streit der Ideologien“ und über die Möglichkeiten, daß der Imperialismus friedensfähig sein könnte. Die Aufklärung der DDR hatte mit authentischen Dokumenten aus der NATO dazu beigetragen, Hardliner in der sowjetischen Partei- und Militärführung (und wohl auch in der DDR) zu überzeugen, daß kein unmittelbarer Angriff von der NATO zu befürchten sei. Damit war eine Änderung der Militärdoktrin des Warschauer Vertrages eingeleitet, die 1987 erfolgte.
In diesem Zeitraum, als die Friedenssehnsucht der Menschen wieder greifbare Perspektiven erhielt, setzte die Regierung der USA Anfang 1986 eine Arbeitsgruppe ein mit dem zentralen Auftrag, eine Untersuchung vorzulegen, die den Kernwaffenkrieg für die westliche Seite wieder führbar und gewinnbar machen sollte. Es wurden rund 40 der qualifiziertesten Analytiker und Praktiker der amerikanischen Geheimdienste und des Pentagon zusammengezogen, und ihnen wurde die Aufgabe gestellt, alle Möglichkeiten der modernen elektronischen Kampfführung zu prüfen, um einen erfolgreichen atomaren Enthauptungsschlag gegen die Führungszentren der UdSSR und des Warschauer Vertrages zu gewährleisten.
Unsere Quelle PAUL gehörte zu diesem Kreis der Auserwählten. Er schaffte es auch, uns eine Kopie des Arbeitsdokumentes zu übergeben. Als dann nach wochenlanger Abwesenheit von PAUL das Dokument mit der amerikanischen Deckbezeichnung CANOPY WING auf unserem Tisch lag, rieselte uns ein kalter Schauer über den Rücken. Nicht nur deshalb, weil wir noch nie ein Dokument der USA-Geheimdienste mit so vielen Geheimhaltungsvermerken und Schutzwörtern (die den Zugang zu diesem Material nur einem auserwählten Kreis von Berechtigten gestatteten), mit der höchsten geheimdienstlichen Sicherheitseinstufung innerhalb der Intelligence Community der USA, in der Hand hatten. Vor allem hatten wir ein kompaktes Material der aktiven Kriegsvorbereitung, der Vorbereitung einer Aggression gegen den Warschauer Vertrag vor uns liegen. Und das in diesem historischen Kontext! Hier ging es nicht mehr um eine Verteidigungsplanung. Die Aufgabe war von den Vereinigten Stabschefs der USA klar gestellt: Zur Vorbereitung eines Angriffs durch die NATO mußten die Führungszentren des Gegners aufgeklärt, durch elektronische Maßnahmen arbeitsunfähig oder durch selektiven Waffeneinsatz zerstört sein. Der atomare Gegenschlag der sowjetischen Seite sollte damit verhindert, ein Kernwaffenkrieg wieder führbar und gewinnbar gemacht werden.
Später wurde mir durch Studien und den Briefwechsel mit Rainer Rupp während seiner Haft in Saarbrücken bekannt, daß die USA bereits 1983 begonnen hatten, innerhalb der NATO-Gremien ihr neues, offensives Konzept der „chirurgisch sauberen Enthauptungsschläge“ vorzustellen, die Arbeitsgruppe CANOPY WING sollte offensichtlich schon eine modernisierte Version auf der Grundlage neuester technischer und technologischer Einsatzmöglichkeiten erstellen.
Es lohnt sich auch heute noch, einen Blick in die Grundaussagen dieses Dokumentes zu werfen: CANOPY WING bilanzierte die bisherigen Möglichkeiten der Elektronischen Kampfführung und die technischen und softwareseitigen Anforderungen an weitere Entwicklungen zur Vorbereitung bzw. Unterstützung eines nuklearen Erstschlages / Enthauptungsschlages gegen den Generalstab der UdSSR sowie gegen das Oberkommando des Warschauer Vertrages. Die Grundaufgabe war, die Fähigkeiten des Warschauer Vertrages zur Abwehr eines Schlages und zur Auslösung eines atomaren Gegenschlages entscheidend zu lähmen. Dazu wurden als Aufgaben u. a. gestellt:
-
Identifizierung der Führungsstellen und der Ausweichführungsbunker für
den Spannungsfall;
-
Aufklärung von Standorten, Strukturen, Personal, technischen Ausrüstungen
mit exakten Parametern und Zielkoordinaten;
-
Möglichkeiten der Störung des normalen Betriebes, u. a. durch Kurzschlüsse
mit Hilfe von mikroskopischen Kohlenstofflasern (heute wissen wir: Eine Version
dieses Waffensystems wurde während der Kosovo-Aggression der NATO zur
Ausschaltung der Stromversorgung Jugoslawiens eingesetzt) oder durch Einsatz von
chemischen Kampfstoffen;
-
Blockierung der Arbeit der Führungsstellen durch elektronische
Ausschaltung der Führungssysteme unmittelbar vor dem Schlag, damit keine
Gegenreaktionen möglich sind;
-
Anforderungen an den Einsatz verschiedener Waffensysteme zur
schlagartigen Zerstörung von Führungsstellen u. a. Einrichtungen (einschließlich
punktgenauer Zielsucheinrichtungen für Waffensysteme, die gegen „gehärtete“
Bunkersysteme einsetzbar sind);
- Möglichkeiten der Täuschung/Fälschung (u. a. unter Nutzung der schon längere Zeit erprobten Fähigkeiten, mit Hilfe der Computersimulation ein zeitechtes Einschalten in Befehlsübermittlungen z. B. im Funkverkehr Flugzeug - Bodenstation oder Leitstelle - Atom-U-Boot zu erreichen).
Die Arbeitsgruppe veranschlagte für all diese Projekte einen Finanzbedarf von 14,5 Milliarden Dollar an Investitions-, Betriebs- und Wartungskosten sowie den Einsatz von rund 1.570 Personen.
Selbstverständlich ging dieses Dokument von Berlin auf direktem Wege nach Moskau, denn nur die dortigen Experten konnten beurteilen, wie realistisch die Planungen der anderen Seite waren und wie wirksam die Schutz- und Gegenmaßnahmen ausgestaltet werden konnten.
Jetzt steht die NATO in Kürze an den Westgrenzen einer zerfallenen Sowjetunion. 1999 wurde es möglich, daß die NATO im Schlepptau der USA eine Aggression gegen einen souveränen Staat in Europa durchführte - und nur wenige Stimmen sich gegen diese Kriegsverbrechen erhoben.
Trotzdem bewegt mich immer noch Genugtuung, daß ein relativ kleiner Apparat mit begrenzten materiellen und personellen Ressourcen (die Hauptverwaltung A der DDR) der Weltmacht USA eines ihrer größten Geheimnisse der zweiten Hälfte der achtziger Jahre entreißen konnte. Hier wurde Wirklichkeit, was viele DDR-Bürger in ihrer täglichen Arbeit ernstnahmen: „Mein Arbeitsplatz - mein Kampfplatz für den Frieden“.
Leider wurden die Hauptakteure, unsere Quelle PAUL und sein türkischer Mittelsmann, durch Verrat eines DDR-Bürgers 1988 enttarnt und verbüßen seitdem extrem lange Haftstrafen, wohl bis an ihr Lebensende, in den USA, ohne Chance auf eine Begnadigung. „Uncle Sam“ rächt sich gnadenlos, wenn man seine Kreise stört.
Eine Kopie dieses Dokumentes wurde bei der Auflösung der HVA archiviert!
Klaus
Eichner
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