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Der Spannungsherd Enklave Steinstücken
wurde entschärft
Ausgehend von den Ereignissen in Jugoslawien wird heute immer deutlicher, daß die längste Friedensetappe in Europa nicht zuletzt ein Ergebnis des Kräftegleichgewichtes zwischen der NATO und dem Warschauer Vertrag war.
Daß wir, die DDR und die BRD, nicht zwischen die Mühlsteine gerieten, ist auch ein Verdienst von Realpolitikern beider deutscher Staaten. Es besteht darin, daß sie Spielräume nutzten, die ihnen die Großmächte boten. Sie sprachen und verhandelten miteinander. Da die Atmosphäre trotzdem in der Regel von Mißtrauen und Ignoranz gezeichnet war, kam es oft erst nach zähen Bemühungen zu Ergebnissen, die der Entspannung dienten. Dabei bewies die politische Führung der DDR immer wieder Vertragstreue und erfüllte die abgeschlossenen Vereinbarungen nach Geist und Buchstaben.
Wer, wie ich, Zeuge solcher Ereignisse gewesen ist, dessen Erinnerungen sind eingeprägt. Man kann mitreden und mit gutem Gewissen bezeugen, daß die DDR an friedenserhaltenden Maßnahmen teilgenommen und die bisher längste Friedensetappe dieses Jahrhunderts mit geprägt hat. Die nachstehend geschilderten Ereignisse spielten sich am Rande der bedeutsamen Viermächteverhandlungen zu Berlin ab.1
Zur Erläuterung: Es gab und gibt auf den politischen Landkarten verschiedentlich Enklaven. So werden die von eigenem Territorium umgebenen Teile eines fremden Staates genannt. (Aus der Sicht des besitzenden Staates ist die Enklave dann natürlich eine Exklave.) Nach 1945 existierten einige davon im Berliner Umland. Sie gehörten zu Berlin-West, lagen aber inmitten des DDR-Gebietes und entwickelten sich immer mehr zu politischen Spannungsherden. Deshalb wurde im Ergebnis zweiseitiger Verhandlungen der Regierung der DDR mit dem Senat von Berlin (West) mehrfach ein für beide Seiten nützlicher Gebietsaustausch vereinbart, der die Lage entschärfte und zu mehr Ruhe, Ordnung und Sicherheit an den Grenzen führte. Die Anklagevertreter und Richter in den heutigen „Grenzerprozessen“ versuchen das DDR-Grenzregime als „unerträglich“ darzustellen. Damit ignorieren sie sowohl das Viermächteabkommen als auch die Verhandlungsergebnisse zweier gleichberechtigter Seiten, mit denen die damaligen Realitäten anerkannt wurden.
Beim dritten Gebietsaustausch ging es unter anderem um den Grenzabschnitt Klein-Glienicke und die Enklave Steinstücken. Diese war aus einer Viehhütung des Dorfes Stolpe (Wannsee) im Potsdamer Forst hervorgegangen und 1920 zu Groß-Berlin gekommen. Sie verfügte über 12,7 Hektar Fläche und besaß nur 182 Einwohner, aber 900 Personen hatten dort ihren Nebenwohnsitz. Diese Enklave und der über DDR-Territorium führende Verbindungsweg nach Westberlin entwickelten sich in den sechziger Jahren immer mehr zum Spannungsherd. Da die durch DDR-Grenzer gesicherte Straße nicht von Westberliner Polizisten betreten werden durfte, richtete die US-Militärpolizei im Territorium Steinstücken einen vorgeschobenen Posten ein, dessen dreiköpfige Besatzung wöchentlich mittels Hubschrauber abgelöst wurde. Zu Sonderflügen starteten und landeten diese Hubschrauber, wenn aus der DDR übergetretene Fahnenflüchtige und Grenzverletzer nach Berlin-West ausgeflogen werden sollten. Es kam zu schwerwiegenden Grenzverletzungen, von denen hier nur drei erwähnt werden sollen:
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Am 3. Juli 1963 gegen 15.00 Uhr
beschossen Angehörige des US-Militärpolizeipostens Steinstücken
DDR-Grenzsoldaten, zerstörten Grenzsicherungsanlagen und warfen Nebelkörper.
Diese Aktion leitete Feldwebel William Lindström. (Er wurde dafür später von
einem US-Militärgericht bestraft.)
- Im Oktober 1963 wurde während einer besonderen Spannungssituation2 eine gefechtsmäßig ausgerüstete US-Infanteriekompanie mit Hubschraubern nach Steinstücken eingeflogen und der Stützpunkt damit für einige Tage um ein Vielfaches verstärkt. In dieser Zeit standen die in höchste Alarmbereitschaft versetzten Angehörigen der US-Streitkräfte in Steinstücken unseren einzeln handelnden Grenzposten gegenüber, die besonnen und zurückhaltend reagierten.
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Am 9. Juli 1970 beschossen zwei damals
unbekannte Täter von einem auf Westberliner Territorium errichteten Podest aus
im Grenzabschnitt Klein-Glienicke/Steinstücken eine motorisierte Streife der
DDR-Grenztruppen. Im Trabant 601 wurden vier Einschüsse festgestellt, wobei ein
Geschoß die Maschinenpistole des Kraftfahrers durchschlagen hatte. Die
Grenzposten blieben wie durch ein Wunder unverletzt. In ihrer Berichterstattung
versuchten die Westberliner Massenmedien diesen schweren Grenzzwischenfall völlig
umzudrehen. So schrieb die „Bildzeitung“ am darauffolgenden Tag, daß unsere
Grenzsoldaten zur gleichen Zeit am gleichen Ort ein Filmteam beschossen hätten.3
Quelle Pnvatarchiv Krug
Lage der Enklave Steinstücken
Quelle Privatarchiv Krug
Das
Streifenfahrzeug der DDR-Grenztruppen nach dem Mordanschlag
Auf der Grundlage des Vierseitigen Abkommens der Großmächte über Westberlin unterschrieben im Dezember 1971 Beauftragte der Regierung der DDR und des Senats von Berlin (West) die in langwierigen Verhandlungen vorbereiteten Vereinbarungen zur Erleichterung des Reise- und Besucherverkehrs sowie die Regelung von Enklaven durch Gebietsaustausch. Sie traten am 3. Juni 1972, dem Tag der Unterzeichnung des Schlußprotokolls zum oben genannten Vierseitigen Abkommen, in Kraft und betrafen auch die Enklave Steinstücken.
Im Artikel 1 der Vereinbarung erfolgte die Beschreibung der auszutauschenden Gebiete.4 Diese vertraglichen Regelungen führten zur Übergabe eines Gebietsstreifens5 an Berlin (West). Damit wurde die Enklave Steinstücken direkt mit Westberlin verbunden.
Als Beauftragter des Kommandeurs des Grenzkommandos Mitte, Generalmajor Bernhard Geier, trug ich mit den unterstellten Kommandeuren von Truppenteilen und Einheiten die Verantwortung für die militärische Sicherung des Gebietsaustausches. Dabei konnten wir uns auf die Einsatzbereitschaft, Disziplin und das Verantwortungsbewußtsein aller eingesetzten Offiziere, Fähnriche, Unteroffiziere und Soldaten stützen. Nicht zuletzt bewährte sich die Zusammenarbeit mit den örtlichen Organen und der Grenzbevölkerung.
Bereits vor Übergabe des beschriebenen Gebietsstreifens wurden umfangreiche Pionierarbeiten durchgeführt und die Grenzsicherung neu organisiert. Für diese Arbeiten waren zwei Etappen und 50 Arbeitstage vorgesehen. In der ersten Etappe erfolgten die Beseitigung vorhandener Pioniersperren und die Schaffung der Baufreiheit für die zweite Etappe. Mit ihr war der vollständige pionier-, signal- und nachrichtentechnische Ausbau entlang des neuen Grenzverlaufes und der neuen Sicherungslinie zu gewährleisten. Grenzsoldaten des DDR-Grenzregimentes „Walter Junker“6, Pioniereinheiten des Grenzkommandos Mitte und eine Brigade des Staatlichen Forstbetriebes der Oberförsterei Potsdam führten die Arbeiten fristgemäß aus.
So konnte der Regierende Bürgermeister von Berlin (West) mit einer größeren Delegation bereits am 5. Juni 1972 gegen 10 Uhr, also nur wenige Stunden nach Inkraftsetzung der Vereinbarung, das Gebiet betreten. In dieser Gruppe befand sich auch der Kommandant des US-Sektors von Berlin, Generalmajor Coob, der allen zur Sicherung eingesetzten DDR-Grenzsoldaten die Ehrenbezeigung erwies. Am Tage nach der Besichtigung begannen die Straßenbauarbeiten zur Anbindung von Steinstücken an das Westberliner Straßennetz. Die festliche Eröffnung erfolgte am 30. August 1972.
Der Gebietsaustausch wurde in diesem Abschnitt ohne Vorkommnisse abgeschlossen und führte dazu, daß in ihm danach keine schweren Grenzzwischenfälle mehr auftraten. Allerdings sagte es bestimmten westlichen Kreisen keineswegs zu, daß in diesen sensiblen Grenzabschnitt Besonnenheit, Ruhe und Ordnung einzogen. Da es hier keine besonderen Vorkommnisse und spektakulären Ereignisse mehr gab, versuchten Scharfmacher sie zu organisieren, oder es wurden Ereignisse verfälscht bzw. erfunden.
So auch am 5. April 1973. An jenem Tage funktionierten Redakteure der Westberliner „BZ“ die Routinekontrolle einer Bootskompanie in eine „Suche nach erschossenen Grenzverletzern“ um.
In den siebziger Jahren erfanden Westberliner Massenmedien am Glienicker See laufend nächtliche Schüsse der Grenzposten, und ihre Gewährsmänner „sahen“ auch bei Dunkelheit und Nebel „die Bergung verwundeter und toter Grenzverletzer“.
Selbst eine Jagd im Grenzabschnitt Falkenhöh-Albrechtshof machten diese Presseleute zum „folgenschweren Zwischenfall an der Grenze“. Über den wahren Sachverhalt schrieb „Neues Deutschland“ am 22. Mai 1985: „Die ganze, von der Presse breitgewalzte Geschichte ist von A bis Z erlogen. Tatsache ist: Im Raum zwischen den Siedlungen Falkenhöh und Albrechtshof und der Staatsgrenze fand am 19. Mai zwischen 18.30 Uhr und 21.00 Uhr eine Ansitzjagd von Mitgliedern einer Jagdgesellschaft statt. Gegen 19.45 Uhr gab einer der Jäger etwa 250 Meter von der Staatsgrenze entfernt drei Schuß aus einer Jagdwaffe ab und erlegte einen Rehbock. In der Zeit zwischen 20.00 Uhr und 20.30 Uhr brachte etwa 1.500 Meter nördlich davon ein Jäger durch einen Schuß ein Wildschwein zur Strecke ...“ Journalisten des ZDF, die Gelegenheit bekamen, den Sachverhalt vor Ort zu überprüfen, vermeldeten danach kleinlaut, einem Schwindel aufgesessen zu sein.
Wer heute mit dem Linienbus von Berlin-Wannsee nach Potsdam-Babelsberg und dabei durch den Ortsteil Steinstücken fährt, wird die frühere Brisanz dieses geschichtsträchtigen Abschnitts des Kalten Krieges nicht einmal erahnen. Vielleicht kann man noch den Landeplatz für die Hubschrauber der US-Armee ausmachen. Aber in der Zeit, als Westberlin noch die „billigste Atombombe“ war, hätten ein leichtfertiger oder unbedachter Soldat des DDR-Grenzregimentes „Walter Junker“ oder ein unbeherrschter US-Militärpolizist der 287. MP-Kompanie an dieser Enklave den dritten Weltkrieg auslösen können.
Wolfgang Krug
1 Nach schwierigen, siebzehn Monate andauernden Verhandlungen paraphierten die bevollmächtigten Vertreter der UdSSR, der USA, Großbritanniens und Frankreichs am 3. September 1971 das Vierseitige Abkommen über Westberlin. Damit wurde bekräftigt, daß Westberlin kein Bestandteil der BRD war. Und erstmals unterzeichneten die Vertreter der vier Mächte ein völkerrechtliches Dokument, in dem die DDR als souveräner Staat, ihre Grenzen und ihr Territorium als unantastbare Realität akzeptiert wurden.
2 Sie wurde ausgelöst durch Einheiten der US-Streitkräfte, die sich in Marienborn und Drewitz/Autobahn den in internationalen Abkommen vereinbarten Kontrollen der zuständigen sowjetischen Organe verweigerten.
3 Im September 1997 wurde dieses Ereignis in einem Alibiprozeß vor der 32. Strafkammer des Landgerichts Berlin aufgerollt und festgestellt, daß zwei kriminelle und rechtsradikale Personen für diesen Anschlag verantwortlich waren Der 70jähnge D. und der 61jährige G. wurden verurteilt „Neues Deutschland“ schrieb zum Prozeßende am 1 Oktober 1997 „Na bitte, mag mancher denken, nun ist auch ein Mauerschütze West verurteilt worden. Noch dazu wegen Mordversuchs. Stimmt. Allerdings nur zu fünf Jahren. Und erst 27 Jahre nach dem feigen Mordanschlag aus dem Hinterhalt auf eine DDR-Grenzstreife. Nach Schüssen auf zwei bayerische Polizisten war derselbe, heute 70jährige Günter D. 1989 hingegen sofort wegen des gleichen Verbrechens zu elf Jahren verknackt worden. Ist das Leben von DDR-Grenzern so viel weniger wert? Das einstige NPD-Mitglied habe die Soldaten zum Freiwild erklärt, weil sie in einem kommunistischen Land lebten, sagte Staatsanwalt Reiff in seinem Plädoyer. Stimmt. Das trifft aber ebenso auf den späteren BRD-Astronauten Furrer zu, der auf den DDR-Grenzer Egon Schultz geschossen hat. Ob er für dessen Tod (mit)verantwortlich war, ist bis heute nicht geklärt Er wie andere „Fluchthelfer“, die sich bedenkenlos den Weg freischossen, wurden nie angeklagt, trotz toter Grenzsoldaten Warum wohl ...“
4 Dem Gebiet der DDR wurden zugeordnet ein Gebiet im Ortsteil Finkenkrug (ca. 3,4 ha), der Gebietsstreifen im Teufelsbruch/Eiskeller im Kreis Nauen (ca. 0,3 ha), das von Klein-Glienicke umschlossene Gebiet am Böttcherberg (ca. 3 ha), das Gebiet Große Kuhlake im Forst Falkenhagen (ca. 8,0 ha) und das Gebietsteil im Raum Nuthewiesen bei Drewitz (ca. 3,6 ha) Die Gesamtfläche betrug ca. 18,3 ha - Den Westsektoren Berlins wurden zugeordnet ein Gebietsstreifen entlang der Eisenbahnlinie Seddin-Berlin (West) (ca. 2,3 ha), der nördliche Teil des Friedhofs Frohnau (ca. 4,1 ha) und ein Gebiet im Raum Teufelsbruch/Eiskeller bei Nauen (ca. 10,7 ha) Die Gesamtfläche betrug ca. 17,1ha.
5 Es handelte sich um einen Gebietsstreifen entlang der Eisenbahnstrecke Seddin - Berlin (West) von ca. 1,0 km Länge und 20 m Breite sowie um die vor Steinstücken nach Westen abzweigende Straße bis zur westlichen Straßengrenze der Teltower Straße in der Breite der Fahrbahn von ca. 3 m einschließlich der Brücke.
6
Walter Junker, Kommunist, Spanienkämpfer.
Gefallen am 28 7 1938 wenige Kilometer vor der Stadt Gandesa.
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