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Den Panzer sehen und schreien war eins

(Berlin)

 

Damals arbeitete ich als Instrukteurin im Zentralrat der FDJ unter den Linden. Als der erste Demonstrationszug am 16.6.1953 überraschend an der Rückfront unseres Gebäudes (Mittelstraße) entlangzog, liefen ich und eine Anzahl weiterer Mitarbeiter ihm spontan hinterher und landeten schließlich - ringsum eingekeilt und umtost von Sprechchören - inmitten von Bauarbeitern vor dem Haus der Ministerien. Ihre Proteste und Forderungen bewegten sich sämtlich um die bekannte Normenfrage u. ä. An Losungen, wie „Freiheit" oder „Beseitigung der DDR" erinnere ich mich nicht. Daß es den Bau- und anderen Arbeitern vorrangig um das Geld in der Lohntüte ging, wird dagegen durch eine Episode bestätigt, die ich noch deutlich vor Augen und Ohren habe. Denn als einer von uns unfreiwillig „Mitdemonstrierenden" ein beschwichtigendes Wort an seine Nachbarn zu richten versuchte, wurde er lauthals nach seinem Einkommen befragt und - noch bevor er antworten konnte - niedergeschrieen. Eigentlich war ich der Meinung, daß wir weniger als die stolzen Erbauer der Stalinallee verdienten. Bekanntermaßen entlohnte die FDJ ihre Mitarbeiter nicht üppig. Für uns zählte die politische Aufgabe. In Einstellungs- oder Versetzungsgesprächen wurde nicht über Geld gesprochen, aber zum Leben hatte es bisher gereicht. Immerhin waren die wichtigsten Nahrungsmittel noch rationiert, d. h. billig. In der HO leistete man sich höchstens mal am Gehaltstag ein Stück feines Gebäck als Vorgeschmack auf eine erfreuliche Zukunft, die mit jeder Preissenkung etwas naherrückte und für deren solide Grundlagen nicht zuletzt Hunderttausende FDJ-Mitglieder ihre Kräfte einsetzten. Viele von ihnen, sowie auch Ältere, wollten unserem jungen Staat mehr geben als nehmen und verzichteten wie ich namentlich für den Aufbau der Stalinallee seit geraumer Zeit auf einen Teil des Arbeitseinkommens. Deshalb hatte ich ganz gern Genaueres über den Lohn der unzufriedenen Erbauer gewußt, aber sie nannten keine Beträge. Einen weiteren widerspenstigen FDJler sah ich zum allgemeinen Gaudi über die Köpfe hinweg ins Abseits befordert.

Ich war zunehmend verwirrt und besorgt, zumal ich die ganze Aufregung nicht recht verstand. Bereits vor mehr als drei Jahren hatte unsere Studentenbrigade die Norm der ebenfalls am „Walter-Ulbricht-Stadion" eingesetzten Bauarbeiter regelmäßig mit weit über 200 Prozent erfüllt. Inzwischen hing von der vernünftigen Lösung dieses Problems die weitere Entwicklung der Volkswirtschaft und damit des Lebensniveaus der Bevölkerung ab. Wahrscheinlich war es aber doch irgendwie unglücklich angepackt worden. Allerdings hatte man die umstrittenen Regelungen nach meiner Auffassung bereits zurückgenommen. Die vorangegangenen „Irrtümer" der Partei- und Staatsführung empfand ich als peinlich - war ich doch zuvor davon überzeugt gewesen, daß deren kollektive Weisheit und Volksverbundenheit stets den richtigen Kurs garantieren werde.

Heute erscheint mir der 16. Juni vor dem Haus der Ministerien als harmloser Auftakt zum Folgetag. Denn auch die diskussionsbereiten Antifaschisten und DDR-Minister Rau und Selbmann wurden zwar ausgepfiffen und massiv am Sprechen gehindert, aber nicht tätlich angegriffen. Die Demonstranten wollten Grotewohl persönlich herbeizitieren und hörten seinen beiden mutigen Vertretern nicht zu, die sich nacheinander von einem rasch herangeschleppten Tisch aus verständlich zu machen versuchten und schließlich erfolglos zurückzogen. Als sich die Menge allmählich zu verlaufen begann, kehrten wir an unseren Arbeitsplatz zurück.

Abends nahm ich an der Tagung des Berliner Parteiaktivs im Friedrichstadtpalast teil. Im Präsidium saßen die Mitglieder des Politbüros des ZK der SED. Die Reden klangen ernst und in ihrer Art ungewohnt. Ich fand es jedoch gut, daß die zurückliegenden Fehler von der Parteiführung offen und selbstkritisch angesprochen wurden. Dies schien eine Atmosphäre der Gemeinsamkeit, Entschlossenheit und Zuversicht zu schaffen. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl einer Bewahrungssituation, in der ich mich unseren großen Vorbildern, den antifaschistischen Widerstandskämpfern, näher als sonst fühlte. Zufällig traf ich nach Abschluß der Veranstaltung Horst Schumann, den Sohn eines von den Nazis hingerichteten Kommunisten. Wir hatten beinahe den gleichen Heimweg und fuhren gemeinsam mit der S-Bahn. Sie war ziemlich voll, und die Atmosphäre schien irgendwie anders als sonst. Aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein, denn es geschah nichts Außergewöhnliches.

Eigentlich erwarteten die meisten von uns am nächsten Morgen keine weitere Demonstration. Aber dann traf die Nachricht doch ein und wir rannten erneut zum Haus der Ministerien. Diesmal - im Gegensatz zum Vortag - „organisiert", obwohl ganz freiwillig. Den Kern unserer Gruppe bildeten Lehrgangsteilnehmer der Jugendhochschule Bogensee, mit denen an diesem Tag angeblich Kadergespräche geführt werden sollten. Trotzdem lag unsere Anzahl nach meiner Erinnerung unter Hundert. Als wir ankamen, war der Platz noch leer, doch wir sahen den Demonstrationszug bereits von weitem in der Leipziger Straße heranrücken. Mir war unverständlich, daß unser wichtigstes Regierungsgebäude an diesem Tag völlig schutzlos lag. Die Fenster blieben geschlossen und nichts rührte sich, wahrend wir uns an den Händen faßten und zumindest die der Leipziger Straße zugewandte Ostseite des Platzes abzusperren versuchten. Selbstverständlich konnte das nicht mehr als eine symbolische Handlung sein. Denn wir Jungen und Madchen bildeten lediglich eine leicht zu durchbrechende Kette, und der Rest des großen Platzes blieb offen. Es war danach ein beklemmendes Gefühl, als die protestierenden Massen unaufhaltsam näherkamen. Alles schien möglich. Doch dann schwenkte der Zug unmittelbar vor dem zwar schwachen, aber standhaften Hindernis zur Seite, lenkte um unsere offene linke Flanke herum und kam auf der Kreuzung Leipziger-/Otto-Grotewohl-Str. zum Stehen. Bald waren auch die umliegenden Straßen von nachrückenden Demonstranten besetzt. Eigenartigerweise blieb der zuvor durch uns halbseitig abgesperrte Platz aber selbst dann noch weiträumig frei, als wir von der Menschenmenge bereits aufgesogen und voneinander getrennt worden waren. Auf unserer Seite soll es dabei Verletzte gegeben haben - aber Genaues ist mir darüber nicht bekannt.

Zunächst machte man keine Anstalten, über die leere Fläche naher an das Gebäude heranzurücken, während in dem unmittelbar am Haus der Ministerien vorbei- und zur Sektorengrenze führenden Abschnitt der Leipziger Straße bald danach Scheiben klirrten und Qualm aufstieg. Ich hatte auch den Eindruck, daß ein deutlicher Zustrom an Demonstranten aus westlicher Richtung erfolgte. Mir ist erinnerlich, daß die Stimmung im Gegensatz zum Vortag zunehmend aggressiv und von bestimmten Punkten aus systematisch angeheizt wurde. Unmißverständliche Parolen - an die ich mich allerdings nicht im einzelnen erinnere -Verbrennen einer roten Fahne, Deutschlandlied - und zugleich nun auch ein allmähliches Vorrücken über den Platz und auf das Haus zu ...

Die Lage eskalierte! Ich hatte keinen Zweifel, daß dies - sofern man den Ereignissen ihren Lauf ließ - zu einem Fronatalangriff auf das wichtigste und zumindest in meinem Blickfeld noch immer ungeschützte Regierungsgebäude der DDR fuhren würde.  

  Quelle Bundesarchiv 77/35/8

Sowjetische Panzer am Mittag des 17. Juni 1953 Ecke Friedrichstraße/Leipziger Straße, Berlin

Doch als der Siedepunkt erreicht und der Ansturm unmittelbar bevorzustehen schien, rollte aus Richtung Brandenburger Tor ein Panzer heran. Ihn sehen und schreien war für jeden eins. Ich schrie vor Erleichterung. Aber sogar der Schrei aller horte sich freudig an. Später erklärte ich mir dies damit, daß die Kennzeichnung nicht für jeden sichtbar war und bekanntermaßen unmittelbar jenseits des Brandenburger Tores amerikanische Panzer standen. Aber es war ein sowjetischer. Und er walzte keinesfalls - wie das heute obligatorisch behauptet wird - alles nieder, sondern fuhr nur ebenso vorsichtig wie unaufhaltsam heran. Einzig der aufrecht in seiner Luke stehende Panzerkommandant schien sich einer Gefahr auszusetzen. Wenn ich mich recht erinnere, schwenkte der Panzer ab, als sich ein anderes sowjetisches Armeefahrzeug (das ich nicht exakt beschreiben kann) im restlichen Freiraum vor dem Gebäude postiert hatte. Auf der Plattform standen eine Handvoll Soldaten neben einigen - zunächst noch khakifarben verhüllten - Gegenständen. Heute zeigt mir die Erinnerung nur diese länglichen Verpackungen, obwohl wir danach mehrfach zu sehen bekamen, was darunter steckte. Den Hüllen nach mußten es allerdings Maschinengewehre gewesen sein. Eines weiß ich dagegen sicher: was für Waffen es auch waren - sie kamen nicht zum Einsatz. Denn nachdem sich die Menge vom ersten Schreck erholt hatte (da die Besatzung des Fahrzeuges völlig unbewegt blieb), ruckte sie grollend und entschlossen gegen dieses sowie das Gebäude vor. Wonach schlagartig jene Hüllen fielen und die Massen zurückwichen. Danach wurden die Gerate jedoch wieder verpackt, bis der Ansturm erneut -und diesmal noch grimmiger - einsetzte. Die gleichen Reaktionen auf beiden Seiten. Und das wiederholte sich mehrmals! Meinem unverändert seitlichen Standort teilte ich mit nur wenigen Demonstranten, die sich abwartend verhielten. Dagegen versuchten die Massen von der Leipziger Straße aus, d. h. frontal gegen das Gebäude vorzurücken. Dorthin richteten sich auch die sowjetischen Waffen. Obwohl ich demnach nicht unmittelbar gefährdet schien, lagen meine Nerven blank, und ich fieberte einem unblutigen Ende entgegen. Irgendwann kam das dann auch: über Lautsprecher gab man den vom sowjetischen Stadtkommandanten verhängten Ausnahmezustand und - darin eingeschlossen - das Verbot jeglicher Menschenansammlungen bekannt. Quittiert wurde dies zunächst durch allgemeines Empörungsgeschrei, aber dann flaute die Erregung doch merklich ab, und die Menge begann sich zu zerstreuen.

Als ich danach inmitten Hunderter am Brandenburger Tor vorbei und bis zum Zentralratsgebäude ein Stück die „Linden" entlanglief, vermutete ich trotzdem, daß die Gefahr für unseren jungen Staat noch nicht abgewendet war. Und selbst der Frieden schien - in einer ohnedies hochexplosiven internationalen Situation - nur an einem dünnen Fädchen zu hängen. Deshalb werde ich die folgende Nacht nie vergessen. Wir verbrachten sie im Gebäude des Zentralrates, in dem jeder zur Verteidigung bereit war. Aber wir besaßen keine Waffen. Wachen wurden eingeteilt. Wer nicht unmittelbar gebraucht wurde - und das betraf die meisten Mädchen - konnte im Kinosaal Filme ansehen oder zu schlafen versuchen. Mir gelang das nicht, denn ich mußte an die nur wenige Jahre zurückliegenden Bombennächte in Dresden denken. Es war eine grauenhafte Vorstellung, daß ähnliches wiederholbar und alle Anstrengung für ein besseres, friedliches Leben umsonst gewesen sein konnte. Ich lauschte in die Dunkelheit hinaus und hatte Angst, den ersten amerikanischen Panzer durch das wenige hundert Meter entfernte Brandenburger Tor rattern zu hören. Der Morgen graute bereits, als ich für kurze Zeit zur Ruhe kam.

An Einzelheiten der beiden Folgetage erinnere ich mich kaum. Mit anderen wurde ich zur Unterstützung der politischen Arbeit in einen Berliner Betrieb (Jachtwerft Köpenick) geschickt. Außerdem bemerkte ich im Stadtbild sowjetische Panzer, allerdings sämtlich in Ruhestellung. Wahrscheinlich versagt mein Gedächtnis vor allem deshalb, weil äußere Wahrnehmungen in dieser Zeit von der Angst um meinen Mann überlagert wurden. Denn inzwischen waren aus den Bezirken Nachrichten über mißhandelte, gefolterte und sogar grausam getötete Funktionäre eingetroffen - und mein Mann, der ebenfalls im Zentralrat der FDJ arbeitete und sich am 17. Juni dienstlich in Jena befunden hatte, wurde vermißt. Als mich Werner Lamberz rufen ließ und mir diese Hiobsbotschaft schonend mitteilte, merkte ich an seinem Hilfsangebot für mich und unsere Söhne, daß man das Schlimmste befürchtete. Glücklicherweise klärte sich am dritten Tag alles auf - aber jene qualvolle Ungewißheit bleibt mir unvergeßlich.

Kurz danach wurden wir per Bus in kleinen Gruppen „an die Basis", diesmal in die zuvor bestreikten Großbetriebe des Landes gebracht - ich mit anderen in den VEB Waggonbau Ammendorf bei Halle und danach zum VEB Waggonbau Dessau. Beide Betriebe arbeiteten inzwischen wieder ohne Störungen. Für uns war es schwierig, mit Arbeitern ins Gespräch zu kommen. Vor allem die Älteren nahmen uns „heurige Hasen" nicht ernst, aber direkter Feindseligkeit begegnete ich auch nicht. Die Mehrzahl der Jugendfunktionäre hatte sich achtbar gehalten, machte aber keinen Hehl daraus, daß sie die Verärgerung der Belegschaften in vielen Punkten verstand und teilte.

Da ich die meisten Beschwerden ebenfalls berechtigt fand, berichtete ich darüber in einer mündlichen Auswertung beim Zentralrat und wurde prompt vom damaligen 2. Sekretär - Heinz Lippmann - derart grob „abgebürstet", daß sich danach keiner der Beratungsteilnehmer mehr zu diesen Fragen äußerte, obwohl wir unmittelbar vorher noch gleicher Meinung gewesen waren. In Erinnerung an die wenig mehr als zwei Wochen zurückliegende Parteiaktivtagung fand ich die Reaktion Lippmanns zwar überraschend - aber andererseits sah ich in ihm nicht nur die zweithöchste FDJ-Autorität (nach unserem Vorsitzenden Erich Honecker), sondern auch einen Genossen, der über die aktuellen Beschlüsse des Politbüros meiner Partei besser als ich informiert sein mußte. Deshalb versuchte ich den Frust hinunterzuschlucken, kehrte nach Dessau zurück, beließ es allerdings in den verbleibenden Einsatztagen dabei, die Jugendfunktionäre des VEB Waggonbau bei der eigenständigen Auswertung des zurückliegenden Geschehens zu unterstützen.

Übrigens wechselte Heinz Lippmann wenige Monate nach seiner harschen Kritik an meinem angeblichen „Zurückweichen vor den Argumenten des Klassenfeindes" unvermittelt die Fronten und setzte sich nach dem Westen ab. Wahrscheinlich wurde er dort als „Held" empfangen. Was mich bis heute nicht daran hindert, ihn und seinesgleichen anders zu beurteilen.

Ursula Münch


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