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Westfahrräder auf dem Alex
(Berlin)
Am 16. Juni 1953 kam mein Vater, der in der DHZ-Haushaltschemie am Alexanderplatz arbeitete, lange vor Dienstschluß nach Hause, machte sich Stullen fertig und fuhr wieder in sein Büro, „da am Alex was los ist". Er blieb dort über Nacht, weil er befürchtete, daß sein Büro unbewacht nicht sicher war.
Daraufhin machte ich meinen „Hundespaziergang" von der Erich-Weinert-Str. im Prenzlauer Berg in Richtung Alex. Auf diesem Platz - damals gab es noch das Rasenrondell in der Mitte - lagen und standen 'zig Westfahrräder, (die es bei uns noch nicht gab), während zahlreiche Leute diskutierten. Ich versuchte mich einzumischen, hatte aber den Eindruck, daß meine Meinung nicht erwartet und damit nicht gefragt war. An die eigenartige „Beweisführung" eines West-Agitators erinnere ich mich aber noch deutlich: der westdeutsche Staat sei auf jeden Fall besser als der ostdeutsche, denn die ehemaligen Offiziere der Wehrmacht seien wohl nicht zufällig zum größten Teil in den Westen gegangen. Diese Argumentation machte mir klar, daß jede Diskussion mit solchen Leuten zwecklos war, und ich ging nach Hause. Danach wollten wir im Radio hören, was eigentlich los war. Aber die DDR-Sender brachten nur Operetten- und Tanzmusik. Als wir auf RIAS umschalteten, hörten wir in ständiger Wiederholung Aufmarschpläne für die Ostberliner und z. B. auch Oranienburger volkseigenen Großbetriebe zur Demonstration am 17. Juni im Stadtzentrum. Da auch der Termin für die Niles-Werke in Weißensee mit Marschrichtung durch die Prenzlauer Allee durchgegeben wurde, warteten wir am nächsten Tag auf die Marschkolonne. Die Niles-Werker kamen tatsächlich, es waren etwa 150 bis 200 Personen.
Später fuhr ich zur Invalidenstraße, wo ich als Landwirtschaftsstudentin des 2. Studienjahres an diesem Vormittag eine Vorlesung in Gesellschaftswissenschaft hören sollte. Unser Dozent war damals Parteisekretär der Humboldt-Universität. Er kam nicht. Daraufhin verlangten wir vom Dozenten für das 3. Studienjahr, uns in seine Vorlesung einzubeziehen. Auf die Frage von Studenten, ob denn nun der „Weg zum Sozialismus" weitergeführt werde, antwortete er, das würde das ZK der SED entscheiden; aber für die Studenten des letzten Studienjahres würde sich sicher der Prüfungsinhalt etwas ändern. Diese Antwort rief Widerspruch hervor, und alle verließen den Hörsaal.
Danach liefen wir von der Invalidenstraße zum Alex über die Linden Richtung Brandenburger Tor. Die Straße Unter den Linden war voller Menschen, auch auf der Fahrbahn. Ein Betrunkener wäre beinahe von einem Doppelstockbus überfahren worden. Es war keine eigentliche Demonstration, sondern die Leute liefen langsam wie eine Hammelherde, es waren auch keinerlei Aufrufe oder Parolen zu hören. Erst in der Nähe des Brandenburger Tores ordnete sich die Menge zu einem Demonstrationszug, wobei in Abständen jeweils kleine Trupps auffielen, welche Losungen riefen. Das schien die Masse jedoch nicht zu beeindrucken, die sich langsam ohne Äußerungen fortbewegte. Ich fragte einige Leute aus den aktiven Gruppen, woher sie kämen und erhielt die Antwort: vom DGB Westberlin. Auf dem Balkon der sowjetischen Botschaft stand der Berliner Stadtkommandant Generalmajor Dibrowa inmitten anderer Offiziere und sah sich das Treiben an. Dann gab er offensichtlich einigen Offizieren Befehle. Diese salutierten und gingen ins Botschaftsgebäude. Der Demozug schwenkte nach links, Richtung Haus der Ministerien. Auf der anderen Straßenseite kam ein Junge im Blauhemd gelaufen. Einige verlangten, er solle das Hemd ausziehen. Als er sich weigerte, wurde er tätlich angegriffen. Es sprangen aber andere Männer aus dem Zug hinzu und halfen ihm weg. Im Haus des Nationalrates hatte man die Szene beobachtet, öffnete das Tor und holte den Jungen hinein. Von den kleinen Trupps aus Westberlin wurden die aus den Fenstern schauenden Bürokräfte aufgefordert, Schreibmaschinen und Akten auf die Straße zu werfen. Aber sie schüttelten nur verwundert die Köpfe und schlössen die Fenster. Vor dem Haus der Ministerien waren LKW mit dem Heck zur Straße aufgefahren und bildeten eine lockere Sperre. Der Demozug wurde dadurch nach links umgelenkt. Bei den LKW standen Männer und versuchten mit den Demonstranten zu diskutieren. Aber mit Ausnahme der DGB-Trupps liefen diese recht interesselos vorbei. Dann ging plötzlich ein Gewitter los, und die meisten Demonstranten verzogen sich in die U-Bahn.
Auch wir gingen nach Hause. Dort standen noch einige Leute vor den Lebensmittelgeschäften. Die meisten Läden waren schon leergekauft. Unser Schlächter gab mir ein bereits fertig gepacktes Paket mit Fleisch und Wurst. Lebensmittelmarken und Geld könnte ich ja später bringen. Der Milchhändler hatte eine seiner Milchkannen für mein halbjähriges Baby gefüllt und ein Brot zurückgelegt. Alles andere war schon verkauft. Am späten Nachmittag erschienen dann bei uns die sowjetischen Panzer, die z.T. nicht weiterkamen, weil ihnen der Sprit ausging. Sie waren offensichtlich auf diesen Einsatz nicht vorbereitet gewesen.
Im RIAS brachte man eine Reportage über „die Flucht Otto Nuschkes" in den Westen. Er war mit dem Auto über die Grenze geschoben worden, und man erwartete offensichtlich einen dem Westen ins Konzept passenden Kommentar. Als er aber energisch protestierte und augenblicklich zurückwollte, wurde dieses Life-Interview abrupt unterbrochen. Wir versuchten es nochmals zu hören; aber in mehreren Wiederholungen war diese Stelle danach vollständig geschnitten.
In den folgenden Tagen wurde unsere Fakultät in der Invalidenstraße von SED-Genossen bewacht. Sie mußten jedoch nachts in den Gebäuden bleiben, weil auf den Straßen die Soldaten der Roten Armee patroullierten. Es blieb alles ruhig - bis auf den Einsturz einer Mauerruine, der wahrscheinlich durch die Vibration der schweren Fahrzeuge verursacht wurde.
Mein Hund lebte noch wochenlang von Keksen und Zwieback, den die Nachbarn in Panik gekauft hatten und nun doch nicht brauchten.
Anneliese
Brandt
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