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Der
Anzug des Wortführers
(Berlin)
Wahrend der Mittagspause am 16. Juni 1953 im Staatssekretariat für Hochschulwesen (Wilhelmstraße) spielten wir Volleyball auf dem hinteren Hof des Gebäudes. Von der Straße drangen ungewohnte Geräusche über die Hofmauer. Wir kletterten hinauf und sahen in der Leipziger Straße einen kleineren Demonstrationszug in Richtung Haus der Ministerien ziehen. Die Demonstranten trugen einige Transparente, an deren Farbe und Text ich mich nicht mehr erinnere. Wir horten sprechchorähnliche Rufe: wie etwa „Runter mit den Normen".
Für uns hatte das einen Überraschungseffekt. Zwar gab es Debatten über die ökonomischen Restriktionen und dann über deren Korrektur mit dem Anfang Juni verkündeten „Neuen Kurs", aber keinerlei Erwartung, die mit dem „Neuen Kurs" nicht korrigierte Normenfrage konnte massive Unzufriedenheit, gar eine Arbeiterdemonstration auslösen. Was wir von unserer Hofmauer aus wahrnahmen, machte uns neugierig. Deshalb gingen wir - etwa 30 Mitarbeiter, darunter unser Parteisekretär - ebenfalls zum Platz vor dem Haus der Ministerien. Dort stand bereits eine Plattform (Tisch oder Lieferwagen?), und auf ihm Fritz Selbmann. Er war seinerzeit Industrieminister. Bei den Arbeitern war er eigentlich populär wegen seiner von Ulbricht unterschiedenen Art, mit ihnen reden zu können. Jetzt sprach er dort. Es war keine eigentliche Rede, eher eine kurze Erklärung, der ein Dialog mit dem umstehenden Arbeitern folgte, von hinten her schwer verständlich. Es drang aber durch, daß die Regierung über die Rücknahme des Normen-Beschlusses berate oder beraten habe, meine Erinnerung ist ungenau. Die Kundgebungsteilnehmer verliefen sich friedlich, sicher aber noch nicht zufrieden.
Das Ganze schien meinen Genossen und mir zwar ungewohnt und überraschend, aber im Moment nicht etwa irgendwie bedrohlich. Am 16. Juni horten wir eigentlich nur zu und diskutierten eher beiläufig. Soweit ich mich erinnere, sahen wir keinen Anlaß, kontrovers zu streiten; denn die Proteste fanden wir verständlich, das Anliegen Normensenkung - von was anderem war nicht die Rede - plausibel und die angekündigte Lösung gut. Damit schien die Sache erledigt, wir gingen zurück zum Dienst. Am Abend gab es keine besondere Aufregung, keine besonderen Diskussionen. Alles lag scheinbar noch in der Bandbreite des Normalen. Mir ist erinnerlich, daß unser Parteisekretär - ein älterer Genosse, der bei den Nazis im KZ gesessen und auf die Vollstreckung seines Todesurteils gewartet hatte - bei der Bezirksleitung der Partei angerufen und über den Demonstrationszug sowie die gerufenen Losungen informiert hatte. Auf seine Bitte um Orientierung hatte er lakonisch erfahren, es handle sich um eine nicht angemeldete Demonstration, die nicht als bedrohlich eingeschätzt werde. Er kommentierte: die Bezirksleitung sei unsensibel.
Am 17. Juni, 9.30 Uhr empfing ich im Dienstgebäude einen nordkoreanischen Diplomaten. Zunächst bekam ich überhaupt nichts von irgendwelchen Ereignissen mit. Die Unterredung war gegen 11 Uhr beendet. Der Diplomat wurde anschließend 300 m weiter im Volksbildungsministerium erwartet, und ich wollte ihn zu Fuß dorthin begleiten. Jemand machte mich darauf aufmerksam, daß auf der Straße „etwas los" sei und der Gast selbst für diese kurze Strecke wohl besser den Wagen benutzen solle. Also organisierten wir, daß er mit dem Wagen von Innenhof zu Innenhof gefahren wurde.
Danach konnte von normalem Dienst keine Rede mehr sein. Die Parteileitung hatte uns Genossen aufgefordert, zum Marx-Engels-Platz zu gehen. Dort sei eine Demonstration und wir sollten agitieren. Als wir dort ankamen, waren vor dem damaligen Tribünenbau einige tausend Menschen versammelt, teils Protestierende, teils Leute wie ich, an den Parteiabzeichen erkennbar - nach meiner Schätzung vielleicht halbe-halbe. Ich traf Bekannte aus anderen Ministerien. In Gruppen wurde lebhaft vor allem über Lohne und Preise diskutiert. Von der Tribüne rief wohl jemand heftig gestikulierend den Generalstreik aus. Aber so richtig war das nicht mitzubekommen. Die meisten Debatten wurden äußerst erregt geführt. Allerdings erinnere ich mich nicht, daß geschlossene Arbeitergruppen dabei waren. Diskussionsrunden auf Straßen und Platzen war ich z. B. von den Weltjugendfestspielen gewohnt. Nichts Neues also, nur ging es diesmal viel erregter, manchmal etwas aggressiv zu. Ich diskutierte mit, kann mich heute allerdings nicht mehr an Einzelheiten erinnern. Einige Meter weiter sah ich Kurt Hager in einer Gruppe diskutieren - er war damals Abteilungsleiter im ZK der SED - sowie andere leitende Funktionäre aus dem zentralen Parteiapparat. Einem unserer Diskutierer (Hermann Tschersich, später Staatssekretär im Gesundheitsministerium) wurde ein Ei auf dem Kopf zerdrückt. Er ertrug es mit Gelassenheit und sprach ruhig weiter, was ihm offenkundig Respekt einbrachte. Plötzlich hörten wir aus Richtung Rathausstraße/Marstall laute Motorengeräusche, und bald erschienen Panzer. Das muß um die Mittagsstunde gewesen sein. Auf dem Platz entstand eine Mischung von Panik und aggressiver Wut. Die Genossen waren ja nicht nur durch ihre Diskussion, sondern auch an den Parteiabzeichen erkennbar. Vereinzelt gab es Ansätze von Prügeleien - auch in meiner Gruppe. Da wurde ich plötzlich von hinten gepackt und aus der Runde herausgerissen. Jemand sagte: „Komm hier raus, sonst könntest du Schaden nehmen und Beulen kriegen". Es war ein Kraftfahrer meiner Dienststelle, den man einige Wochen zuvor wegen irgendwelcher Disziplinlosigkeiten mit meiner Zustimmung - ich war BGL-Vorsitzender - fristlos entlassen hatte. Danach geschah folgendes: Die Panzer bogen in aufgelockerter Formation auf den Platz ein, und die Leute liefen schnell auseinander bzw. sammelten sich spontan unter den Masten der Platzbeleuchtung. Das waren meist die Genossen. Ich glaube, es kamen auch Militär-Lkw - aber meine Erinnerung ist nicht mehr genau. Waffengebrauch gab es nicht, auch keine Warnschüsse. Die Panzer fuhren in Richtung Brandenburger Tor. Für mich erhielt das Geschehen eigentlich erst durch die Panzer eine etwas unheimliche Dimension - vorher erschien mir alles zwar höchst neuartig und ungewohnt, aber doch beherrschbar. Das Gefühl, Zeuge eines Aufstandes zu sein, hatte ich keineswegs.
Der Platz war im Nu menschenleer, und ich lief in meine Dienststelle zurück. Dabei geriet ich Unter den Linden/Ecke Friedrichstraße, in eine weitere Diskussionstraube. Mittendrin ein Wortführer mit Fahrrad und einem für unsere damaligen Begriffe hocheleganten Anzug aus phantastischem Stoff. (Wegen des vorangegangenen Treffs mit dem Diplomaten trug ich meinen besten Anzug - er wirkte dagegen schäbig.) Der Mann versuchte mit bemerkenswerter Demagogie zu erklären, wie schlecht es uns doch allen ginge. Inzwischen hatte ich mich zu ihm durchgearbeitet und befühlte dauernd seinen Anzug. Er wurde sichtlich nervös und forderte mich auf, das zu lassen. Daraufhin bemerkte ich ironisch, daß ich doch nur die Umstehenden darauf aufmerksam machen wolle, wie allein schon der dürftige Stoff seines Maßanzuges unsere total miese Lage erkennen lasse. Danach schlug die Stimmung um, denn die Leute merkten nun auch, daß der über unsere angeblich so schlechten Verhältnisse Lamentierende offenbar gar kein Hiesiger war. Und ich hatte die Lacher vollends auf meiner Seite, als ein Arbeiter rief, mit mir könne man ja reden, denn: „Du siehst genau so verhungert aus, wie wir". Nun hatte ich zwar nicht unter Hunger zu leiden, aber meine damals noch überschlanke Erscheinung konnte durchaus so interpretiert werden. Ergebnis: der Agitator verschwand mit seinem Fahrrad in Richtung Brandenburger Tor, und ich diskutierte danach fast eine Stunde in dieser Runde. Es machte Spaß und ging scharf bis heftig, im ganzen aber doch sachlich zu. Jedenfalls aus meiner Sicht und wohl auch durch mein Zutun, denn ich hatte nur das aktuelle Geschehen im Blick und konnte den Streitpartnern sogar einräumen, daß sie mit ihren Beschwerden durch den Neuen Kurs ja im Grunde recht bekommen hätten und die Partei dabei sei, Fehler zu beseitigen. Das entsprach auch meiner eigenen Überzeugung. Diese war bis etwa in den August/September hinein durch die praktische Politik gedeckt, die sich auch auf meine eigene Arbeit auswirkte. Denn wir stellten lebhafte Überlegungen darüber an, daß wir uns „von den Massen gelöst" hätten, worin diese Loslösung bestand und - wichtig - welche Änderungen in unserer eigenen Arbeit notwendig seien. In meinem Bereich führte das zu einigen Schlußfolgerungen, die erhalten blieben und auch später nicht zurückgenommen wurden.
Am 18. oder 19.6. fand eine Art Gegendemonstration der Berliner FDJ statt. Ihr Ort - Unter den Linden/Ecke Neustädtische Kirchstraße - war damals noch ein großer freier, schon enttrümmerter Platz. Erich Honecker, damals Vorsitzender der FDJ, sprach und erhielt - trotz seiner rhetorischen Mißgeschicke - starken Beifall. An den Inhalt erinnere ich mich nur oberflächlich, während mir das sehr kämpferische Klima noch gegenwärtig ist. Auch ein neuer, sympathischer Ton kritischer Nachdenklichkeit ist mir im Gedächtnis geblieben. Symptomatisch für dieses neue Klima waren zahlreiche Foren sowie eine regelmäßige Kolumne in der Berliner Zeitung, für die alternierend Stefan Heym und der Schweriner Dompfarrer Kleinschmidt verantwortlich zeichneten. Dieses produktive demokratische Klima verflüchtigte sich in gehobenen Parteikreisen jedoch schon bald und wurde durch eine Art „17.-Juni-Trauma" verdrängt.
Meine heutige Sicht, zu der ich etwa seit Ende der 60er Jahre gekommen bin, entspricht in etwa der Sicht in Stefan Heyms „5 Tage im Juni" und der Einschätzung, die Brecht dem 17. Juni gegeben hatte. Im Spiel waren ökonomische und politische Ursachen für legitimen Protest, aber auch noch Bedingungen und Ursachen („Altlasten" aus der Nazizeit) für innere Feindseligkeit gegen die DDR - vereint mit geschickten Einflüssen vor allem der westlichen Funkmedien, in Berlin zudem unmittelbar von Personen. Aber keinesfalls waren nur äußere Einflüsse am Werke. Das Sicherheitsproblem für die DDR entstand nicht so sehr durch die Ereignisse am 17. Juni selbst. Es erwuchs paradoxerweise daraus, daß die Führung der SED und die Sicherheitsorgane den 17. Juni primär als ein Sicherheitsproblem ansahen und nicht als ein politische Problem, welches in der mit dem Neuen Kurs begonnenen Tendenz konsequent politisch statt repressiv hätte gelöst werden müssen.
Wolfgang Hartmann
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