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Also nur diskutieren?!

(Magdeburg)

Gegen 9 Uhr befand ich mich mit der Straßenbahn auf dem Weg von der Bezirksleitung der FDJ zur Stadtbezirksleitung Süd. Am Hasselbachplatz wurden wir zum Verlassen der Bahn aufgefordert, weil die Arbeiter des Thälmannwerkes streikten und demonstrierten. Unter den Ausgestiegenen entbrannte eine heftige Diskussion. Die einen meinten: sie streiken zu Recht wegen der Norm- und Preiserhöhung; die anderen hielten dagegen: in der Zeitung steht aber, die Normerhöhung sei zurückgenommen worden. Nach meinem Eindruck waren die meisten darüber aber noch nicht informiert.

Inzwischen füllte sich der Hasselbachplatz immer mehr mit Diskutierenden. Dann hieß es: die Thälmannwerker kommen! Sie rückten aus Richtung Buckau heran und nahmen die gesamte Breite der heutigen Sternstraße ein. Die meisten waren in Arbeitskleidung. Nach Überqueren des Hasselbachplatzes bogen die Demonstranten in den Breiten Weg ein. Sie trugen einige Losungen, mit denen die Rücknahme der Norm- und Preiserhöhungen gefordert wurden. Aus dem Zug lösten sich Personen mit Werkzeugen, Hämmern, Eisenstangen und ähnlichem. Sie rissen Fahnen herunter, zerstörten Transparente sowie eine riesige Plakatwand. Aus einzelnen Fenstern der Wohnhäuser Breiter Weg wurden den Demonstranten Blumen zugeworfen.

Da keine Straßenbahn mehr fuhr, ging ich zu Fuß zurück zur Bezirksleitung der FDJ. Dort wurden wir auf einer von unserem Sekretariat durchgeführten Mitarbeiterberatung angewiesen, bei Herankommen der Demonstration das Haus zu verlassen, keine Gegenwehr zu leisten und danach mit den Demonstranten auf der Straße zu diskutieren. Argumentiert wurde damit, daß es sich bei ihnen doch größtenteils um Arbeiter handele, gegen die man nicht mit Gewalt vorgehe.

Also nur diskutieren!?

Nach dieser Instruktion zog sich das Sekretariat zur Beratung in eine am Stadtrand gelegene Wohnung zurück, während wir das Haus verließen. Inzwischen waren die Demonstranten auch schon heran. Ein Teil verschaffte sich mit Gewalt Zugang zum Haus und begann darin zu wüten. Angefangen vom Parterre bis in die letzte Etage wurden Türen aufgebrochen und mit Hämmern das Mobiliar, die Scheiben usw. zerschlagen. Wir versuchten vergebens, diese blindwütigen Vandalen von ihrem Vernichtungswerk abzuhalten. Als sich auch Demonstranten in Arbeitskleidung gegen die Zerstörer wandten, verprügelte man sie. Schreibmaschinen, Bücher, Akten und weitere Gegenstände wurden aus den Fenstern geworfen, während sich Plünderer Musikinstrumente und andere Sachen aneigneten. Vor dem Haus wurde dann ein großer Hauten Akten und Bücher angezündet. Als einige zu löschen versuchten, wurden sie von anderen mit Gewalt daran gehindert.

Während dieser Szenen fuhr ein offenbar erbeuteter Lautsprecherwagen der Volkspolizei vor, und ein Sprecher forderte die Massen auf, zur „Alten Neustadt" mitzukommen und die politischen Gefangenen zu befreien. Ob jemand diesem Aufruf folgte, konnte ich in dem heillosen Durcheinander nicht feststellen.

Die Demonstranten, Rowdys und Plünderer wurden erst durch das Eintreffen der sowjetischen Truppen vertrieben.

Paul Kubbe


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