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Ein Blauhemd gab das Marschziel an

(Berlin)

 

Im Juni 1953 war ich 23 Jahre alt und arbeitete als Lehrerassistent an der Pionierleiterschule Prieros. Ich erinnere mich, daß unsere Schulleitung am 16. Juni 1953 stundenlang Radio hörte und in einer Beratung zusammensaß, während wir uns um die Schüler kümmerten. Erst am Abend informierte man uns über Probleme und Unruhen in Berlin.

Am frühen Morgen des 17. Juni 1953 zwischen 4 und 5 Uhr wurden wir in einen Autobus verladen und nach Berlin transportiert. Zu unserer Schule gehörten über 100 Jugendliche, die meistens 19 oder 20 Jahre alt und zu zwei Dritteln Mädchen waren. Meine Klasse bestand aus ungefähr 15 Mädchen und 5 Jungen. Wir alle trugen vorbildliche FDJ-Kleidung mit Windjacken und blauen Hemden oder Blusen. Waffen besaßen wir selbstverständlich nicht.

Später wurden wir am Alexanderplatz eingesetzt und hatten die Anweisung, mitten im Demonstrationszug zu bleiben und ihn nach Möglichkeit zu trennen. Deshalb stellte ich mich mit meinen Schülern in der Nähe einer Truppe von Zimmerleuten auf, die immer schrie: „HO - K.o." Wir wunderten uns, daß einige ältere, etwa vierzigjährige Männer unter ihren Sakkos ebenfalls FDJ-Blauhemden trugen. Einer von ihnen hatte ständigen Kontakt zu drei Zivilisten, die aus einem Auto mit US-amerikanischem Kennzeichen gestiegen waren. Er gab dann auch die eigenartige Weisung, daß der ganze Zug zum Haus der Ministerien gehen sollte und setzte sich mit den anderen weiter vorn an die Spitze.

Seitens der Volkspolizei wurde offenbar die gewaltlose Aufsplitterung des Demonstrationszuges beabsichtigt, denn sie bildete verschiedentlich mitten auf der Straße Ringe, an denen er sich trennen mußte. Wir hatten eine ähnliche Aufgabe zu erfüllen und verzögerten - während man die Rathaus-, und die Dircksenstraße entlangmarschierte - absichtlich das Tempo. Schließlich bildeten wir die erste Reihe eines getrennten Demonstrationszuges, den wir in der Nähe des Gerichtsgebäudes umzulenken und zum Alexanderplatz zurückzuführen versuchten. Doch da kam der eigenartige Blauhemdträger auch schon zurück und schrie: „Jungs, ihr werdet hier provoziert - die führen euch 'rum!" Oder so ähnlich. Das hätte gefährlich für uns werden können. Glücklicherweise konnten wir sofort ins Haus der Jungen Talente flüchten, wo wir die weitere Entwicklung abwarteten. Die nächsten Tage blieben wir dort und wohnten im großen Saal des ehemaligen Palais Podewils.

Nach diesem Erlebnis zweifelte eigentlich niemand von uns daran, daß die Ereignisse des 16./17. Juni 1953 vom Gegner gesteuert worden waren. Es schien, daß man verstanden hatte, den berechtigten Unwillen der Arbeiter wegen der administrativen Normenerhöhung und anderer Mißstände in konterrevolutionärer Richtung fehlzuleiten. Wir hatten außerdem auch die vielen Westberliner Radfahrer gesehen. Als später die Sektorengrenzen abgeriegelt wurden, konnten manche von denen nicht mehr zurück und wurden festgenommen.

Im Hinblick auf die zahlreichen Übergriffe betrachte ich heute allerdings den Einsatz unserer Schüler - überwiegend Mädchen und noch dazu in voller FDJ-Kleidung -als unverantwortlich riskant. Möglicherweise hatte man aber angenommen, daß sich die Demonstranten ebenso friedlich wie am Vortag verhalten würden.

Helmut Krause

 


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