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Umsteigen am Postplatz
(Dresden)
Im Juni 1953 war ich 15 Jahre alt und Lehrling des 1. Lehrjahrs im VEB Pressenwerk Freital. Das bedeutete zweimal täglich eine zwei- bis zweieinhalbstündige Straßenbahnfahrt von Dresden-Klotzsche nach Freital bzw. zurück mit Umsteigen am Postplatz. Eigentlich war da jeder Wochentag wie der andere, und nur einer blieb mir in besonderer Erinnerung.
Nach getaner Arbeit wollte ich nichts wie nach Hause. Zu meiner Freude erwischte ich in der Straßenbahn, Linie 12, noch einen Sitzplatz, schloß die Augen und versank aufatmend in meinen Routineschlaf. Mit ihm begann die tägliche Entspannungsphase, während mein Unterbewußtstein den Fahrtverlauf registrierte und mich zuverlässig kurz vor dem Umsteigen oder bei Unregelmäßigkeiten weckte. Auf der Strecke muß alles normal gewesen sein, denn ich erwachte erst vom Aus- und Einsteigetrubel in der Kesselsdorfer Straße.
Die nächste wichtige Haltestelle war für mich der Postplatz, aber bis dahin „duselte" ich ganz friedlich noch eine Runde. Als ich wenig später die Bahn verließ, traute ich allerdings meinen noch schlaftrunkenen Augen nicht: in sämtlichen zum Postplatz führenden Straßen standen sowjetische Panzer. Für mich waren die Sowjetsoldaten nicht nur Freunde in Anführungsstrichen, denn sie hatten mir kleinem Stift 1945 zu essen gegeben. Was wollten sie hier?
Die sowjetischen Soldaten und Offiziere betrachteten ruhig den ganz normal erscheinenden Feierabendtrubel ringsum. Auch die Passanten wirkten gelassen. Ungewöhnlich war eigentlich nur, daß die sonst meist stumm auf ihre Anschlußbahnen Wartenden an diesem Nachmittag recht gesprächig schienen. Ich spitzte die Ohren und vernahm: „Im Sachsenwerk Niedersedlitz wird gestreikt." „Sie haben die Arbeit niedergelegt." „Sie sind ins Zentrum marschiert." Zum „Warum" hörte ich keine Erklärungen.
Scheinbar ungerührt setzte jeder der Umstehenden seinen Weg oder seine Fahrt fort, und auch ich stieg in die nächste Straßenbahn nach Klotzsche.
Wolfgang
Heinig
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