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Am 17. Juni 1953, 6 Uhr steckte ich den Kopf in den niesligen Morgen. Paule schlief noch. Nicht eine Mücke rührte sich. Die Allee lag wie ausgestorben.
Da verließ ein „Blauer" das Tannenwäldchen hinter dem Stalindenkmal und hastete fröstelnd davon. Er war von Karl Bärenstein, dem „Jungche aas Astpreißen" abgelöst worden. Da einer ausgefallen war, mußte Karl nach nur acht Stunden Ruhe schon wieder in das Häuschen. Voraussichtlich für zwölf Stunden, hatte sein Vorgesetzter angekündigt und Brot, Hartwurst, eine Dorschleber- sowie eine Schmalzfleischbüchse in den Brotbeutel packen lassen. Die Feldflasche war mit saccharingesüßtem Pfefferminztee gefüllt. Karls Bewaffnung bestand wie stets nur aus dem rohen Holzknüppel. Nachdem ich ihm abends meine Befürchtungen anvertraut hatte, wäre ihm eine von den 08 sicher lieber gewesen. Doch die blieben im Panzerschrank der Dienststelle verschlossen.
An diesem Morgen begannen wir unser Programm bereits um halb sieben; zumindest Paule und ich. Brigitte hatte ich das Erscheinen freigestellt. Helga und Burghard riefen von der Postdirektion an, sie würden dort gebraucht, und Horst Schäfer war vermutlich bei der Staatssicherheit eingesetzt.
Nachdem das Orchester Otto Kermbach einen schmissigen Foxtrott über alle RFT-Säulen und Budenlautsprecher losgelassen hatte, lief mein Morgengruß vom Band. Wie üblich, hatten wir ihn tags zuvor aufgenommen.
„Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Hier meldet sich das Funkstudio des NAW. Heute ist Mittwoch, der 17. Juni 1953. Wir wünschen einen schönen und erfolgreichen Tag." Nach einem weiteren Fox verlas ich noch einmal die Meldung, daß die Regierung ihre Anweisung für Normenerhöhungen zurückgenommen hatte. Die folgenden zwanzig Minuten gehörten dann wieder dem Orchester.
Während das alles vom Band ablief, befand ich mich bereits am Strausberger Platz. Dort, wo der Generalstreik stattfinden sollte.
Wer diesen Blödsinn in die Welt gesetzt hatte, kannte den Strausberger Platz sicher nicht. „Morgen früh, sieben Uhr, Generalstreik Strausberger Platz!" So war es gestern durch die Ostberliner Straßen gebrüllt und vom RIAS über Berlin hinausgepaukt worden. Und einer hatte noch gesagt: „Sucht eure Strausberger Plätze überall."
Ich fand das schon deshalb absurd, weil man nach meiner Kenntnis selbst einen Generalstreik in den Betrieben veranstaltet.
Aber vor allem lag der Strausberger Platz voller Gerümpel, Bauelemente und Baustoffe. Beispielsweise waren vor der rohbaufertigen Säulenfront des Hochhauses Nord ganze Waggonladungen Sand, Schutt, Mörtel, Bretter und Kalk verteilt. Darüber hing auf rotem Tuch die Losung: „Eisenhower will unsere amerikanischen Friedensfreunde Ethel und Julius Rosenberg ermorden! Duldet nicht diesen Mord! Kämpft mit allen Mitteln um ihre Befreiung! Sendet Protesttelegramme!"
Wahrscheinlich würde Eisenhower
nicht ausgerechnet auf die Ostberliner Bauarbeiter hören, wenn er sogar Papst
Pius einen Korb gab. Aber die einflußreichen Westberliner Politiker Scharnowski,
Bahr, Schütz und andere versuchten erst gar nicht, sich in diesem Punkt
mit den Bauarbeitern zu solidarisieren.
Hochhaus am Strausberger Platz, Berlin, im Rohbau
Am sechsten Stockwerk des Hochhauses hing ein riesiges umflortes Stalinbild umgeben von rotem und schwarz-rot-goldenem Fahnentuch. Darunter gaben VEB Wohnungsbau und VEB Stahlbau Niesky ihre Anwesenheit bekannt. Wahrend VEB Wohnungsbau nur das Firmenschild angenagelt hatte, hielt der VEB Stahlbau Niesky die zusätzliche Mitteilung „Wir Brigaden des VEB Stahlbau Niesky stehen im sozialistischen Wettbewerb" für nötig.
In seinem gegenwärtigen Zustand konnte der Platz höchstens Dreitausend aufnehmen. Aber man erwartete Zwei- oder Dreihunderttausend, vielleicht sogar eine Million. Von welchem Streikkomitee aufgerufen? Durch welches repräsentiert? Mit welchem Programm, welchen Sprechern?
Noch immer hatte sich kein einziges Streikkomitee gebildet, selbst nicht auf den „Initiativbaustellen" Bettenhaus Krankenhaus Friedrichshain und Block 40. Auch nicht auf der Baustelle VP-Inspektion Marchlewskistraße, obwohl deren BGL-Vorsitzender Wahl sich am Vortag der Demonstration zum Haus der Ministerien angeschlossen hatte.
Die RFT-Säulen schmetterten flotte Musik in den vernieselten Morgen. So laut, daß es in den Ohren piekte. Da gingen rundum Fenster auf, aus einem kamen Fahnen, aus anderen Fäuste, die kaum „Rotfront" meinten.
Margarete Elbin lief hastig heran und wetterte, als waren wir schon uralte Bekannte: „Doof? Der Meute den Marsch zu blasen?" Sie hastete weiter, um pünktlich im Glühlampenwerk zu sein.
Kurz nach halb sieben tauchten die ersten Passanten auf, einzeln und in kleinen Gruppen, Generalstreikler also. Sie durchliefen eine gelichtete VP-Kette. Aber am Strausberger Platz stutzten sie, blieben stehen, pendelten umher, betrachteten ungläubig das Terrain des großen Streiks - den leeren, verwilderten, rings von Schutt und Gerümpel umgebenen Platz.
Die Musik kam der allgemeinen Stimmung zupasse, nur die Lautstärke gefiel nicht. Aus Grüppchen wurden Gruppen von 40,50 Personen, bestuckt mit roten und schwarzrot-goldenen Fahnen. Eine Spitze bildete sich, die Losungen gegen Normenerhöhungen und überhöhte HO-Preise zu rufen begann. Das griff auf die anderen Gruppen über, Zorn und Verlangen wurden spürbarer.
Die Rebellion der vom „Sozialismus" und den leitenden Funktionären Enttäuschten begann Tritt zu fassen und sich in Richtung Alex zu bewegen. Aber das reichte trotzdem nicht zum „Volksaufstand", reichte nicht einmal zum „Arbeiteraufstand . Denn die starken Kolonnen des Volkes saßen zu Hause, standen an den Straßen, fuhren - da sich das Wetter zeitweise besserte - ins Grüne, sicherten ihre Betriebe ... oder sie gehorchten eben den lautstarken Befehlen anderer und gingen interessiert bis interesselos in den Reihen der Protestierenden mit.
Um sieben Uhr
siebenundvierzig näherte sich die bis dahin stärkste Kolonne. Es mochten
Sechstausend sein. Sie schob die müde VP-Kette meines Freundes Gebhard Kunze
auseinander. An ihrer Spitze marschierte mit den übrigen Zimmermännern vom
Block E-Süd auch der überzeugte Sozialist Heinz Homuth. Sein Freund, der
Steinmetz Günter Sandow und dessen fünf Kollegen lauerten schon am
Strausberger Platz auf ihn, weil sie mit dem Generalstreik auf diesem
General-Abstellplatz nichts Rechtes anzufangen wußten — wie Tausende vor und
Zehntausende nach ihnen.
Perspektive Strausberger Platz. Kollektiv Prof. Henselmann, Meisterwerkstatt I, Deutsche Bauakademie
Strausberger Platz, Berlin - 30 Juni 1953
Dazwischen lag für ihn nahezu ein Jahr harter, vorbildlicher Arbeit, für die er auf Vorschlag von Bauleiter Günter Bahlke, der beiden Bauleiter Harry Dummer und Horst Wiedemann, des BGL-Vorsitzenden Gowolowski und des Parteisekretärs Paul Merten von Betriebsleiter Kogut als Aktivist ausgezeichnet wurde. Sie alle hatten auch befürwortetet, daß er eine der ersten fertigen Wohnungen in E-Süd bekommen sollte.
Eigentlich war die Wohnungszuweisung für ihn nichts Außergewöhnliches, denn zu allererst bekamen die Bauarbeiter das, was sie bauten. Selbst Hein Görlich wohnte -obwohl seine Brigade die schlechteste der Allee war - im gleichen Block wie der anerkannte Aktivist Homuth. Allerdings zogen dort auch andere verdiente DDR-Bürger ein. Beispielsweise der Diplomat und Schriftsteller F. C. Weißkopf und seine Frau Grete, besser bekannt unter ihrem Schriftstellernamen Alex Wedding. Und Bodo Uhse.
Das Besondere bestand eigentlich nur darin, daß Heinz Homuths Einzug von der DEFA-Wochenschau für die Mit- und Nachwelt festgehalten wurde: wie er mit einem Pferdefuhrwerk die Möbel ankarrte und von einem seiner neuen Nachbarn, dem Kaufmännischen Leiter des VEB Bau-Union Berlin Erich Keil, auf der Schwelle mit Brot und Salz empfangen wurde bis hin zu seinem überglücklichen „Aaah!" bei Besichtigung der Räumlichkeiten.
Ein anderes Ereignis war ihm jedoch ebenso unvergeßlich: das am 12. Juli 1952 gefeierte Richtfest. Den langen Richtspruch hatte einer der besten Lehrlinge, ich glaube, es war Edgar Kardge, mit unsicherer Stimme vorgetragen. Die letzten Verse lauteten:
„Was
Arbeiterkühn und groß erbau'n,
das soll dem ganzen Volk gehören,
und wenn wir uns'rer Kraft vertrau'n,
dann wird es auch kein Krieg zerstören.
Wir wissen unser Werk zu schützen
und werden dasteh'n wie ein Mann -
Drum wird's dem Saboteur nichts nützen,
will
er an uns're Bauten ran.
Wir bauen weiter Haus an Haus;
Wohlstand und Friede mit uns zieh'n.
Der
Weg ist richtig, führt gradaus:
das ist der Aufbau von Berlin."
Aber das Wichtigste an diesem Richtfest war, daß die Teilnehmer der 2. Parteikonferenz der SED daran teilnahmen. Sie kamen zu Fuß von der Werner-Seelenbinder-Halle anmarschiert, an der Spitze die gesamte Parteiprominenz. Nur Wilhelm Pieck fuhr mit seiner Limousine.
Der Westberliner Hans Wenzel marschierte übrigens auch mit, obwohl er davon überzeugt war, daß der Beschluß zur Schaffung der Grundlagen des Sozialismus unrealistisch sei. Wie bereits erwähnt, glaube auch ich, daß die fatalen Folgen dieser Entscheidung die DDR zerrütteten und in falsche Bahnen lenkten.
Im aufbrausenden Jubel der eineinhalb tausend Feiernden auf Block E-Süd war das freilich noch nicht erkennbar. Heinz Homuth und sein Freund Günter Sandow speisten unweit der Staats- und Politprominenz an der Tafel der Aktivisten und Bestarbeiter. Sie konnten in die nahen Gesichter der DDR-Führung sehen, das war was! Unvergeßlicher DDR-Sozialismus aktuell - obwohl noch nicht mal der Aufbau der antifaschistisch-demokratischen Ordnung abgeschlossen war.
Adenauer, Ollenhauer, Schumacher ließen sich nicht zu solchen Feiern herab, stellte ein Redner fest. Schon gar nicht Bundespräsident Theodor Heuß. Homuth und alle anderen gaben dem Redner recht.
Nun trabte Heinz Homuth also an der Sporthalle vorbei, vor deren geräumigen Eingang man zwei nackte Sportler auf Sockeln und - unter dekorativen Sport-Symbolismen - sechs pompöse Säulen plaziert hatte. Aber jeder sah: heute war da drin nichts los. Und am Strausberger Platz auch nicht. So zog auch diese Kolonne ziellos weiter und erreichte den Lustgarten am Schluß einer Standdemonstration. Wer da gesprochen hatte, weiß wohl heute kein Mensch mehr. Aber zuletzt sangen die etwa eintausend Kundgebungsteilnehmer die Nationalhymne. Nicht „Auferstanden aus Ruinen", sondern das „Deutschlandlied". „Deutschland, Deutschland über alles", hatte Günter Sandow gehört, Heinz Homuth dagegen „Einigkeit und Recht und Freiheit". Die Windrichtung war die gleiche.
Das „Lied der Deutschen", von Reichspräsident Friedrich Ebert im Jahr 1922 durch Verordnung zur Deutschen Nationalhymne erklärt, von Reichspräsident von Hindenburg an Kanzler Hitler weitergegeben, von den deutschen Faschisten millionenfach gesungen und geblasen, durch einen Briefwechsel zwischen Kanzler Adenauer und Bundespräsident Heuß im Jahre 1952 erneut zur Deutschen Nationalhymne bestimmt ... immer ohne das Volk zu fragen - so einfach geht das in der Demokratie.
Passend dazu ein Globke als
Adenauers Kanzleichef, Oberländer als Minister, die Nazigenerale Speidel und
Heusinger sowie auch später viele schwer belastete Nazis und Kriegsverbrecher
noch in Amt und Würden, hochgeehrt und -pensioniert bis zu ihrem friedlichen
Ende, bei dem nicht selten auch das „Lied der Deutschen" gegeigt wurde.
Egal, ob 1. oder 3. Strophe. Der Ton macht die Musik.
Foto: Zentralbild/Weiß; Quelle: Bundesarchiv 183/19487/1
Blick von der Berliner Andreasstraße nach Osten. Rechts Block C-Süd und Stalindenkmal
Foto: Zentralbild/Weiß; Quelle: Bundesarchiv
183/19487/1
Da war viel mehr los als am Lustgarten und am Strausberger Platz. Immerhin zwanzigtausend Menschen und mehr. Ein zertrümmerter HO-Kiosk. Jenseits der Sektorengrenze Hunderte Schaulustige auf Trümmerbergen. Zwei Lautsprecherwagen, die unablässig zur Durchsetzung der Streikforderungen aufriefen. DGB und SPD in Aktion.
Und Gruppen herübergekommener „DDR-Bürger" aus den Flüchtlingslagern Lankwitz und Marienfelde, der Stoßtrupp Schäffer, die neunzig Mann starke Einheit Günting/Niemetz/Jürgen, die - am Zaungast Bäckermeister Kurtzer vorbei - den Potsdamer Platz eroberten: „Nieder mit der Regierung!" Und „Weg mit Ulbricht und Genossen!" Und „Wir fordern freie Wahlen!" „Berliner, reiht euch ein, wir wollen freie Menschen sein!" Der Stoßtrupp des SS-Mannes Schäffer war da wohl schon mit seiner Beute im Westberliner Polizeirevier 29/30 angekommen.
Wo war das achtzehnjährige Mädchen, dessen „helle Augen so selbstsicher und gewinnend strahlten", wie es viele Jahre später von einem Politiker beschrieben wurde? Gestern, also am 16. Juni, war diese Ella als angebliche Instrukteurin der FDJ vom Block E-Süd-„Hinterland", von der „SED-Jugend FDJ" und der „internationalen Partei der Arbeiterklasse" sozialistisch vollmotiviert, aus ihrem Bernauer Untermieterquartier in der Jahnstraße 43 nach Berlin reingefahren. Hatte sich um 9.20 Uhr ostentativ in die Spitze einer Bauarbeiterkolonne von 150 Mann eingereiht, um mit ihnen zum Haus der Ministerien zu demonstrieren. Gegen die Normenerhöhung. „Was gut für die Arbeiter ist, ist gut für die kommunistische Bewegung!" Soll diese Ella gedacht haben. Die hübsche Kommunistin und Instrukteurin der „SED-FDJ" entdeckte vor dem Haus der Ministerien Fritz Lange, „den FDJ-Sekretär aller volkseigenen Betriebe" (so was hat es nie gegeben - doch wenn Ella so was sah ...!), und Lange belauschte Arbeiter. Ergo sprang die kommunistische Friedensmedaillenträgerin auf den Tisch zu Minister Selbmann und schrie in die Menge: „Kollegen! Unter euch sind Spitzel! Da steht einer! Haltet zusammen!" Na und so weiter. Und sie zog ihre braune Jacke und blaue Bluse aus und schleuderte sie zu Selbmanns Entsetzen fort...
Die damals neunzehnjährige Sekretärin Ingeborg Dey, deren Kollegin Therese Iselmann und die Chefsekretärin Sizilia Heise haben allerdings einen derartigen Auftritt vor ihrer Arbeitsstelle weder gesehen noch davon gehört. Auch der unweit des bewußten Schreibtischs gestandene Herbert Edeling hat, wie bereits beschrieben, solchen Auftritt eines solchen Mädchens nicht erlebt.
Günter Sandow, der Steinmetz von Block E-Süd, hatte, die kommunistische und ganz plötzlich kontrakommunistische Instrukteurin Ella Sarre in der Gegend von Block E-Süd nie gesehen. Weder vor noch nach dem Juniereignis.
Heinz Homuth: „Icke ooch nich." „Ich hab' die Ella Sarre zum ersten Mal auf der Pressekonferenz anläßlich des 41. Jahrestages der Wiederkehr des Volksaufstandes vom 17. Juni gesehen - also am 14. Juni 1994. So wahr mir Gott helfe." (Er sah eine ältere Dame, die zum xten Male extra angereist gekommen war - diesmal aus Stuttgart, wo sie in einem Museum arbeitet. Als Frau Müller1. Ein Buchautor legte die Ella in seinem Ella-Märchen auch noch zu Horst Schlafke ins Bett. Und da gerät dann wohl sein 17. Juni vollends in das Fahrwasser der Fabulierei und politischen Fälschung.)
Aber zunächst war immer noch der frühe Morgen des 17. Juni 1953, und ich begab mich nun zum Büro des Parteisekretärs vom Block A-Nord.
Etwa einhundertvierzig Männer vom VEB Wohnungsbau standen unentschlossen im Barackengang herum. Die fast fünfzig Kollegen vom Stahlbau Niesky arbeiteten. Ebenso wie die ca. fünfunddreißig Mann vom Schwerbetonwerk Strausberger Platz. Die in den Baubuden auf Innengerüsten sitzenden und im Barackengang wartenden Unentschlossenen unterhielten sich, redeten aufeinander ein, stritten oder dösten. Bauleiter Wolfgang Junker - der spätere Minister für Bauwesen - wußte auch nicht recht, was er den Arbeitern raten sollte. Einerseits - andererseits ... Also ging er lieber allem aus dem Wege.
Günter Augsburg war ungehalten, weil ich in seine permanent tagende Parteileitungssitzung platzte. Eben versuchten die Brigadiere Oxenknecht und Gehrke den Genossen klarzumachen, weshalb ihre Männer geschlossen von den Gerüsten gekommen waren: ja, arbeiten wollten sie, aber dafür keine Prügel von anderen einstecken, mitmarschieren nicht, lieber rumsitzen und den Block und das Hochhaus bewachen. Am besten nach Hause gehen, morgen früh pünktlich auf den Etagen sein, und basta.
Die Leitungssitzung löste sich auf. Draußen spektakelte es. Die Rüster und ihr Brigadier gingen nach Hause. Gerhard Georges hatte seine Kollegen davon überzeugt und wurde deshalb von Augsburg angerüffelt. Da bot Georges dem Parteisekretär Backpfeifen an und haute ab.
Damit mich der zum Platzen wütende Augsburg nicht auch noch anbrüllte, rief ich Paule an. Er sollte keine Sendung mehr ausstrahlen, und schon gar nicht Musik. Außerdem hatte die Elbin ja recht - es war ein Unding, den Marschierern auch noch den Marschrhythmus zu liefern. Und Willi Kaufmanns VP-Orchester konnte ganz schön schmettern, das machte flotte Beine.
Paule zog den Hahn zu.
Da auf dem Strausberger Platz nichts loszugehen schien, machte ich mich zum Krankenhaus Friedrichshain auf den Weg
Um halb sieben, schätzten Betriebsleiter Sprafke und BGL-Vorsitzender Fettling ein, seien auf der Baustelle etwa 90 Prozent anwesend gewesen. Mindestens die Hälfte davon in Arbeitskleidung und bereit, zu arbeiten. Aber nach und nach schlenderten einige zum Tor hinaus.
Fettling stellte sich zu den lockeren Gruppen und erklärte ihnen den „Rückzieher" der Regierung; plus Bezahlung der durch die Demonstration vom Vortag ausgefallenen Arbeitsstunden. Zuvor war die Wiederholung meiner Information zur Rücknahme der Normenerhöhungen über die Lautsprecher gekommen. Allerdings hatte Fettling danach im Studio angerufen und um Abschaltung der „idiotischen Musik" gebeten.
Foth und Lembke waren nicht zu sehen. Vermutlich zogen sie bereits wieder durch die Stadt.
Allerdings erzählten beide am nächsten Morgen - um das hier gleich vorwegzunehmen -, daß sie frühmorgens voneinander unabhängig zum Strausberger Platz gegangen seien, dort an den verabredeten Treffpunkten aber vergebens auf ihre Brigaden gewartet und deshalb sofort wieder den Heimweg angetreten hätten. Das glaubten ihnen nicht einmal ihre Brigaden. Auch ich hatte keinen von beiden bemerkt, obwohl der Platz, wie bereits erwähnt, gut überschaubar war.
Aber zurück zur Baustelle Krankenhaus Friedrichshain. Bluhm, Rust und Köhler redeten dem Sitzstreik das Wort, wenn auch nicht mehr so hitzig wie am Vortage und das Wort „Streik" tunlichst vermeidend.
Einige Mitglieder der Brigaden Foth und Lembke sowie die Transporter des verschwundenen Metzdorf und Männer der Brigaden Maske, Hähnel, Liebmann, Brachwitz, Zechmann und Hübner forderten immer energischer einen geschlossenen Marsch zum Strausberger Platz.
Gemeinsam mit den meisten Bauleitern und Brigadieren versuchten die Betriebsfunktionäre - außer Fettling auch Betriebsleiter Sprafke, Technischer Leiter Busse, Arbeitsdirektor Meissner, Parteisekretär Rosteck und BGL-Vorsitzender Kühntopp von der Zentrale - die Brigaden vom Verlassen der Baustelle abzuhalten. Denn ihre Forderungen seien erfüllt, und die Sache also erledigt.
Mir fiel ein etwa Fünfundvierzigjähriger auf- grauer Anzug und eine Seglermütze auf dem schütteren Haar. Er stand bei Brosda und schob sich auffällig nach vorn, ob wohl es ihn hier noch keine vierzehn Tage gab. Gehörte wohl zur Brigade Hähnel oder Sigorski. Und da schwenkte er auch schon weit ausholend den Arm, forderte damit energisch zum Demonstrieren auf. Marschierte mit Brosda voran. Und sechzig, siebzig Männer folgten ihm auf dem Weg zur Allee hinunter.
Nach und nach gingen weitere zwanzig, dreißig hinterher - teils verstohlen weggehend, teils rasch laufend. Da war es aber schon fast acht.
Dennoch müßten es 190 oder 200 gewesen sein, die mit der ganzen Situation nichts anzufangen wußten - und deshalb nichts taten. Also streikten. Es merkte ja niemand, und man mußte sich auch nicht verstellen. Immerhin saßen hier alle herum - vom Betriebsleiter bis zum kleinsten „Stift".
„Die Stifte betun sich, es ist eine Pracht, als hätten sie alles alleine gemacht", hatte Kuba2 mal die Lehrlinge vom Bau besungen. Das Lied war rasch bekannt geworden und mit ihm die „Stifte" von der Stalinallee.
Die Lehrlinge vom Bettenhaus Krankenhaus Friedrichshain betaten sich an diesem Mittwoch auch. Nur zwei von den siebzehn hatten zu Arbeitsbeginn gefehlt. Entweder waren die beiden zu Hause geblieben oder gleich zum Strausberger Platz gegangen Obwohl für sie alles furchtbar aufregend und abenteuerlich war, arbeiteten die fünfzehn bis gegen halb acht. Dann wurde ihnen das Geschrei da unten doch zu bedrohlich. Nun saßen sie so lange brav in ihrer Bude, spielten Skat und Schach und Halma bis Bauleiter Roepke sie allesamt nach Hause schickte. Wie sie waren auch die Lohnarbeiter, Budenfrauen und Maschinisten sowie die Poliere Callies, Arnemat, Rothe Wille, Bastian, Schulze, Gerdun, Löche und Richel auf der Baustelle geblieben. Wie Bauleiter Kurz und die Hälfte seiner am Kesselhaus bauenden Truppe. Oder Verrechner Hoffmann, Frieda Fettling, Max Fettling, Bauleiter Roepke sowie die Eisenbieger, Transporter, Maurer und Zimmerer vieler Brigaden.
Unweit davon befand sich die Medizinische Fachschule des Krankenhauses Friedrichshain. Sie war im „Viktoria-Haus" untergebracht, das im Jahr 1876 auf Drangen Virchows als Schul- und Internatsgebäude für Pflegerinnen gebaut worden war. Im Jahr 1953 lernten hier achthundert Schwesternschulerinnen.
An jenem 17. Juni erschien bei Direktor Herbert Tauchnitz einer der Lehrer - es war wohl der Internist Dr. Klosterfeld - und informierte ihn über eine erregte Zusammenkunft der Schwesternschülerinnen im Festsaal des Internats sowie ihr gemeinsames Anliegen: „Überall in der Stadt ist Tollerei und Umzug. Aus dem Radio soll gekommen sein, wir sollen zum Strausberger Platz gehen und streiken. Wir wissen nicht, warum und wofür wir streiken sollen; das haben wir ja in der Schule noch nicht durchgenommen, auch nicht in der Kirche. Aber die Arbeiter, die das Bettenhaus bauen, streiken und sind schon losmarschiert. Wenn die zusammenprallen mit denen, die Vopos verkloppen, Kioske ausräubern und anstecken, Schaufenster einschlagen und Geschäfte leerklauen, gibt es Bürgerkrieg und so. Wir haben Angst und wollen nach Hause. Bitte lassen Sie den Unterricht heute und bis Sonnabend ausfallen und uns nach Hause fahren. Wir waren Ihnen sehr, sehr dankbar."
Eine schwierige Situation für den erst seit 1952 amtierenden Direktor - trotz der unbestreitbaren Lebenserfahrung des Fünfundvierzigjährigen.
Im Jahre 1933 war der spindeldürre Kürschnergeselle seiner Menschenliebe gefolgt und hatte sich als Pflegeschüler im „Viktoria-Haus" angemeldet. Nach dem Examen waren ihm aber nur wenig mehr als vier Jahre friedlicher Pflegearbeit vergönnt gewesen, dann mußte er Verwundete und Sterbende aus der Frontlinie schleppen und in Lazaretten das Elend des Krieges lindern helfen. Seit der Heimkehr war er Oberpfleger und für knapp ein Jahr sogar Oberschwester im Krankenhaus Friedrichshain gewesen.
Von Kollegen hatte er gehört, daß in Berlin irgend etwas brodelte. Es schien ihm zwar nicht halb so bösartig, wie es die Schwesternschülerinnen darstellten - aber er konnte ihre Bitte nicht einfach ignorieren und das Vertrauen der Mädchen enttäuschen. Deshalb ließ er die Ausbildung vorläufig weiterfuhren, versprach aber, sich sachkundig zu machen und später endgültig zu entscheiden. Danach ging Herbert Tauchnitz zum Ärztlichen Direktor des Krankenhauses Friedrichshain, mit dem ihn eine langjährige Freundschaft verband. Der 74jahrige Professor Dr. Heinrich Klose, erfolgreicher Chirurg und Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR, zeigte sich vom Anliegen der Schülerinnen nicht weniger überrascht - obwohl er auf der Fahrt zum Krankenhaus in der Tat Bedenkliches gesehen und deshalb das Schließen des Tores angewiesen hatte. Die Entscheidung überließ er seinem Freund Tauchnitz, griff aber danach zum Telefon und rief beim Magistrat sowie dem Ministerium für Gesundheitswesen an.
Danach eilte Herbert Tauchnitz zur streitbaren BGL-Vorsitzenden und Oberin Hildegard Klein. Sie arbeitete seit 1925 als „Viktoria-Schwester" im Krankenhaus, darunter sechs Jahre als Leitende Oberin in der Chirurgie. Von den RIAS-Meldungen über Streik und Marsch der Bauarbeiter am Vortag wußte sie ebenso wenig wie von der Unruhe auf der Baustelle Bettenhaus oder sonstwo und fiel nun aus allen Wolken. „Aber wenn die Mädchen Angst haben, müssen wir der Sache nachgehen."
Auch sie telefonierte - mit der zuständigen Stadträtin - der bekannten LDP-Funktionärin Wilhelmine Schirmer-Pröscher, Oberarzt Dr. Kohler, dem ersten SED-Kreissekretar Hans Berthels und wer weiß mit wem noch - und hörte von jedem anderes: man habe keine Ahnung; erwarte noch Informationen; es ginge den Arbeitern nur um die Normen; aber KgU und Ostbüro sahen den Tag X gekommen ...
Zu viel Blabla und enorme Zeitvergeudung, fand Herbert Tauchnitz und machte sich auf den Weg zur Baustelle Bettenhaus. Zunächst hatte er nicht den Eindruck, daß die Bauarbeiter zum Zentrum des Generalstreiks gegangen waren, denn er sah sie überall. Allerdings arbeitete niemand ordentlich, obwohl hier und da welche auf den Gerüsten herumturnten, Kies vom LKW schippten, Betonmischer reinigten, an Buden herumnagelten ...
„Was ist los, Kollegen?" rief er einen Zimmermann an.
Der antwortete barsch: „Alles was nicht angebunden is!"
Sein Nachbar, eine Pulle Bier auf dem Knie, ulkte: „Biste vons de Zeitung? Kurier oder Mottenpost?"
Eine Budenfrau wies dem Direktor der Medizinischen Fachschule den Weg zu dem massiven Blockhäuschen, wo er „die BGLer, Parteier und Leiter und alles" fände. „Steh'n alle uff'n Huffen," fugte sie in einer Mundart hinzu, die der Berliner Tauchnitz für „Thüringisch" hielt.
Tatsachlich standen da viele in Gruppen zusammen. Palaverten, schwiegen, maulten sich an, scherzten ... Und hatten alle eines gemeinsam: Ratlosigkeit.
Tauchnitz kannte weder einen der vielen Zivilisten mit oder ohne Parteiabzeichen am Sakko, noch einen der immerhin zahlreichen Bauarbeiter. Es bedurfte mehrerer Nachfragen, bis er dem BGL-Vorsitzenden gegenüberstand. Allerdings hatte Tauchnitz kaum den Mund aufgemacht, als Fettling ihn auch schon anfuhr. Er unterhalte kein Auskunftsbüro über Demonstrationen und Volksaufstände. Von morgens bis abends schnarre das Telefon: Fettling-Fettling-Fettling! Dauernd komme einer angeschissen. Fettling hinten, Fettling vorne. „Geht doch auf die Straße, wenn ihr wissen wollt, was Sache ist. Hier ist nichts los. Oder? Nicht mal gearbeitet wird. Dabei haben wir schon zwei Tage Planrückstand. Unsere Sache ist gelaufen. Was jetzt abrollt, ist nicht unsere Sache. Schreib' das in deinem Blatt oder was du bist."
Er wandte sich an die sechzig, siebzig Umstehenden. Nicht an die mit weißem Helm über Schlips und Parteiabzeichen, sondern an die Bauleiter, Brigadiere, Bauarbeiter, Kaffeefrauen, Büroangestellten: „Oder? Sagt doch auch mal was!"
Betriebsleiter Sprafke und Bauleiter Roepke sprachen beruhigend auf ihn ein. Sie hatten miterlebt, wie Fettling in die Rolle eines Streikführers gedrängt werden sollte. Die er nicht spielen wollte und aufgrund seiner geringen gewerkschaftlichen Erfahrung - vor zwei Jahren war er ja noch ungelernter Magaziner und einfacher Beitragszahler gewesen - nicht spielen konnte. Glücklicherweise hatte er sich nicht dazu hinreißen lassen, mit einem Beschluß seiner BGL alle Ostberliner Bauarbeiter zum Generalstreik aufzurufen - obwohl es die BGL-Mitglieder Metzdorf, Foth und Bluhm sowie einige Bauarbeiter forderten. Dazu waren sie durch den Blondbärtigen angestachelt worden, den man seit dem Aufbruch vom Vortag nicht mehr auf der Baustelle gesichtet hatte.
Immerhin erklärten Roepke und Sprafke Direktor Tauchnitz die Situation so gut sie das konnten und verhehlten nicht ihre eigene Enttäuschung darüber, daß Otto Grotewohl den Brief noch nicht beantwortet hatte. Man wunderte sich allerdings, daß die Kunde von den Ereignissen scheinbar um das Krankenhaus einen Bogen gemacht hatte. Wo doch halb Berlin auf Generalstreiksbeinen unterwegs war. Naja, höchstens viertel Berlin. Gut, vielleicht auch nur achtel Berlin - aber im Volksaufstandsmarsch ... Hatte das Radio gemeldet.
Als Tauchnitz danach die Leninallee wieder bergauf ging, kam ihm eine Kolonne entgegen - voran einer im Schlosseranzug mit einer roten Fahne. Der rief von Zeit zu Zeit: „Nieder mit der SED!" Etwa zweihundert folgten ihm, aber niemand wiederholte seine Losung. Als marschierten hinter dem Fahnenträger lauter gute Genossen. Siebzehn, achtzehn, neunzehn Schritt: „Nieder mit der SED!" Siebzehn, achtzehn, neunzehn ...
Seltsamer Volksaufstand, fand Tauchnitz. Aus welchem Radio war das gekommen? Siebzehn, achtzehn, neunzehn ...
Erschrocken über das knautschige Gesicht ihres Direktors, vergaß Sybille Welzel den gewohnten Gruß. Die vorübermarschierende Kolonne - der Fahne nach mußte es eine von der SED sein - verwirrte sie noch mehr. Auf dem Weg von ihrem Zuhause bis zur Leninallee hatte die Sechzehnjährige viele Tausend Menschen gesehen. Sie dies und das gegen die Regierung, die Polizei, die sowjetischen Freunde, die SED und andere rufen hören. Und nichts verstanden. Warum, wofür, wogegen gingen die alle auf die Straße? Weshalb sagten die meisten nichts und gingen nur mit? Wie diese hier hinter der roten Fahne, deren Träger Böses rief? Aus welchem Grund guckte der freundliche Direktor heute so wütend?
Entnervt hastete die Schwesternschülerin Sybille in die Chirurgie der Station 8. Die Stationsschwester Margarete Bley erklärte ihr den Grund der Aufregung. Das alles sei nicht Sache des Krankenhauses. Doch als Sybille sich einigermaßen beruhigt hatte, wurde auf ihrer Station ein Volkspolizist mit Bauchschuß eingeliefert. Die Erinnerung an diesen Schock verließ sie danach nie mehr.
Inzwischen hatte Tauchnitz seine Entscheidung getroffen. Unterricht und praktische Ausbildung der Schwesternschülerinnen waren ungestört fortzusetzen.
Trotzdem drangen mit allerhand Gerüchten nun doch Unruhe, Verunsicherung und Nervosität in Schwesternschule und Krankenhaus ein. Man erzählte von Erschießungen auf dem Alex und Tausenden Westflüchtlingen. Aber jeder erfüllte verantwortungsbewußt und korrekt seine Aufgaben, darunter Oberarzt Dr. Pschyrembel sowie die Hebammen Meiche und Hippe aus Neukölln.
Und die Patienten? Bis auf wenige wußten sie kaum, was draußen vor sich ging. Die es wußten, nahmen es meist stoisch zur Kenntnis, wollten nicht gestört sein in der zufriedenstellenden medizinischen und sozialen Betreuung. Wollten geheilt werden. Wollten in Ruhe sterben. Wollten ihre Babys kriegen, sie in Frieden und Geborgenheit aufwachsen sehen...
Auf Block 40 herrschte Stille. Von den 600 Beschäftigten hatten sich etwa 120 zum Strausberger Platz aufgemacht, angeführt von den Brigadieren Brüggemann, Gruhl und Hartmann, von Bert Stanike, dem Transparentmaler Schild und dem Harmonikaspieler von der Dampferpartie. Aber aller Frust der letzten Tage schien seit Bekanntgabe der zurückgenommenen Normenerhöhungen im Schwinden begriffen. Mehr hatte man ja nicht gewollt.
Hein Görlichs Brigade scharte sich um drei Bierkästen und dreißig Bockwürste und ließ Streik Streik sein. „Wer marschiert, fliegt aus der Brigade", lautete der einhellige Beschluß. „Wer mitsäuft, hat um zehne Feierabend."
Nur Hucker Hanne Himmel hatte auf andere gehört, sich aus dem Staube gemach und in Westberlin als politischer Flüchtling gemeldet. Danach erhielt man von ihm kein Lebenszeichen mehr.
Die neunzig Lehrlinge des VEB Lehrlingsbau „Friedrichs Engels" hatten von Lehrausbilder Fritz Lehmann Order erhalten, sich sieben Uhr an ihren Baustellen im Weidenweg einzufinden. Das ging manchem gegen den Strich, aber niemand sagte etwas. Wenigstens achtzehn blieben zu Hause. Denn dies war nicht der Tag ihrer Eltern.
Auch Klaus Dippelts und Peter Straches Mütter hatten den Söhnen geraten: wenn schon, dann lieber gleich von zu Hause aus streiken. Das müßte doch auch gehen. Allerdings haben Halbwüchsige meist ihren eigenen Kopf.
Die Lehrausbilder Mertke und Worgatz sowie gut ein Dutzend Lehrlinge lehnten Lehmanns Aufforderung ab, zum Generalstreik zu marschieren. Ihnen schlössen sich die Lehrausbilder Gelbrecht, Vietzke und Morias an. Dagegen stellten sich die Lehrlinge Strache, Gerstenberg, Schiemens, Röscher, Schumann, Daus, Roy, Freyer, Herold, Schubert, Zippel, Sommerfeld, FDJ-Sekretär Kemper und die restliche Mehrheit hinter den fachlich versierten und kumpelhaften Ausbilder Lehmann. Auch Aktivleiter Klaus Dippelt und dessen Freund Herbert Bramann schlugen sich auf Lehmanns Seite. Das bewegte den zweiten Aktivleiter dieser Berufsschulklasse, Dieter Kühn, es ihnen gleichzutun.
Die Lehrlinge am Weidenweg sollten frühzeitig Solidarität begreifen und nicht nur davon singen, begründete Lehmann seinen Standpunkt. Freilich träfen die oktroyierten Normenerhöhungen sie nicht. Jedoch zusehen und dulden, daß die älteren Kollegen darunter leiden, sei bauarbeiterunwürdig.
Die Planerfüllung schien nicht gefährdet, denn den 1.200 Lehrlingen des VEB Lehrlingsbau - unter ihnen befanden sich etwa 60 Mädchen - wurden nur Monatsziele vorgegeben. Und die erreichten sie allemal. Dafür bekamen sie im ersten Lehrjahr 75 Mark extra und leistungsbezogene Prämien. Jedem Aktiv war ein Hucker zugeteilt, und der lief sich Blasen, wenn die 15- bis 17jährigen aus Ehrgeiz und wegen der Zielprämie mit den Bauarbeiterbrigaden wetteiferten.
An diesem Tag stellten sich zweiundsechzig Jungen vor den Häusern Weidenweg 7, 8 und 9 in Dreierreihen auf. Fritz Lehmann hob die Hand: ohne Tritt marsch. Die Aktivleiter und der FDJ-Sekretär behielten ihre blauen Arbeitsnickis an. Man sollte sehen, daß die FDJler zu den Bauarbeitern hielten. Von den fünf Mädchen ging keines mit.
Es war wohl gegen neun, als die Lehrlinge den Strausberger Platz erreichten. Aber auf dem Platz des großen Volksstreiks war nichts los. Ähnliche Gruppen wie sie trudelten ein, warteten irritiert, kehrten um, trotteten weiter ... Niemand schickte eine Losung in den noch wolkenverhangenen Himmel. Andere Gruppen, Kolonnen, Haufen kamen im Gegenzug bereits vom Alex zurück. Nicht eine geordnet, diszipliniert und motiviert. Man ging auseinander und zur U-Bahn hinunter, wo der einbeinige SPD-Mann kaum Karten verkaufte, weil man seinen Schalter ignorierte.
Von einer in Richtung Stadtzentrum ziehenden Kolonne von etwa 400 Menschen wurden Losungen gerufen. Vornweg fuhr ein schwarzer PKW mit dem Kennzeichen 3 H 2318. Er war mit drei Zivilisten und einem amerikanischen Offizier besetzt. Am Strausberger Platz hielt das Auto. Aus der Spitze der Kolonne löste sich ein Mann und lief nach vorn. Der Offizier redete ein paar Worte mit ihm und tippte dann dem Fahrer auf die Schulter. Danach fuhr der PKW langsam weiter, während der Mann auf die Kolonne wartete und sich wieder einreihte.
Ein erheblicher Teil der Lehrlinge kehrte am Strausberger Platz um und ging danach auseinander. Aber auch bei den Weiterziehenden verloren sich Spannung, Erwartung und Abenteuerlust immer mehr und machte zunehmender Enttäuschung Platz.
Erst am Alex wurden sie wieder munter. Junge Männer und Frauen zertrümmerten Kioske, stürzten Autos um, schlugen Verkehrspolizisten nieder, zündeten Bockwurstbuden an, verbrannten Zeitungshäuschen, ließen Schaufensterscheiben zusammenklirren und räuberten die Auslagen. Randale, Feuer, Prügeleien.
Danach schloß sich der nun etwas unsicher wirkende Lehmann mit den verbliebenen Lehrlingen einem Zug recht aufgekratzt dahintrabender Menschen an. Sie wurden allesamt Zeuge, wie ein Trupp von etwa dreißig Jugendlichen einen schwarzen PKW stoppte, den Fahrer herauszerrte und verprügelte. Einige Männer im Zug glaubten in ihm den Schriftsteller Max Zimmering erkannt zu haben. Tage später wurde bekannt, daß er tatsächlich aus seinem Fahrzeug gezerrt und mißhandelt worden war. (Auch das Auto des Theaterregisseurs Manfred Wekwerth, der Briefe Bertolt Brechts an Walter Ulbricht und Otto Grotewohl zum ZK der SED in der Lothringer Straße 1 bringen wollte, versuchten Aufgeputschte zu demolieren und umzukippen.)
Offenbar mißfiel dem aufgeheizten Trupp die friedlich demonstrierende Kolonne. Jedenfalls setzte er sich an die Spitze und begann Losungen zu schreien: „Berliner, reiht euch ein, wir wollen freie Menschen sein!" „Nieder mit der Regierung!" Die in der Kolonne stimmten teilweise ein, allerdings ohne sich besonders zu temperieren. „Russen raus!" „Freie Wahlen her!"
Der randalierende Spitzentrupp wurde vermutlich von Horst Hertel aus der Brendickestraße oder Adrian Sander aus dem Männerheim Kastanienallee angeführt. Zu ihm gehörten auch die nur unter ihren Decknamen bekannten Westberliner „Mohrchen", „Taubenzüchter" und „Feueromme". Und alle waren Mitglieder des „BDJ" (Bund Deutscher Jugend), der von „Catcher" und „Wittka" geführt und von einem Amerikaner („Toska") ausgebildet wurde.
Entsetzt sah der Knirps Richard Herold von der Baustelle Block 40 zu, wie in der Dircksenstraße ein schwarzer BMW mit dem Kennzeichen GB 009 783 offenbar absichtlich von einem LKW gerammt wurde. Sieben, acht Jugendliche zerrten die vier Zivilisten heraus und mißhandelten sie. Der siebzehnjährige Horst Hertel brach den Tankverschluß auf und zündete das Auto an. Währenddessen plünderten seine Kumpane die Männer. Der neunzehnjährige Hans Schulz entriß einem die Dienstwaffe, schoß kreischend um sich und bedrohte jeden, der nicht gute Miene zum bösen Spiel machte. Zu dieser Gruppe des BDJ gehörten der zwanzigjährige Horst Dyballa, der siebenundzwanzigjährige Hans-Ulrich Blaeske sowie der Fuhrunternehmer Gerhard Müller, welcher den „Kampftrupp Barnimstraße" zu den Einsatzorten transportierte. Denn in Vorbereitung des „Tages X" hatte dieser bereits Losungen gemalt und Flugblätter der KgU verteilt.
Nach dem Überfall auf das Auto stoppten die organisierten Randalierer zwei Motorradfahrer der GST, traktierte sie mit Fußtritten und setzten die Kräder ebenfalls in Brand.
Richard Herold erlebte nicht mehr, wie die hemmungslos Rasenden einen Skoda zertrümmerten und die Schaufenster der Buchhandlung „Meshdunarodnaja Kniga" verwüsteten. Denn er rannte in panischer Angst nach Hause. Angst um sich, um seine Eltern, um alles Gute und Schöne seines jungen Lebens.
In der Neuen Königstraße wurde der Lehrling Werner Schubert vom Block G-Nord Zeuge ähnlicher Vorfälle. Junge „Demonstranten" überfielen Volkspolizisten und prügelten auch einen Dazwischengehenden windelweich.
Peter Strache, der inzwischen ernüchtert nach Hause zurückgekehrt war und wüste Szenen vor dem VP-Präsidium aus dem Wohnungsfenster fotografierte, machte sich dadurch der Mittäterschaft verdächtig. Volkspolizei klingelte an der Wohnungstür, nahm ihn mit und entließ ihn erst fünf Wochen später aus der Haft. (Immerhin wurde ihm dafür vierzig Jahre später vom Bundeskanzler der BRD die „Aufstandshand" gedrückt und das Bundesverdienstkreuz verliehen.)
Unter dem frenetischen Beifall von Tausenden stürmten sechs junge Männer das unmittelbar an der Sektorengrenze Potsdamer Platz gelegene Columbushaus. Sie drangen in das im 1. Stock gelegene VP-Revier ein, entwaffneten die Volkspolizisten und jagten sie zu den begeistert Johlenden hinaus, von denen sie angepöbelt und bespuckt wurden. Danach schlugen die siegreichen „Helden des Volksaufstandes" das VP-Revier kurz und klein, warfen Papiere, Ausweise, Tischdecken, Lampen, Literatur, Schreibutensilien und anderes zum Fenster hinaus. Und schleppten als Beuteware unter Mithilfe anderer fünf Pistolen 08, Koppel, Regenmäntel, Kartentaschen, Schreibmaschinen, eine Geldkassette, Akten und einen ganzen Panzerschrank über die Sektorengrenze zum Polizeirevier 29/30 der Stummpolizei.
Von den zweiundsechzig Lehrlingen, die Fritz Lehmann ursprünglich gefolgt waren, erlebten höchstens noch fünfzehn bis achtzehn diese Horrorvorstellung. Auch Aktivleiter Klaus Dippelt vermochte sich kaum zu rühren und war entsetzt über das chaotische Verhalten der völlig außer Kontrolle geratenen Menschen von drüben und hüben. Keinesfalls konnten die sechs „Eroberer" zu den Bauarbeitern gehören. Die zerstören und rauben nicht. Wer waren die also? Offensichtlich hatten sie eine brüllende, fremde Masse hinter sich, die hin und her waberte - wenigstens vierhundert, fünfhundert. Ihren Ringelsocken, Kreppschuhen und bunten Nickis nach waren es keine Ostberliner, ebenso wie die sechs Matadoren. Mit denen allein hätten es Klaus Dippelt und seine Freunde aufgenommen. Aber man würde sie dafür kaputtschlagen, während das Gros der Zehn- bis Zwölftausend auf dem Platz wie beim Stierkampf gaffte und applaudierte oder sich desinteressiert abwandte.
Ja, wer waren diese Leute? Im Polizeirevier 29/30 der Stummpolizei stellte man die Personalien der Beutebringer natürlich nicht fest. Für die Polizisten war selbst der Anführer nur einer von den Dutzenden und Hunderten, die in der Nacht, am Morgen und am Vormittag in den Ostsektor hinübergegangen waren. Aber sein Name wurde trotzdem bekannt. Es handelte sich um Heinz Schäffer, geboren 1927 in Stuttgart und wohnhaft in Berlin-Mariendorf. Gegen Abend des 17. Juni hockte er - matt und mit blutendem Kopf - am Westrand des Potsdamer Platzes und gab einem entzückten „Stern"-Reporter zu Protokoll: „Heute muß ich noch einmal rüber, in den Osten, um dabei zu sein, wenn sie aufstehen, wenn endlich der mit Knüppeln, Ketten und KZ's unterdrückte Schrei nach Freiheit hervorbricht."
Leser des „Stern" schrieben später: „Schäffer ist ein Schwein." Der „Stern" anwortete: „Schäffer ist kein Schwein", und veröffentlichte sogar eine Serie über ihn. Doch danach krähte kein Hahn mehr nach diesem Scharlatan des kalten Krieges. Das Volk hatte ihn vergessen und die Medien ihn samt seiner „sensationellen" Story verbraucht. Denn bis 1951 war Schäffer ein leitender, strammer FDJ-Funktionär gewesen, der bereits an Honeckers Tisch gespeist hatte, bevor er sich zum Aufstand gegen die DDR entschloß. Was er durch die Flucht nach Westberlin und seine aktive Mitarbeit in der Jugendgruppe der Deutschen Reichspartei dokumentierte, bis ihm der 17. Juni 1953 eine existenzsichernde Heldenlaufbahn zu öffnen schien. Allerdings wurde im „Stern" nicht erwähnt, daß die FDJ den ehrgeizigen Schäffer zuvor wegen Manipulationen und Betrügereien aller Funktionen enthoben und die SED ihn aus ihren Reihen ausgeschlossen hatte. Wobei erstmals seine Nazivergangenheit als HJ-Scharführer und freiwilliger SS-Mann ans Licht kam.
Von ähnlichem Kaliber war wohl sein früherer FDJ-Kumpel Heinz Lippmann, der es sogar bis zu Honeckers Stellvertreter brachte, noch am 1. Juli 1953 in einer flammenden Rede vor vierzigtausend Dresdner Jugendlichen den „faschistischen Putschversuch der Adenauerregierung" verurteilte - und sich wenige Wochen später mit einem (FDJ-eigenen) Startkapital von dreihundertausend DM West in die Bundesrepublik begab. Wo ihn nach folgerichtigen Aktionen gegen seine ehemaligen Genossen und Jugendfreunde schließlich das Bundesamt für Verfassungsschutz unter die wohlwollenden Fittiche nahm. Dessen Präsident später sogar ein buntes Gebinde an seinem frühen Grab niederlegen sollte.
Doch zurück zum Potsdamer Platz.
Nach der Entwaffnung und Vertreibung der Volkspolizisten befanden sich nur noch das alte Hausmeisterehepaar Patzer sowie der Kriminalpolizist Stenzel im Columbushaus und mußten danach hilflos miterleben, wie das Gebäude von mehreren Gruppen und in mehreren Wellen mit Steinen bombardiert, erstürmt, geplündert, demoliert und zerstört wurde. Jedes Büro, jede Toilette, das Oberlicht, sämtliche Scheiben, Gardinen, Geschirr, Möbel... Auch die im 7. Stock gelegene Wohnung des Hausmeisterehepaares. Im 2. Stock wurde ein Feuer gelegt, das sich langsam weiterfraß.
Eine der wildesten Gruppen rückte vom Westberliner Breitenbachplatz aus an und drang mit einem Steinhagel gegen das bereits „eroberte" Gebäude vor. Sie war vom amerikanischen Zwei-Sterne-Offizier Hiwer instruiert worden, bestand zumeist aus Jugendlichen und Arbeitslosen, zählte über neunzig Mann, war mit Knüppeln und Eisenstangen bewaffnet und wurde vom ehemaligen Güstrower Paul Günting angeführt. Dieser hatte eine Pistole und schoß auf Volkspolizisten sowie Rotarmisten. Seine Gefolgsleute waren u. a. Josef Schneider, Georg Gehrke, Hans Jürgen, Reinhold Marold, Rudolf Jenschinski, Walter Halleck und Werner Kalkwoski. Zu demselben Trupp gehörte auch Günter Niemetz, der bereits einen Kiosk in Brand gesetzt hatte.
Inzwischen brannten zwei Lebensmittelkioske, ein Zeitungsladen, ein VP-Häuschen.
Aber dann radelte durch die Köthener Straße in Westberlin noch ein Zug Halbwüchsiger - wie die Rollkommandos der HJ mit Polizeiknüppeln ausgerüstet - zum Potsdamer Platz. Stellte am „Haus Vaterland" die Räder ab, zertrümmerte mit Ziegelsteinen und Brechstangen die Eingänge und Fenster des Rundbaus, drang ein und legte an mehreren Stellen Feuer. Das „Haus Vaterland" brannte bis auf die Grundmauern nieder.
Und inmitten der Trümmerhaufen des letzten Krieges sang die Meute „Flamme empor! Flamme empor! Steige mit loderndem Scheine von den Gebirgen zum Rheine siegend empor. Flamme empor."
Dippelt und seine Freunde wandten sich ab. Und hörten woanders „Deutschland Deutschland über alles ..." In ungünstiger Windrichtung, zu weit, um den Text zu verstehen, zugegeben. Aber die beiden Melodien reichten Hunderten von Berlinern aus, sich angewidert abzuwenden.
Seit den frühen Morgenstunden standen jenseits der Sektorengrenze zwei Lautsprecherwagen, durch welche die Stimmung ununterbrochen angeheizt wurde. Einer gehörte der SPD. Er versuchte unter anderem, die Volkspolizisten zum Überlaufen zu bewegen. Im zweiten saß Anton Löffler aus Westberlin, der später die Sowjetsoldaten zum Übertritt aufforderte.
Inmitten der vielen Tausend Menschen im Zentrum Berlins, in der Friedrichstraße, Unter den Linden und am Brandenburger Tor befanden sich auch Bertolt Brecht und Erwin Strittmatter. Brecht war bereits am Vortag bis tief in die Nacht unterwegs gewesen. Was er bis zum Nachmittag erlebte, bewegte ihn sehr. Es war schlimm, daß sich Arbeiter erst sichtbar gegen die Regierung auflehnen mußten, um Gehör und Verständnis zu finden. Aber es war gut, daß sie es taten. Danach allerdings trat ein, worüber er an Peter Suhrkamp schrieb:
„... Ich habe in der Nacht des 16. und am Vormittag des 17. Juni die erschütternden Demonstrationen der Arbeiter übergehen sehen in etwas sehr anderes als den Versuch, für sich die Freiheit zu erlangen ... Ich habe an diesem tragischen 17. Juni beobachtet, wie der Bürgersteig auf die Straße das 'Deutschlandlied' warf und die Arbeiter es mit der 'Internationale' niederstimmten. Aber sie kamen, verirrt und hilflos, nicht durch damit."
Und Strittmatter sprach später in unserem Funkstudio von „einem Spaziergang über den Boulevard rünstiger Tollheit und ranziger Gesänge".
Bäckermeister Kurtzer hatte inzwischen genug, wollte nach Hause, war durch die Wilhelmstraße gegangen und ebenfalls Unter den Linden angekommen. Viele Tausend Menschen gingen hin und her oder standen herum - nur so; gelangweilt; neugierig; unternehmungslustig.
Auf dem Brandenburger Tor hing statt der gewohnten roten eine schwarz-rot-goldene Fahne, und zwar auf Halbmast. Allerdings nicht als Trauersymbol. Aber von irgendwoher war geschossen worden, und da rutschten die Hisser denn Hals über Kopf an Stangen zur Westseite hinunter.
Zuvor war die rote Fahne unter dem tosenden Beifall einiger Hundert Zuschauer heruntergeholt, danach vor allem von Halbwüchsigen zerfetzt und als Souvenir verteilt worden. Diese „Heldentat" hatten der Pankower Werner Lange und der Strausberger Alfred Schulze vollbracht. Nun thronten sie auf den Schultern kräftiger junger Männer, sonnten sich in ihrem Triumph und wurden dafür vom Westberliner DGB-Vorstand sowie dem bundesdeutschen Kaiser-Ministerium aktenkundig als „Helden des Volksaufstandes" registriert. Was für die beiden wichtig war, da sich später noch andere mit diesem Ruhm zu schmücken versuchten.
So Horst Ballentin von der Stalinallee, der vorgab, im Kugelhagel der sowjetischen T-34 den verhaßten roten Fetzen heruntergerissen und die Bärenfahne gehißt zu haben. Wahrscheinlich reichte es seinem Ehrgeiz nicht, daß er wahrend des Krieges „aus Hitlers eigener Hand" einen hohen Orden empfangen hatte.
Dreißig Jahre später ließ sich noch ein anderer dafür feiern. Er hieß Werner Klaer und gab sich sogar als einer der „Hauptakteure des Volksaufstandes" aus. Die „Welt" präsentierte ihn wohlwollend der leichtgläubigen Öffentlichkeit. Aber noch nicht einmal die Staatssicherheit der DDR hatte je etwas von diesem „Späthelden" gehört.
Noch 41 Jahre nach jenem 17. Juni tauchten auf einer Pressekonferenz von Dr. Hildebrandt plötzlich zwei „17.-Juni-Kämpfer" auf und erläuterten, wie sie auf Block 40 den Generalstreik ausgelöst hatten. Allerdings konnte mir der eine nicht mal den Standort von Block 40 beschreiben, und der andere ging mir hartnäckig aus dem Wege. Der eine hatte nämlich damals nur als Lehrling am Leichengang im Krankenhaus Friedrichshain gearbeitet, und den anderen kannte überhaupt niemand. Wahrscheinlich wollten sie ihre Namen in der Geschichte verewigt sehen und nebenbei ein paar Märkel absahnen. Als das geschehen war, tauchten sie wieder ab ... und bei mir wieder auf, sogar kostenlos: es handelt sich um Gunter Menzel und Heinz Pandias.
Karl Bärenstein und ich standen rauchend vor dem Wäldchen, als Willi Kurtzer die Stalinallee heraufkam. Er bemerkte mich zu spät, um noch die Straßenseite zu wechseln. Offenbar wollte er nicht mit den demonstrierenden Männern, Frauen und Kindern in Verbindung gebracht werden, die auf der Gegenfahrbahn noch immer in Richtung Stadtzentrum trabten. Dazwischen zuckelten jetzt zwei sowjetische Kastenwagen dahin - jeder mit etwa zwanzig unbewaffneten, unbehelmten jungen Sowjetsoldaten in Ausgangsuniform auf der Plattform.
Gesichter und Körperhaltung druckten unterschiedliche Empfindungen aus: Stolz, Zorn, Sorge, Angst. Manche lächelten und winkten zurück, wenn man sie grüßte. Aber es gab von unten auch Anpöbeleien, und manchmal flogen Steine oder Holzstücke gegen die Soldaten. Unweit von uns wurde einer an die Stirn getroffen, Blut rann über sein Gesicht, und die jugendlichen Werfer tobten freudig. Diese Szene schmerzte und empörte mich. Denn die Familien vieler junger Soldaten hatten durch den Überfall der deutschen Faschisten auf ihr Land schwerstes Leid erfahren. Allein bei der Befreiung Berlins waren noch Abertausende Rotarmisten gefallen. Und das lag erst 8 Jahre zurück.
Über die Plattform des LKW war eine zornige Bewegung gegangen. Aber der Offizier redete auf die Soldaten ein. Offenbar hatten sie strikten Befehl, sich nicht provozieren zu lassen und jede Konfrontation zu vermeiden.
„Die sollen lieber anständig dazwischenhauen", maulte Kurtzer, „statt spazieren zu fahren." Karl und ich empfanden ebenso, nachdem uns Kurtzer von den chaotischen Ausschreitungen berichtet hatte, deren Augenzeuge er gewesen war. Nach dem, was wir sahen und erlebten, hatten wir keinen Grund, daran zu zweifeln. Außerdem neigte Kurtzer nicht zu Übertreibungen.
Am Potsdamer Platz war ihm auch Stanike über den Weg gelaufen, sein guter Schrippenkunde und flotter Maurer vom Block 40. „Der hat Mund und Augen aufgesperrt, wie er die ganze Scheiße gesehen hat."
Der kleine Mann war im Grunde für seinen neuen Backofen auf die Straße gegangen und kehrte nun enttäuscht zurück. Denn eigentlich hatte er sich vom Aufmucken der Bauarbeiter noch einiges mehr versprochen, und zwar nicht nur eine bessere Lebensmittelversorgung oder Zucker, Rosinen, Korinthen, Zitronat und Nüsse für seine Backwaren: „Ein bißchen mehr Freiheit für Gusche und Beene" und klare Sicht voraus für Backstube und Laden im laufenden Fünfjahrplan. „Futsch ist futsch und hin ist hin, wenn die Russen mitmischen müssen", waren seine Abschiedsworte.
Aus Richtung Lichtenberg zuckelten drei weitere grüne „Kolchosenklepper" mit Garnisonssoldaten heran. Inzwischen befanden sich auch einige KVP-Kompanien in Bereitschaft. Und der Oberkommandierende der Sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland, Marschall Gretschko, hatte die erste Welle Panzer und Schützenpanzerwagen in Marsch gesetzt. Am Treptower Park waren sie schon vorübergerasselt.
Willi Kurtzer rollte davon, während Karl bei mir stehenblieb. Was sollte er auch hinter dem mickrigen Tannenhain. Das Tagesgeschehen lief hier vorn ab. Im wahrsten Sinne des Wortes. Obwohl die müde nach Osten Trabenden schwiegen, die nach West Strebenden dagegen meist noch aufrecht und munter dahinzogen. Außerdem wurden sie gelegentlich von der Spitze her durch Losungen mobilisiert und revolutionär motiviert. Wozu offenbar gehörte, daß sie uns - und natürlich vor allem den „VoPo" Karl - beschimpften.
Manche der Heimwärtsgehenden lächelten zu den anderen hinüber, manche sagten ihnen auch etwas. Aber gewiß nicht: „Stürzt die Regierung", oder: „Macht die Wiedervereinigung". Letzteres stand ja auch auf dem Programm der hiesigen Politiker. Sowie auf dem Moskaus, wenn man dessen unzählige Noten und Memoranden beim Wort nahm. Darunter war im Vorjahr, noch unter Stalin, sogar ein Vorschlag für freie und geheime Wahlen in ganz Deutschland gewesen: unbeachtet zurückgewiesen, verhöhnt von jenen, die nun die aktuellen Ereignisse als Aufbruch der Sowjetzone in die Freiheit bejubelten.
Auf der anderen Straßenseite, genau vor der Deutschen Sporthalle, stand Hein Görlich. Als er mich entdeckte, bahnte er sich eine Gasse durch die eben sehr träge westwärts fließenden Menschenscharen, überquerte das satte Grün des Mittelstreifens und schlängelte sich durch die noch träger ostwärts ziehenden Menschen. Er war ein bißchen angegangen, in gehobener Stimmung. Die Schiebermütze saß keck im Genick. Ehe er mir die Hand gab, wischte er sie wie gewohnt an der schmutzigen Maurerhose ab. Dann zeigte er mit breitem Lachen seine Goldzähne und zog den Knoten seines bunten Halstuchs fester.
„Staunst du? Ich hab' dir doch gesagt, wir bleiben auf dem Bau. Der Scheiß-Himmel soll selig werden in der Schokoladenhölle. Bei uns nicht mehr. Nicht einen Stein huckt der mehr."
Hein Görlich hatte sich „auf Inspektion" befunden, wie er scherzend erklärte: „Bloß um zu sehen, wer noch so ist wie wir. Ganz interessant, du. Meine habe ich alle nach Hause geschickt. Die Latschen voll bis obenhin. Am meisten Genosse Großmaul. Unser strammer Philosoph" - er meinte Otto Hämmerling - „hat anderthalb Pulle genuppelt; in bald drei Stunden. Eisern ist er dageblieben. - Pünktlich, hab' ich gesagt, morgen früh sieben Uhr auf dem Bau!" Und sie: 'Schieber, du kannst dich auf uns verlassen.' Das sind Kerle, was?"
Als Görlichs Brigade ihren revolutionären Frühschoppen begann, hatten sich bei Oberbauleiter Pfeng, Parteisekretär Gutzeit und BGL-Vorsitzenden Fischer einhundertvierzig Leute von Block 40 eingefunden: niemand von Görlichs Brigade, aber Poliere, Bauleiter, Brigadiere, Maurer, Zimmerer, Verschaler, Transporter, Betonbauer, Elektriker, Schlosser ... Einer wie der andere bereit, den Schutz der Dreieckbaustelle Weidenweg/ Löwestraße/Auerstraße zu übernehmen. Nötig gewesen wären nur siebzig, aber alle einhundertvierzig blieben.
Auf Baustelle G-Nord hatte Hein fast Friedhofsruhe vorgefunden, obwohl nur fünfzig Mann zu Hause oder im Gefolge von Hucker Georg Heinersdorf, Transportbrigadier Könis und den Maurern Dilcher und Klüsener in Richtung Zentrum unterwegs waren.
Die Brigade Hartmann, Transportbrigade Fiedler und Maurerbrigade Vorwerk waren komplett geblieben und zur Arbeit bereit. Mit ihnen die Lehrlingsbrigade, etwa weitere neunzig Männer, sämtliche Budenfrauen und das technische Personal. Aber alle hatten Angst vor den Randalierern, den fremden Krawallmachern in schnieker Zimmererkluft, schneeweißen Maureranzügen und ebenso nagelneuen blauen Kombis. Als wären sie eben vom VEB „Fortschritt" mit diesen Aufstandsuniformen ausgerüstet worden. Wieder und wieder rückten sie gegen G-Nord an.
Deshalb getrauten sich die ohnehin Verunsicherten nichts, wußten sie doch nicht, wer hinter ihnen stand und wie der ganze Knatsch ausgehen würde. Denn dem Sieg folgt zumeist die Rache. Einer wartete auf den ersten Handschlag des anderen. Auch das Lernaktiv „Karl Liebknecht" und die übrigen achtzehn Lehrlinge, die eigentlich allesamt zur Arbeit bereit waren. Bauleiter Schröder, Parteisekretär Merten und BGL-Vorsitzender Lindau kämpften vergebens gegen die Angst an, die sich auf dem Bau breitgemacht hatte.
Auf der gegenüberliegenden Baustelle Block G-Süd zwischen Warschauer und Niederbarnimstraße saßen etwa 300 Männer in der Essenbaracke und redeten und rauchten und redeten.
Am Vortag hatten sie auch schon so zusammengesessen, und nicht einer war der zum Haus des Ministerrates aufbrechenden Demonstration anderer Baustellen gefolgt. Da nun die Forderungen der Bauarbeiter mehr oder weniger erfüllt waren, sah man erst recht keinen Sinn im Marschieren. Im Streik natürlich auch nicht. Und schon gar nicht in den aggressiven Posen oder Handlungen der auf dem Damm Dahintrabenden.
Zur Sicherung des Blocks hatte man zunächst die unteren Leitern hochgezogen. Als sich einige der Radaubrüder aber daran machten, Krankabel und Baumaschinen zu zerstören, stiegen die elf Zimmerer, die Brigade Schanz und die Betonbrigade Wiegand vom vierten Stock herab und verwiesen die Vandalen gemeinsam mit den Transportbrigaden Stiller und Groß von der Baustelle. Trotzdem redete man sich in der Essenbaracke über das Wenn und Aber sowie den Schutz der Baustelle die Köpfe heiß. Wahrscheinlich wäre mancher doch ganz gern draußen mitmarschiert, wollte aber nicht aus seinem Kollektiv ausbrechen. Also nahm er alles still hin, knirschte wohl zuweilen innerlich mit den Zähnen, schloß sich aber der Mehrheit an.
Die parteilosen Kranfahrer Adolf Werner und Horst Pöcking gaben spontan bekannt, daß sie ihre Turmdrehkrane in den folgenden 24 Stunden durchgehend persönlich bewachen würden. Das ließ die anderen aufhorchen und gab neuen Auftrieb Sämtliche Zimmerer sowie die Brigaden Wiegand, Schanz, Stiller und Groß schlössen sich an. Die übrigen Brigaden waren darüber uneins. Aber jeder hob die Hand, als die Vollversammlung des Blockes G-Süd beschloß, ab 18. Juni 7 Uhr den Aufbau des Wohn- und Geschäftshauses fortzusetzen und dies weithin bekanntzugeben.
Zimmermann Kirsch und Brigadier Weigand bemühten sich energisch um Aufrechterhaltung der Ordnung. Besonders Kirsch besaß bei den Kollegen viel Autorität. Mit seiner großen Familie war er Anfang des Jahres in eine der ersten Vierraumwohnungen im Block C-Süd gezogen, für die er nur 89,60 Mark Miete zahlen mußte. Das war einer der glücklichsten Tage seines Lebens gewesen. Um so mehr hatte ihn empört, daß sich fremde Radaubrüder nun am Block G-Süd zu schaffen machten und auch die aus den Fenstern von C-Süd schauenden Leute anpöbelten.
Dagegen war auf den Restbaustellen von C-Süd nichts Besonderes losgewesen. Horst Schlafke und seine Kumpane hatten sich wohl schon in den Tagen zuvor verausgabt. Jedenfalls wurden sie weder am 17. Juni 1953 noch danach jemals wieder in der Stalinallee oder überhaupt hierzulande gesehen.
Vor F-Süd hatte Hein etwas verweilt. Von hier aus war das Streitobjekt Ruck-zuck-Karre auf die Baustellen losgekollert. Wer diesem Vehikel mit den riesigen Ackerwagenreifen ablehnend gegenüberstand, galt als bauhemmender Reaktionär und verzögerte den Aufbau der ersten sozialistischen Straße Berlins. Zu solchen kamen dann Hucker Karl Riestau vom VEB Bau-Union Magdeburg sowie sein Brigadier Rudi Sandt und der BGL-Vorsitzende Bruno Thiede. Riestau hatte die Karre in irgendeiner sowjetischen Zeitschrift gesehen und sie flugs auf F-Süd angewandt. Wofür er Aktivist wurde. Da die Görlichs rundweg alle Neuerungen ablehnten, waren die drei vor längerer Zeit auch bei denen aufgetaucht - und unverrichteter Dinge wieder abgezogen. So hatte Hanne Himmel bis zum 16. Juni traditionsfreudig weiterhucken dürfen.
Wahrscheinlich bauten Riestau, Sandt, Thiede und die übrigen 180 Bördeleute inzwischen ihre im Krieg durch Luftangriffe schwer zerstörte Heimatstadt weiter auf. Während sie den Berlinern das „Magdeburger Haus" hinsetzten, waren mehrfach Bördebauern zu Besuch gekommen und hatten ganze LKW voller Brot, Hähnchen, Wurst, lebende Ferkel, Schmalz und Eier mitgebracht.
Am Block
E-Süd klang nichts mehr nach von jenem gloriosen Richtfest. Die Lehrlinge waren
weitergezogen, teils nach G-Nord und teils zu Lückenbauten. Den beinahe vollständig
bewohnten Block bevölkerte nur noch eine Handvoll Zimmerer, Steinmetze,
Elektriker, Heizungsmonteure und Maler. Für den 17. Juni war es erstaunlich
still hier, fand Hein.
Jugendbaustelle
Aber eigentlich war es nicht verwunderlich, denn die Zimmererbrigade „Max Reimann" hatte den Schutz der Baustelle übernommen. Erich Keil erinnerte sich später, daß zum Strausberger Platz nur sechs oder sieben Männer gegangen waren, darunter vielleicht Homuth und Sandow, aber bestimmt nicht Ella Sarre - denn auch Keil kannte sie nicht. Dagegen wollte Hein Görlich Heinz Homuth sogar unter jenen gesehen haben, die den Bau bewachten. Denn immerhin führte Homuth die Brigade „Max Reimann", seit Max Oeser irgendwo in Grünau an einem Studentenwohnheim baute. Homuth soll also seine Baustelle beschützt haben, wie es sich für einen Zimmermann gehörte, für den „der Sozialismus das Schönste ist, was es für die Menschheit gibt, wenn er richtig gehandhabt wird." So Homuths Überzeugung und die seines Freundes Günter Sandow selbst noch 40 Jahre später, als ihnen der Bundeskanzler für die Teilnahme am „Volks"- oder „Arbeiteraufstand" des 17. Juni 1953 eben feierlich das „Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland" verliehen hatte.
Auch der südliche D-Block hatte das Rohbaustadium längst hinter sich. Dort begegnete Hein Görlich dem alten Oberpolier Julius Biehl.
„Jule" stand mit so grimmigem Gesicht an der breiten Zufahrt, als wollte er allein dadurch ungebetene Gäste vom Eindringen in seine geheiligte Lehrlingsbaustelle abhalten. Der Bauarbeiternachwuchs - neunundfünfzig Jungen und ein Mädchen von insgesamt 230 Maurerlehrlingen - hatte dort zuvor unter Anleitung seiner Ausbilder Hervorragendes geleistet, damit das Richtfest für die sechsundachtzig Wohnungen und acht Läden trotz einer anfänglichen Bauverzögerung schließlich doch noch fünfundzwanzig Tage vorfristig gefeiert werden konnte.
Natürlich wäre das ohne eine gute Zusammenarbeit mit den „alten Hasen" der Beton-, Zimmerer- und Transportbrigaden undenkbar gewesen. Deshalb legte Jule stets Wert darauf, auch die Leistung der Brigadiere Cierpinski und Pietrutzschinski hervorzuheben.
Inzwischen bauten neunundfünfzig Jungen und zwei Mädchen bereits am Kinderwochenheim „Hildegard Jadamowitz" hinter dem Block D-Süd. Eines der Mädchen hieß Edith Breyer: eine bescheidene, zierliche Hübsche mit dunklen Augenbrauen, fescher Steckfrisur und einem scheinbar unvergänglichen Lächeln. Sie wollte Architektin werden, und dazu war eine praktische Berufsausbildung auf dem Bau nötig.
Als Oberpolier Julius Biehl der schmalbrüstigen Sechzehnjährigen zum ersten Mal ansichtig wurde, hatte er getobt: „Was die mir alles schicken! Jetzt sogar schon kindliche Weiber!"
Allerdings wütete er vergebens gegen den für die Einstellung der Lehrlinge verantwortlichen Erich Hilschan. Der hatte nämlich in Übereinstimmung mit dem Gesetz entschieden. Schließlich gewöhnte sich Jule an das „kindliche Weib" ebenso wie an das Gesetz. Bald hatte er das Mädchen sogar ins Herz geschlossen und betraute es mit „Sonderaufgaben", für die er nur Lehrlinge seines bevorzugten Vertrauens einsetzte. So trabte Edith denn fast täglich zu Bäcker und Fleischer, um Jule als Zubrot für die von seiner Frau spendierten Flasche Pils sechs Schrippen und 300 Gramm Hackepeter zu holen. Dafür bekam sie manchmal eine Butterschrippe ab.
Eigentlich störte es niemanden, daß Jule damit seine alten Schiebergewohnheiten fortsetzte, als jeder „Stift" Laufbursche und Puddel der Schieber oder Altgesellen war. Denn Jule galt als erstklassiger Fachmann und auch sonst prima Kollege. Deshalb drückten selbst Lehrausbilder Kurt Löffler und Lernaktivleiter Grotkan die Augen zu, und die Gewerkschaft merkte nichts.
Zu Beginn hatte Edith es nicht leicht gehabt. Von den Jungs wurde die kesse und fesche „Lehrlingin" akzeptiert. Aber die mit ihr in einer Bude untergebrachten Bauhelferinnen und Budenfrauen frotzelten so unerträglich über die „kleine Nuß mang all die heißen Böckchen", daß Biehl ihr schließlich in seiner eigenen Bude Unterschlupf gewährte.
Edith war mit ganzem Herzen bei der Sache. Deshalb leistete sie auch freiwillig rund tausend Aufbaustunden beim Steineklopfen und Schuttschaufeln am zerbombten „Rose-Theater", spendete von ihrem Lehrlingslohn „zwei Prozent für den Frieden", hatte in der Schule ausgezeichnete Noten und gehörte auch beim Mauern zu den Besten. Folgerichtig und verdient wurde sie als Jungaktivistin ausgezeichnet.
Inzwischen hatte sie sogar Verstärkung bekommen. Diese hieß Angela Kammer und wollte ebenfalls Architektin werden. Als Stalin gestorben war, meldeten sich Edith Breyer und Angela Kammer in der Bauparteileitung. Sie war in einer langen Baracke links hinter E-Süd untergebracht, in der sich außer den Lehrlingsunterkünften auch die FDJ-Leitung befand.
Hier residierten zwei hauptamtliche FDJ-Sekretäre nebst Sekretärin. Eine Ella Sarre allerdings nicht, die doch als Instrukteurin und Jungkommunistin im Hinterland der Blöcke D und E gearbeitet haben will. Auch der damalige Parteisekretär Merten weiß nichts von einer Instrukteurin und Genossin Ella Sarre. Ebensowenig wie irgendein anderer Lehrling, wie Edith oder Angela.
Die beiden Mädchen hatte damals ein Herzensbedürfnis zu Merten geführt. Sie wollten zu Ehren Stalins Mitglied der SED werden, waren aber erst siebzehn. Doch man fand eine Sonderregelung, und die Hübschen konnten Genossinnen werden.
Edith und Angela hatten sich rasch angefreundet. Mit den Jungen kamen sie beide gut hin, und mancher ging ihnen mehr als nötig zur Hand. Selbst der bekanntermaßen nur seine Frau und den Hackepeter liebende Jule schien die beiden schönsten Mädchen der Stalinallee inzwischen heimlich zu bewundern. So was schickte man eigentlich nicht zum Schlachter Hackepeter holen ...
Nun stand Jule also vor D-Süd,
den durchgeschweißten graubraunen Hut in die Stirn gezogen, und schaute in die
Gesichter der Vorbeiziehenden. Manche riefen Losungen, andere pöbelten ihn oder
eine unweit stehende Gruppe von sechzehn oder achtzehn Lehrlingen an, warfen
sogar mit Steinen ... Dennoch - oder gerade deshalb - folgten ihnen die Jungen
nicht.
Auch Edith und Angela dachten: „Was die schreien, ist nicht unsere Sache. Wohin die gehen, führt unser Weg nicht." Die meisten Lehrlinge reagierten ebenso, saßen m der Baracke, spielten Schafskopf, Skat, Siebzehn-und-vier, dösten, alberten...
Allerdings waren einige zu Hause geblieben, genehmigten sich einen freien Tag extra Und ein paar ganz „Starke" demolierten die Jungs-Toiletten.
Der parteilose Oberpolier hatte seine vier Lernaktivs lieber mauern gesehen Tags zuvor, als das anfängliche Häuflein der Demonstrierenden von Block 40 und Bettenhaus längs der Allee zum Mitkommen aufforderte, hatten die Lehrlinge nicht mal einen Finger streiken lassen. Und viele zog es danach zur Parteiaktivtagung in den Friedrichstadtpalast. Auch Edith und Angela.
Am 17. Juni erschien die Stillegung der Lehrlingsbaustelle einfach als Sicherheitsmaßnahme notwendig. Mit Streik hatte das nichts zu tun, sagten Jule, Edith und Angela sowie die Lehrlinge Grünheid, Mehls, Wienhold, Burmeister, Spathold, Deutschmann, Kutz und die Bruder Meier in voller Übereinstimmung mit Bauleiter Lindemann und den Lehrausbildern Leist und Löffler. Es war nur auch hier bereits ein Trupp mit Drohgebärden aufgetaucht.
Von C-Süd sprach Hein nicht. Aber man sah selbst von unserem Standort vor dem Wäldchen, daß in dem seit einem Vierteljahr bewohnten Block nichts los war. Die neue Fleischerei war bereits eröffnet worden, und auch an diesem Mittwochmorgen stand Emma Kitzerowski hinterm Ladentisch. Als es später unruhig wurde, verriegelte sie die Tür und hatte am liebsten Rollgitter heruntergelassen. Aber so was war m der Allee normalerweise unnötig und deshalb nirgends installiert.
Aus den Fenstern aller Stockwerke lehnten gut fünfzig, sechzig Frauen, Kinder und alte Leute Auch die siebenundvierzigjährige Charlotte Reim, deren Mann wie jeden Tag zum Kabelwerk Oberspree gefahren war und nun irgendwo mitmarschierte - als SED-Mitglied. Worüber sich die Stenotypistin mächtig ärgerte, obwohl sie mit der Partei nichts zu tun hatte. Sie selbst war zur Arbeit in ihren Betrieb - den VEB Gaselan - gegangen, dort aber gleich wieder umgekehrt, weil sie „ihre Ruhe haben wollte vor den herumblökenden Streikversuchern".
Zu denen, die aus den Fenstern von C-Süd auf die Richtung Alex ziehenden Menschen schauten, gehörten auch die siebenfache Mutter Ruth Kirsch, deren Mann auf G-Süd wachte; Ilse Große und Tochter Beate - während der Familienvater mit den übrigen Kollegen der Maurerbrigade Schlicker „seinen" Block G-Nord ebenso beschützte wie der Mann von Hildegard Merten; Erna Skodofski und Anne Arnold, deren Männer als Eisenflechter bzw. Bauschlosser auf Block 40 saßen, Frau Moltmann, deren Mann sich auf C-Nord aufhielt; sowie Frau Forster, Frau Schihalik, Frau Schober, Frau Switalla, Frau Krüger, Frau Zimmermann, Frau Bartel, der Pförtner Galles, das Hausmeisterehepaar Trinkaus.
Und Ruth Röthling mit ihrer 16jähngen Tochter. Von den Röthlings sprach man weit und breit mit Hochachtung. In der Dimitroffstraße hatte der Tiefbauer Willi Röthling mit Frau, Tochter und zwei Söhnen sozusagen eine eigene Baustelle. Die fünf räumten 900 Kubikmeter Schutt von dem Ruinengrundstuck und bargen wertvolles Baumaterial. Als sie dafür eine geräumige Vierzimmerwohnung in der Stalinallee zugewiesen bekamen, schenkte ihnen der Magistrat von Berlin ein komplettes Schlafzimmer sowie eine Kücheneinrichtung. Nachdem die Söhne freiwillig zur Kasernierten Volkspolizei gegangen waren, machten die drei verbliebenen Röthlings allem weiter.
Sie und Gleichgesinnte bargen in nur einem Jahr achtunddreißigundeinehalbe Million Ziegelsteine aus den Trümmern. Doch nun brüllten die Ruhestörer auch zu ihnen hinauf: „Kommt runter, ihr Bonzen!" Und. „Euch holen wir auch noch raus!"
In dem Gebäude, so neu es war, war nach einem schweren Betriebsunfall bislang eine hauseigene Gruselgeschichte umgegangen, die den Abergläubischen Unheil zu verkünden schien und auch manchem Aufgeklärten Kopfweh verursachte. Wahrend der Bauarbeiten war nämlich von der Plattform einer „Bauhexe" ein Stapel Bretter heruntergedonnert und hatte die Maschinistin Emma Salomo schwer verletzt. Seitdem wartete das ganze Haus auf ihr Ableben und wollte keine Ruhe finden, obwohl die Salomo inzwischen bereits wieder irgendwo als Maschinistin angetreten war.
An diesem 17. Juni kroch plötzlich nicht mehr der Aberglaube durch die Flure, aber es schauderte Frauen, Kindern und Greisen trotzdem wie nie zuvor. Denn dort unten machten die Macky Messer „Revolution". Ab Mittag übernahmen die Mieter Gerzanbowski, Schihalik, Völger, Krüger, Bartel und Große den Schutz ihres Aufgangs bis zum nächsten Morgen. Nachts patrouillierte auch Walter Große mit seinem kleinen schwarzen Rehpinscher. Der konnte beängstigend klaffen und zähnefletschen.
Stunden zuvor, als Hein Görlichs Männer sich eben an den dritten Kasten Pilsner machten und sich der „stille Philosoph" Otto Hämmerling noch an der ersten Flasche festhielt, hatte dessen Tochter wie alle anderen Mitarbeiter des Instituts für Wirtschaftswissenschaften verunsichert aus dem Fenster geschaut.
Der Blick reichte weit hinein nach Westberlin. Hunderte Menschen, meist junge Leute, kamen in Gruppen herüber und begannen nahe der Sektorengrenze Losungen zu rufen. Am Institut angekommen, schrien sie zu den Fenstern hinauf:
„Generalstreik! Kommt mit! Ulbricht und Genossen sind gestürzt! Berliner, reiht euch ein, wir wollen freie Menschen sein'"
Als sie auf taube Ohren stießen und sogar Gelächter oder derbe Worte ernteten, griffen sie zu Schmähungen und warfen Steine. „SED-Bonzen!" war noch das Gelindeste, was man zu hören bekam. Aber dann zogen sie weiter und intonierten fleißig im Chor: „Berliner reiht euch ein, wir wollen freie Menschen sein!"
Die Tatsache, daß allein an diesem kleinen Grenzabschnitt Hunderte DDR-Gegner nach Ostberlin einbrachen, verunsicherte die Institutsleitung vollends. Überallhin hatten die Chefs telefoniert, Antwort, Rat und Hilfe auf ihre Fragen zu erhalten: Was ist los? Was sollen wir tun?
Was los ist, wußte man überall. Was zu tun ist, niemand. Weder die Landesleitung der SED Berlin noch irgendwer im ZK der SED.
Siegbert Kahn und mit ihm wohl alle rund 170 Mitarbeiter des Instituts waren dem Verzweifeln nahe. Diplomökonomin Ingeborg Hämmerling weinte, und nicht nur sie.
Die Zweiunddreißigjährige fand unerträglich, was in ihrem Staat vor sich ging. Und noch unerträglicher, daß diese Situation von Partei und Regierung wirtschaftsplanmäßig und ideologisch nachgerade herbeigearbeitet worden war.
Zu diesem Schluß war gestern Abend auch ihr Vater gekommen. In der Görlich-Brigade konnte er darüber nicht reden; und das nicht nur, weil die Maurerkollegen - einschließlich Genossen Doeblin und Vertrauensmann Schlickeiser - sich für Mittwoch, den 17. Juni vor allem auf Bier und Bockwurst freuten und „auf den Strausberger Platz was schissen."
Im Institut saßen überall Ökonomen, Politiker und Wissenschaftler zusammen, analysierten und diskutierten, diskutierten und analysierten. Sie ließen weder an der Partei noch Regierung, weder an Ulbricht noch Grotewohl ein gutes Haar. Selbst Pieck kam nicht ungeschoren davon. Offenbar waren alle davon überzeugt, daß niemand unter ihnen war, der dies der Parteiführung oder gar Staatssekretär Mielke hinterbringen würde. Und als die Fehler der Partei- und Staatsführung klar herausgearbeitet waren, ging man nach Hause und überließ das Weitere den übergeordneten Leitungen.
Wie anderenorts leider auch. Denn der von Partei und Regierung eingeleitete „Neue Kurs" war wie junger Wein aus alten Schläuchen, der zwischen den Zähnen knirscht und auf die Galle schlägt. Und er knirschte weiterhin in dem Maße zwischen den Zähnen, wie sich die SED-Obristen von ihrer geschichtlichen Aufgabe und den Menschen entfernten.
1 In der unveröffentlichten Kurzreportage von Arnold Eisensee über sein „Frühstuck bei Rainer im Jahre 1994" findet sich zu Frau Muller folgende Bemerkung des Autors: „In einem an mich gerichteten Brief schrieb sie: 'Spater wollte ich nichts mehr von Politik wissen, denn man verliert zu viel, wenn man auf der falschen Seite steht. Ich gehe auch nicht zur Wahl.' Aha." (d. Hrsg.)
2 Kurt Barthel (1917-1967), DDR-Schriftsteller
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