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Nach dem Beschluß vom Vortag hatte sich die Belegschaft des VEB Goldpunkt am frühen Morgen des 17. Juni im Werkhof versammelt. Betriebsleitung, Partei und Gewerkschaft öffneten die Tore. Wer meinte, gehen zu müssen, sollte gehen. Dies schien immer noch besser, als wenn man den ohnehin schrottreifen Maschinenpark zertrümmert hätte. Danach zog mindestens die Hälfte der Beschäftigten hinaus und die Greifswalder Straße hinunter. Als dann aber aus Richtung Weißensee die erste lautstarke Kolonne heranrückte, schloß man im Werk die Tore zu, die Hydranten an und bereitete sich auf die Verteidigung des Betriebes vor.
An diesem Vormittag befand sich auch die sechsundvierzigjährige Anna Tempelhagen aus der Boxhagener Straße auf dem Wege an die Sektorengrenze. Sie wollte zum Potsdamer Platz. Ihre beiden Kinder, elf und acht Jahre alt, hatte sie in der Wohnung gelassen. Dem elfjährigen Reinhard hängte sie einen Schlüssel um den Hals.
Auch Anna Lehmann war ein Berliner Schlüsselkind gewesen, weil die Mutter stundenweise mal hier mal dort arbeiten mußte. Als sie flügge war, kamen erst Arbeitslosigkeit und dann schwere Transportarbeit in der Lichtenberger Porzellanfabrik. Dort arbeitete auch der Brenner Herbert Tempelhagen. Nach Geburt des Mädchens Inge heiratete ihn Anna.
Dann war Krieg. Anna lötete bei Siemens U-Bootteile und fühlte sich heimlich als Kommunistin. Vor den anglo-amerikanischen Bombern floh sie mit Inge und Reinhard nach Werenzhain bei Doberlug-Kirchhain, wo ihre unverheiratete Mutter hergekommen war. Sie wohnten sogar im Gesindehaus des Hofes Roatsch-Wülsnick in dessen Scheune seinerzeit Bauernknecht Emil der Magd Minna-Pauline ein Kind beigebracht hatte. Worauf er sich zur Schaffung von Heim und Reichtum für Mutter und Kind nach Amerika begab und nicht wieder meldete.
Herbert Tempelhagen war in Berlin geblieben, bis ihn die Wehrmacht holte. Er schrieb kaum, und die Ehe erlosch allmählich. Inzwischen verdienten sich Anna und ihre achtzehnjährige Tochter in Doberlug-Kirchhain ihren Lebensunterhalt als Montiererinnen. Im Dorf arbeiteten viele sowjetische Kriegsgefangene und polnische Zwangsarbeiter.
Kazimir - ein Verheirateter aus Thorun - lachte Anna vom Pferdewagen herunter so lange an und ließ sich von ihr so lange anlachen, bis sie sich bei einer alten Eiche hinterm Dorf trafen, wenn die Fledermäuse ihr Nachtmahl suchten. Diese Liebe war verboten und hätte im KZ enden können - zumal Anna schwanger wurde.
Dann kam der deutsche Krieg nach Deutschland zurück, gejagt von der Roten Armee.
„Muß nach Hause, Anja", flüsterte Kazimir über den Zaun, als die Kampfeinheiten weitergezogen und die Besatzungstruppen nachgerückt waren. „Will Wiedersehen sagen." Mehr Zeit blieb nicht zum Abschiednehmen. Kazimir trabte zur Sammelstelle und ließ nie mehr von sich hören.
Kurze Zeit später schlug ein junger Schlitzäugiger mit der MP die Zimmertür ein, zu der ihn die Bäuerin gewiesen hatte. „Frau, komm." Nach zwei Minuten war es für ihn erledigt. Mit dem Tischtuch wischte er Annas Tränen ab: „Warum du weinen?" Ging gesättigt hinaus und schenkte der Bäuerin wenig später einen Schinken.
Seitdem haßte Anna die Sowjetunion und wollte von Kommunismus oder Sozialismus nichts mehr wissen. Als es soweit war, fuhr sie mit ihren beiden Kindern auf einem Milchwagen nach Berlin und brachte im Hubertuskrankenhaus Kazimirs Kind zur Welt: Irene, ein hübsches Mädchen - und heute meine Frau.
An diesem Mittwoch war Anna Tempelhagen also nicht zu Siemens gefahren, sondern mit anderen durch die Boxhagener Straße gegangen. Hatte sich eingereiht in die unendlich scheinende Kolonne der zum Strausberger Platz ziehenden Zornigen, Empörten, Tatbereiten, um „.. .dieser Regierung, die so viel Scheiße baut, ordentlich eins auszuwischen, damit sie kapiert, daß es außer ihr auch noch das Volk gibt!"
Je mehr sie sich allerdings dem Zentrum und dem Potsdamer Platz näherte, desto gedämpfter wurden ihre Stimmung und Angriffslust. Zu viel Feuer, zu viel zerschlagene Menschen, zu viele brennende Autos, zu viel demolierte Schaufenster, zu viel geplünderte Läden, zu viel zertrümmerte Kioske ... Und am Potsdamer Platz ein Höllenchaos.
„Das hab' ich nicht gewollt." Enttäuscht und verängstigt, besorgt um die Kinder und den Frieden reihte sie sich ein bei jenen Hunderten, Tausenden, Hunderttausenen, die wieder nach Hause gingen, bevor die sowjetischen Panzer den Block D-Nord erreichten. „Das hab' ich nicht gewollt."
Dennoch blieb Anna Tempelhagen zeitlebens Gegnerin der DDR. Wäre sogar Mitglied der SPD geworden, und als diese im Ostteil der Stadt so gut wie verboten wurde, begann sie SED und DDR zu hassen. Danach bedauerte sie manchmal, daß die Bevölkerung Ostberlins im Juni 1953 nicht zum Volksaufstand bereit gewesen war.
Ein magerer Zweimetermann eilte in langen Schritten auf dem Bürgersteig in Richtung Strausberger Platz. „Willst die Regierung wohl als erster kippen, wa?" rief ihm jemand hinterher und erntete den erwarteten Beifall.
Aber der einundzwanzigjährige Arno Burneleit ließ sich nicht beirren. Er kam aus Werbellin bei Wandlitz, wo er und andere ein Ferienheim der BEWAG ausbauten. Wegen der Normenerhöhungen hatten sie keine Sorgen, weil der private Tischlermeister Emil Stange aus Berlin-Lichtenberg seine vier Gesellen nicht nach Akkord entlohnte. Vor seinem Einsatz in Werbellin hatte Arno Burneleit in der Stalinallee Läden eingerichtet sowie Fahrstühle verkleidet, und zwei seiner Tischlerkollegen bauten gerade die Ladeneinrichtungen am Block A-Süd ein. Als er im RIAS vom Aufstand der Bauarbeiter hörte, waren er und ein Kollege per Anhalter nach Berlin gefahren. Sie sorgten sich um ihre Familien. Arno wollte außerdem seine Kollegen in der Stalinallee aufsuchen und von ihnen erfahren, was von der ganzen Sache zu halten war. Denn so ganz traute er dem RIAS nicht.
Die Kollegen traf er nicht an, aber in drei Läden waren die Scheiben eingeschlagen, Ladentische und Regale demoliert. Das jagte ihm das Blut in den Kopf. Die Handschrift der Zerstörer lag offen. In jedem Laden mehrere Mauersteine. Geworfen von Tischlern? Von Glasern? Von Maurern? Oder gar von Säuglingen? Von seinem einjährigen Sohn wohl ebensowenig wie von den drei Brüdern, den beiden Schwestern, dem Vater oder gar der Mutter.
Und wie im Kleinen, verhielt es sich auch im Großen. Zwar hatte keiner aus der Familie mit der SED und dem Staat DDR allzuviel am Hut. Aber niemand wollte ihn einfach zerstören oder zerstören lassen. Es versteht sich von selbst, daß die vier Tischlergesellen am nächsten Morgen pünktlich ihre Arbeit in der Lichtenberger Tischlerei antraten.
Vorerst flossen jedoch die Menschenströme auf der Allee hin und her, und ich stand noch immer mit Karl Bärenstein und Hein Görlich vor dem Wäldchen.
„Mach's gut, Editha wartet." Hein gab mir seine rauhe Hand, die sich wie ein raspeliger Lederhandschuh anfühlte. Er nickte Karl zu und trollte durch die ostwärts Heimkehrenden, bahnte sich eine Gasse durch die irgendwohin nach Westen Ziehenden und schwenkte vor der Sporthalle nach links zum Strausberger Platz ab.
Seit knapp einem halben Jahr wohnte der fünfundvierzigjährige Hein mit der Endzwanzigerin Editha in einer Zweizimmerwohnung des Blocks E-Nord. Den Aufgang hatten seine vierzehn Männer sowie die Maurerbrigade Schild hochgemauert.
Mit Schild verband Hein außerdem der Zufall, daß beide aus gleicher Ursache auf dem rechten Ohr schwer hörten. Diese bestand darin, daß beide an Kriegshandlungen teilgenommen hatten, wo häufig - und durchaus nicht zufällig - unmittelbar vor, hinter, neben, über oder auf Menschen Granaten explodierten. Aber damit waren ihre Gemeinsamkeiten auch schon so gut wie erschöpft. Denn im Gegensatz zu Schild verzichtete Görlich auf hohen Alkoholkonsum während der Arbeitszeit und machte auch nicht durch Lohnmanipulationen von sich reden, die man dem seines Brigadierpostens enthobenen Schild unter der Hand nachsagte. Wenn Schild heute auch unterwegs war - dachte Hein - dann vor allem aus Frust über seine Absetzung, und nicht, weil er die Regierung stürzen wollte.
Die Verkäuferin Editha war Anfang Zwanzig gewesen, als der von Afrikas Sonne tiefgebräunte ehemalige Kriegsgefangene und entwurzelte Schlesier zum ersten Mal die HO-Fleischerei Oranienburger Straße betrat. Danach hatten sie jahrelang bei Edithas Eltern in einem Neun-Quadratmeter-Zimmerchen gehaust. Als sie endlich in den Block E-Nord einziehen konnten, fehlte ihnen zum Glück auf Erden eigentlich nur noch eins: Kinder. Aber dieser Wunsch hatte sich bisher nicht erfüllt.
An jenem schwierigen Junitag des Jahres 1953 konnte Hein Görlich noch nicht wissen, daß er zwei Jahre später ein Zwillingspärchen in den Armen halten sollte. Der Junge starb allerdings nach kurzer Zeit. Aber die kleine Evelyn wuchs unter der zärtlichen Fürsorge ihrer glücklichen Eltern zu einem sehr hübschen, lernbegierigen und besonders klugen jungen Mädchen heran, das später studierte und sich in ihrem Beruf gut entwickelte. Wie viele Bauarbeiterkinder von der Stalinallee, aus denen Hoch- und Fachschulabsolventen, Doktoren und Professoren, Lehrer, Architekten und Wissenschaftler, Ökonomen und Betriebsdirektoren, Diplomaten und andere Staatsfunktionäre hervorgingen. Wie aus jedem beliebigen Straßenzug der DDR, in dem Arbeiter und andere „normale Menschen" wohnten.
Meine Augen waren Hein über den Damm gefolgt. So bemerkte ich, daß er ruckartig stehenblieb und zurückschaute. Von unserem Standort aus sahen Karl und ich nichts, aber wir hörten das erschreckend bekannte Geräusch ebenfalls und kletterten rasch die sechs Marmorstufen des Stalindenkmals hinauf.
Am eingerüsteten Block D-Nord erhob sich eine dicke blaue Wolke zum Himmel. Vor vier T-34 zuckelten zwei Kastenwagen der sowjetischen Garnison. Wie bereits zuvor waren sie mit brav aufrechtsitzenden Soldaten beladen, die ihre Mützenriemen unters Kinn gezogen hatten.
Inzwischen wurde der Mittelstreifen der Allee von Bewohnern der Blöcke E und D sowie ostwärts Heimkehrenden bevölkert. Zwischen den LKW, vor und neben ihnen - ebenso wie vor, neben und hinter den Panzern - erregte, aufgebrachte, verängstigte und aufgeputschte Menschen. Auch auf unserer Seite Empörte und Unentschlossene, Feindliche und Winkende, Drohende und Schweigende. Der schier endlos stadtwärts strebende Zug der Rebellion und Verwirrung, Verführung und Verirrung bewegte sich im Schneckentempo vorwärts. Er war nun langsamer als die auf der Gegenbahn Heimziehenden.
Und überall lagen die zertretenen, weggeworfenen, nachts vom Himmel gefallenen oder auf anderen Wegen nach Ostberlin geschleusten Flugblätter der „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit"...
Die sowjetischen LKW und Panzer erreichten die C-Blöcke. Aus vielen Fenstern winkten die Mieter. Offensichtlich kamen die Bewohner auch aus den Häusern oder standen schon auf dem Grünstreifen, hier und da sogar junge Leute in FDJ-Hemden. Begeisterte Erwachsene und Jugendliche begleiteten auf Gehweg und Mittelstreifen die Panzer, winkten hinauf zu den Kommandanten, während vereinzelt Steine flogen.
Ja, es war ein gespaltenes Volk, da in der Stalinallee. Der Widerstand gegen Zerstörer und Zertrümmerer war sichtlich gewachsen, so daß es bereits eine Mehrheit zu sein schien, die Vernunft und Ruhe wollte. Offene oder verhaltene Sympathie bekundete für eine Armee, die vor wenigen Jahren den Krieg an seinem Ausgangspunkt beendet hatte. Und nun auch mit den kriegsähnlichen Auswüchsen dieses Tages Schluß zu machen schien.
An der Fruchtstraße/Ecke Stalinallee entstand ein plötzliches Handgemenge auf dem Mittelstreifen. Aus einer gegen den dritten und vierten Panzer wütenden Gruppe brachen fünf Männer aus und gingen gegen die Mädchen in Blauhemden vor. Elfi Skodofski wich nicht und kam auch nicht der Forderung nach, die blaue Bluse auszuziehen. Da drangen die Fünf auf das Mädchen ein, zerrissen die Bluse an ihrem Leibe und schlugen die „rote Nutte", das „kleine Russenschwein" nieder. Einer riß das Gitter vom U-Bahnschacht und ehe jemand eingreifen konnte, stießen sie die Sechzehnjährige in den zwei Meter tiefen Schacht. Ebenso hätte man sie vor die Panzerketten werfen können.
Rundum schlug die Empörung hohe Wellen, so daß die Strolche vor Fausthieben und Fußtritten in Richtung Strausberger Platz flüchteten. Zwei Männer und Frau Große holten das benommene Mädchen aus dem Schacht. Offenbar hatte es Prellungen an Kopf, Armen und Füßen. Außerdem klagte es über Rückenschmerzen. Sie wurde von ihrer Mutter und Frau Große zu einem Arzt gebracht. Die Einzelheiten erfuhr ich natürlich erst später. Von unserem Standort aus hatten wir nur ein Gerangel gesehen, dessen Ursachen wir nicht kannten.
Vom Eingang des Kulturhauses rief Paule nach mir, ich würde am Telefon verlangt. „Da geht einem die Muffe!"
Auf halbem Wege kamen mir Kurt Zweck vom Baustellensekretariat der IG Bau/ Holz und der Tagespförtner Emil entgegen. Während der alte Emil nervös an seinem Stumpen kaute, schien Zweck die Ruhe in Person. „Nu kriegen se den Arsch voll." Er deutete auf die rasselnden Panzer und ging mit Emil zur Straße.
„Wem geht die Muffe?" fragte ich Paule.
Er grinste das ihm eigene Grinsen: „Moppelchen."
Werner Kraatz also, der für uns zuständige Instrukteur der Abteilung Agitation und Propaganda der Bezirksleitung der SED. Er erkundigte sich nach der Situation: „Sag mal schnell was." Wahrscheinlich mußte er einen Bericht abgeben und war zu faul oder zu feige, herzukommen.
„Panzer", sagte ich durch. „Vier. Ich glaube, die Masse der Zurückströmenden nimmt ständig zu. Die Kolonnen zum Strausberger Platz werden dünner und dünner. Am Block C hat es eben eine Prügelei gegeben. Habe den Eindruck, daß der Spuk bald vorbei ist. Genug?"
Er war zufrieden.
Wieder draußen, sah ich durch das mickrige Wäldchen einen Menschenauflauf. Genau dort, wo ich eben noch mit Karl gestanden hatte. Am Rande des Areals, auf dem Gehweg. Stimmengewirr, Geschrei von Frauen, Handgemenge.
Der zweite Kastenwagen der Sowjetarmee stand quer und bemühte sich, inmitten der Menschenkolonnen zu wenden. Emil, der Tagespförtner, wankte mir entgegen, reagierte nicht auf meine bestürzte Frage. Vom LKW sprangen drei, vier Rotarmisten und bahnten sich einen Weg durch die Menge.
Ich war noch nicht heran, da trugen die Soldaten Karl Bärenstein ... es konnte nur er sein - der einzige Volkspolizist weit und breit - zum LKW.
Und so war es geschehen: Als Karl, Kurt Zweck und Emil - wie andere auch - den jungen Soldaten auf dem LKW und dem ersten Panzerkommandanten zuwinkten, war aus einer unaufhörlich Losungen schreienden Gruppe zwischen beiden Fahrzeugen ein kräftiger Mann in Monteurkombi ausgebrochen, hatte sich durch die Heimkehrenden gerempelt, blitzschnell einen Dolch aus seiner Brusttasche gezogen und ihn Karl Bärenstein in die Brust gestoßen. Dieser brach lautlos zusammen, und in der allgemeinen Verwirrung war der Verbrecher entkommen.
Die Rotarmisten hoben den offenbar tödlich Verletzten auf ihren LKW und bemühten sich um ihn. Der Offizier rief dem Panzerkommandanten etwas zu. Heraus hörte ich das Wort „Faschisme" oder so ähnlich.
Dann wendete der LKW in einer Gasse, die sich plötzlich inmitten der Menschenmassen auftat. Mehrere Hundert versuchten die beiden Fahrbahnen und den Mittelstreifen freizumachen.
Es war ein Spalier stumm Entsetzter, Empörter, Ernüchterter. Manchem kamen die Tränen, als die Kommandanten der Panzer 93, 94, 95 und 96 vor dem in Richtung Osten abfahrenden LKW grüßend die Hände an ihre Panzerkappen legten. Danach setzten sie - wie bisher im Schrittempo - ihre Fahrt fort.
Kurt Zweck und ich gingen zum Kulturhaus zurück.
Ehrlich, mir rannen Tränen die Wangen hinunter. Innerlich war alles versteinert, und doch brannte ich wie Feuer. Neben mir klagte Kurt Zweck: „Wenn ich 'ne Pistole gehabt hätte! Warum haben wir keine Pistolen?! Warum können die Schweine so einfach einen umbringen?!"
Nach ein paar Worten von uns war Paule genauso fassungslos. Sein ohnehin blasses Gesicht wurde aschfahl.
Ich rief im VP-Revier Boxhagener Straße an. Oberkommissar Krüger hörte schweigend zu. „Gut, ich gebe es weiter", sagte er schwer atmend. „Sind Zeugen vorhanden?"
Ich nannte ihm Kurt Zweck und den Pförtner Emil, dessen Nachnamen ich noch besorgen würde.
Später erfuhr ich von Hein Görlich, daß er das Geschehen ebenfalls wahrgenommen hatte. Allerdings nicht die Tat unmittelbar, sondern das Abspringen der Rotarmisten vom LKW und die Bergung des vermutlich tödlich Verletzten.
„Berliner, reiht euch ein, wir wollen freie Menschen sein!" „Wir fordern freie Wahlen!" „Berliner, reiht euch ein ..." Paule schloß das Fenster.
Die Panzer waren am Stalindenkmal vorbei. Weniger und weniger Kleinkolonnen oder Grüppchen trabten Richtung Strausberger Platz. Nur hier und da krampften ein oder zwei Personen eine bereits tausendmal gehörte Losung heraus, als hätten sie eigentlich lieber den Mund gehalten. Eine angeblich erneut bei G-Nord gesichtete Kolonne von 500 Mann kam nicht bei uns an. Die zum Alex führende Fahrbahn lichtete sich zusehends, während auf dem Bürgersteig Passanten plauderten, diskutierten, spazierengingen. Wie nach einem Orkan, einer Katastrophe, der Detonation einer Luftmine ... heilfroh, das überstanden zu haben.
Etwa um die gleiche Zeit wurde im Block B-Nord eine Tragödie inszeniert, eine der vielen ungezählten an diesem Mittwoch; in Gang gebracht von dem achtundvierzigjährigen Kellner Thiesis. Er wohnte im Block als Untermieter.
Als Thiesis an diesem Tag auf die Straße trat, um seine in der vergangenen Nacht unterbrochene Tätigkeit in der Ostberliner Innenstadt fortzusetzen - also seine „Strausberger Plätze überall zu suchen", wie er im RIAS gehört hatte - sah er, wie ein mit Eisenstangen, Knüppeln und Latten bewaffneter Trupp junger Männer einen Zivilisten jagten. Der Mann flüchtete in das Haus, das Thiesis eben verlassen hatte.
„Kommt rein, ich kenn' mich hier aus!" rief Thiesis den Verfolgern zu und lief dem Mann hinterher. Er wußte genau, wohin er das Rollkommando führen mußte: zur Wohnung der Frau Müller, denn hier hielt sich der Mensch nach seiner Kenntnis gewöhnlich auf. Vielleicht war er sogar mit Frau Müller verheiratet.
Die Banditen traten die Tür ein, stürzten sich auf den Mann und schleppten ihn prügelnd die Treppe hinunter und hinters Haus. Hier schlugen sie ihn bewußtlos. Nach drei Wochen Krankenhausaufenthalt lag der Mißhandelte noch immer im Koma. Ob er überlebt hat, weiß ich nicht.
Als die vier Panzer den Strausberger Platz erreichten, war Margarete Elbin eben von der Demonstration zurückgekommen.
„Geh' ruhig demonstrieren", hatte ihr Mann am Frühstückstisch gesagt, als sei der 1. Mai, „ich geh' arbeiten."
Also begaben sich die achtunddreißigjährige Normenbearbeiterin ins Ostberliner volkseigene Glühlampenwerk, und der zweiundvierzigjährige Glaser Erwin zur Westberliner Privatglaserei im Wedding.
Margarete Elbin hatte sich dem demonstrierenden Drittel der Beschäftigten aus Kollegialität gegenüber den etwa zwanzig Frauen der „Sonderlampe" angeschlossen. Obwohl die Frauen wegen ihrer „Schubkastenreserven" von den administrierten 10 % Normenerhöhung nicht so sehr betroffen waren, wollten sie der Regierung mal so richtig den Daumen zeigen. Die kleine Elbin eigentlich auch: „Nötig haben die es schon lange, ob sie Grotewohl oder Ulbricht heißen." Übrigens war sie die einzige von zehn Mitarbeitern der Normenabteilung, die am „Generalstreiktag" marschierte.
Als
die inzwischen auf dreihundert Menschen angewachsene Kolonne den Alexanderplatz
erreichte, setzten sich an ihre Spitze zwanzig, dreißig unbekannte Leute und
riefen Losungen: „Berliner reiht euch ein ..." „Spitzbart muß
weg!" „Freiheit-Freiheit-Freiheit!" Und wieder von vorn. Die Glühlampenwerker
staunten. Dieser und jener stimmte in den Chor der Rufer ein, die Mehrheit
jedoch begann an der Richtigkeit ihres Marsches zu zweifeln und lief
verunsichert weiter. Vor dem Haus des Bundesvorstandes der FDGB verschmolz der
Zug der Glühlampenwerker mit den dort versammelten zweihundert oder mehr
Menschen. Die eben noch Losungen gerufen hatten, schleuderten Steine und
Holzbretter gegen das Gebäude und versuchten es unter Gegröle zu stürmen
Quelle Bundesarchiv 80/105/21A
Jugendlicher „Panzerstürmer" am Potsdamer Platz, Berlin - 17. Juni 1953
Foto ADN-ZB/AP/zei, Quelle: Bundesarchiv 1983/0823/303
Steinewerfer
in der Leipziger Straße, Berlin - 17. Juni 1953
Da kehrte Margarete Elbin mit den Frauen der „Sonderlampe" um und ging nach Hause. Sie kam zur gleichen Zeit wie die Panzer auf dem Strausberger Platz an und stellte sich zu jenen, die ihnen zuwinkten, zuklatschten. Man rief auch „Bravo!" „Privjet!" und „Druschba!", reichten Blumen und Zigaretten hinauf. Manche kamen dabei den Panzern zu nahe.
Ein T-34 wollte im Rondell offenbar seine Richtung korrigieren, erfaßte einen etwa elfjährigen Jungen mit der rechten Kette und zerquetschte ihn. Lähmendes Entsetzen. Margarete Elbins Herzschlag stockte, und auch ringsum erstarrten alle.
Wer der Junge war, konnte Margarete Elbin später nicht erfahren, und Oberkommissar Krüger wußte es angeblich auch nicht.
Man sagt, es sei der Panzer Nr. 93 gewesen. Einer jener beiden also, deren Bilder um die Welt gingen. Denn darauf ist zu erkennen, daß sie von zwei mutigen Aufständischen mit Steinen beworfen werden - ein bewegendes Bild von den Junikämpfern gegen SED-Diktatur und Besatzungsterror.
Allerdings erfuhr die Welt nicht, daß es sich bei einem der beiden um den Westberliner Studenten Arno Heller handelte. Er war extra aus der Mensa des Städtischen Konservatoriums zum Potsdamer Platz geeilt, um am großen Volksaufstand teilzunehmen. Der zweite Mann könnte durchaus ein Studienkamerad gewesen sein -Arno wußte es später nicht mehr. Oder aber auch der einundzwanzigjährige Horst Bernhagen, der in der Leipziger Straße von unbekannter Hand durch einen Kopfschuß getötet wurde. Vielleicht war es auch der Doktorand Stachowitz von der Freien Universität. Oder einer von den Tausenden DDR-Flüchtlingen aus dem Neuköllner Lage in der Gaigerstraße, aus dem Jugendheim Ganghoferstraße, aus dem Lager Marienfelde und wo sonstwo DDR-Flüchtlinge lagerten, die seit dem frühen Morgen mit LKW herangefahren wurden, weiß Hermann M. aus Tempelhof.
Arno Heller hat sich jedenfalls nach einundvierzig Jahren auf dem Bild erkannt, wenn er auch nur von hinten zu sehen ist, und obwohl er die ganze Zeit in Westberlin wohnte, wo das Foto seit Jahrzehnten in allen möglichen Zeitungen zu sehen war. Immerhin nur vierzig Jahre brauchte der Journalist Will Tremper, den einen der Steinewerfer als Hans-Joachim Maitre aus Bernau und den zweiten als Erwin Kalisch aus Hoppegarten vorzustellen.
Mein Versuch, mit allen oder wenigstens einem dieser Helden zu sprechen, schlug fehl: Arno Heller, der angeblich in Buckow wohnt, war dort nicht auffindbar. Hans-Joachim Maitre soll eine Professur in Boston haben und Erwin Kalisch irgendwo in Brasilien leben.
Soweit zu den heroischen Steinewerfern am Potsdamer Platz oder Haus der Ministerien.
Dort machten sich die Regierungsmitarbeiter in den späten Vormittags- oder ersten Mittagsstunden auf einen Versuch zur Erstürmung des Gebäudes gefaßt. Für alle galt die höchste Alarmstufe.
Die neunzehnjährige Sekretärin Inge Dey und etwa dreißig oder vierzig andere Jugendliche erhielten den Auftrag, sich den über den Potsdamer Platz Vorandringenden entgegenzustellen. Sie verließen das Gebäude durch Tor 16 und gingen redend, schimpfend, agitierend gegen die außer Rand und Band geratenen Junikämpfer an.
Die hatten bereits die Schaufenster vom „Bekleidungshaus Schüler" zertrümmert und ausgeräumt. Auch das Schaufenster des HO-Lebensmittelgeschäftes nebenan wurde eingeschlagen, und die Demonstranten plünderten - besonders Alkohol.
Die jungen Regierungsangestellten standen auf verlorenem Posten, bezogen Prügel und liefen davon. Hart erwischte es Inges Freund Rolf. Er mußte danach ins Krankenhaus gebracht werden. Deprimiert kehrte Inge Dey an ihren Arbeitsplatz zurück.
Nach den verwirrenden Ereignissen vom Vortag hatte sie sich am 17. Juni optimistisch mit der Straßenbahnlinie 74 von Weißensee aus auf den Weg zu ihrer Arbeitsstelle begeben. In Nähe der Klosterstraße verhinderte eine Menschenmenge die Weiterfahrt, vor allem Bauarbeiter in nagelneuer Berufskleidung.
Inge gegenüber saß ein Volkspolizist. Plötzlich zerschmetterte ein Stein hinter ihm die Scheibe und polterte in den Gang. Da flohen die Leute aus der Bahn.
Inge ging zu Fuß weiter, zur Mühlendammbrücke. Überall Bauarbeiter in neuer Kluft, die reinste Bauarbeiterinvasion. Auf der Brücke griffen sich sechs Maurer-Uniformierte einen Zivilisten mit Parteiabzeichen der SED und warfen ihn über das Geländer ins Wasser. Was aus dem Mann wurde, erfuhr Inge nicht. Denn von Angst gepackt rannte sie ins Haus der Ministerien.
Sie erzählte ihr Erlebnis den Kollegen, von denen viele auf dem Weg zur Arbeit ähnliches gesehen hatten. Und alle wunderten sich über die riesige Anzahl von DDR-Bauarbeitern in Berufskleidung, die plötzlich überall auftauchten. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen.
In diesem Zusammenhang erscheint auch folgendes in Westberlin dokumentierte Ereignis interessant. Etwa zur gleichen Zeit, als die Panzer Nr. 93 und 94 nahe dem Haus der Ministerien oder Potsdamer Platz mit Steinen beworfen wurden, meldete der Stumm-Polizeifunk auf Frequenz „Ida": „Einzelne Gruppen nach Schießerei in der Leipziger/Ecke Mauerstraße fluten in den Westsektor zurück."
Wenig später besuchten der Kreuzberger Bezirksbürgermeister Willi Kreßmann und der dortige Bezirksverordnetenvorsteher Günther Schuck eine Ansammlung von „etwa 5.000 Ostberliner Bauarbeitern" auf dem Oranienplatz, obwohl es in ganz Ostberlin kaum 3.000 gab.
Die „armen Kerle" wurden dort zumeist auf Kosten des Berliner Senats versorgt, dem diese Aktion immerhin 50.000 DM wert war. Aber auch die Arbeiterwohlfahrt, das Rote Kreuz und der paritätische Wohlfahrtsverband waren pünktlich mit Gulaschkanonen, Brotkisten und Coca Cola zur Stelle. Aus Senatsreserven wurden Decken, Hosen, Jacken, Hemden und Schuhe verteilt.
Tatsächlich unterhielt sich dann Bezirksverordnetenvorsteher Schuck auch mit dem einen oder anderen Ostberliner und erinnerte sich sogar später noch an deren Aussage, daß sie sich nicht gegen die Regierung der DDR, sondern allein gegen die schlechte soziale Lage erhoben hatten.
Er glaubte damals wie nach Jahren, daß „wenn der Generalstreik so verlaufen wäre, wie er vorgesehen war, der nächste Krieg fällig gewesen wäre." Worin ihm beispielsweise die im Herbst 1953 nach Westberlin geflüchteten Heinz Homuth und Günter Sandow absolut recht geben - die wie die meisten der Ostberliner Bauarbeiter am 17. Juni nicht am Oranienplatz waren.
Etwa zu gleicher Zeit stürmten etwa 800 meist junge Menschen, aus Westberlin kommend, das Walter Ulbricht-Stadion, jagten die nur mit Knüppeln bewaffneten zehn oder zwölf Volkspolizisten unter die Ränge und zerschlugen die Einrichtung.
Inzwischen war es 12.25 Uhr. Paule und ich waren im Studio. Seit 11 Uhr hatten wir alle RFT-Säulen und Lautsprecher am Netz und sendeten die vom Rundfunk übernommene belanglose Musik auf die Baustellen.
Seit kurzem machte Berlin I mehrmals auf eine zu erwartende wichtige Mitteilung aufmerksam. Dann war es soweit. Ich glaube, es war der Schauspieler Horst Preusker, der im Funkhaus vor dem Mikrofon saß und mit voller, energischer Stimme folgenden Befehl des Militärkommandanten des sowjetischen Sektors von Berlin über die Erklärung des Ausnahmezustandes für Berlin verlas:
1.
„Für die Herbeiführung einer festen öffentlichen Ordnung im
sowjetischen Sektor von Berlin wird befohlen: Ab 13 Uhr des 17. Juni 1953 wird
im sowjetischen Sektor von Berlin der Ausnahmezustand verhängt.
2.
Alle Demonstrationen, Versammlungen, Kundgebungen und sonstige
Menschenansammlungen über drei Personen werden auf Straßen und Plätzen wie
auch in öffentlichen Gebäuden verboten.
3.
Jeglicher Verkehr von Fußgängern und der Verkehr von Kraftfahrzeugen
und Fahrzeugen wird von 9 Uhr abends bis 5 Uhr morgens verboten.
4.
Diejenigen, die gegen diesen Befehl verstoßen, werden nach dem
Kriegsgesetz bestraft.
Militärkommandant
des sowjetischen Sektors von Berlin
Generalmajor
Dibrowa
Berlin, den 17. Juni 1953
Paule und ich sahen uns an. Sprachlos waren wir nicht.
„Das war's denn wohl", meinte er und zündete sich eine Zigarette an.
Seit geraumer Zeit hatten am Areal vor dem Stalindenkmal vierhundert oder fünfhundert Menschen gewartet, die „wichtige Mitteilung" aus den an der Ecke Andreasstraße und Ecke Koppenstraße stehendem RFT-Säulen zu hören.
Nun sah ich in deren Gesichter, und auch Paule verfolgte die Wirkung der Meldung. Die nach Preuskers Auftritt im Radio einsetzende knallige Marschmusik drehten wir ab. Sie paßte weder zu den Pfui-Rufen und Pfiffen, noch zum Beifallsklatschen und dem sichtbaren Aufatmen der Menschen. Ich war mir sicher und bin es heute mehr denn je: die übergroße Mehrheit der durch die Allee nach Hause strebenden Tausende und Abertausende war mehr als zufrieden mit diesem Befehl. Dankbar - und vielleicht sogar glücklich.
Ich weiß nicht, wie lange ich an der Straße stand - unweit der Stelle, wo Karl niedergestochen worden war. Ich hielt nach Bekannten Ausschau und blickte in fremde Gesichter.
Die Fahrbahn Ost bevölkerten immer noch Zurückziehende, aber auch die Gegenfahrbahn wurde nun in gleicher Richtung genutzt. Auf den Gehwegen führten Frauen Hunde aus, rollerten Kinder, standen und spazierten Neugierige und Skeptiker.
In kleinen Gruppen plauschten Anwohner miteinander - auch wenn dabei mehr als drei zusammenkamen. Zögernd öffneten hier und da Geschäfte und Gaststätten. Im Cafe „Warschau" war man sich wohl noch nicht recht sicher, während das Restaurant „Budapest" bereits sperrangelweit offenstand - mit einigen mißtrauisch blickenden Kellnern davor. Denn natürlich tobten noch ab und an Trupps Schimpfender vorbei - gestört von den „Sowjets" in ihrem Bedürfnis, nach eigenem Gutdünken rechnen und abrechnen zu können.
Aber allmählich kehrte Ruhe ein. An der Eisdiele Block E-Nord hing ein Täfelchen „Heute ab 18 Uhr geöffnet".
Plötzlich tauchten Frieda und Max Fettling vor mir auf, die als einzige in Richtung Alex zu gehen schienen. In Wirklichkeit waren sie aber nur auf dem Weg nach Hause in die Andreasstraße 57.
Frieda Fettling sah verstört aus, und der BGL-Vorsitzende von der Baustelle Bettenhaus Krankenhaus Friedrichshain blickte finster. Offenbar hätte er mich am liebsten ignoriert. Aber dann blieb er stehen - müde und niedergeschlagen. Seine Frau ging ein paar Schritte weiter und blickte wartend zurück. Wahrscheinlich erkannte sie mich nicht und wollte nur noch nach Hause.
„Komme gleich", sagte Fettling in ihre Richtung. Dann sah er mich eindringlich an, und in seinen Augen war ein Flackern. „Meinst du, Grotewohl antwortet noch?"
Ich hatte mit vielem gerechnet, nur damit nicht.
„Weeste ooch nich, wa?" Für einen Moment lächelte er schwach. Aber zugleich legte er mir die Hand auf die Schulter und sagte ernst: „Und doch haben wir gesiegt. Gestern. Heute waren wir machtlos ... und noch einmal machtlos."
Ich sah ihm nach, bis er mit seiner Frau in die Andreasstraße einbog, und sein Bild prägte sich mir für immer ein - samt dem stets locker hängenden Jackett und der legeren dunkelgrauen Hose. Für 500 Mark brutto hatte er seinen Mann stehen müssen, ohne das notwendige Rüstzeug zu besitzen. Gewählt von dreihundertfünfundsechzig Gewerkschaftern, denen selbst jede Erfahrung fehlte und die sein ungefestigtes Rückgrat eher geschwächt und benützt hatten, anstatt ihn zu stärken und zu unterstützen. Das galt besonders für die Mitglieder der vierzehnköpfigen Betriebsgewerkschaftsleitung. Mit Ausnahme des 2. Vorsitzenden, des Tempelhofers Georg Brosda, dessen Ansehen bei den Bauarbeitern sowohl auf seine unbestrittene Kollegialität als auch auf diverse Mitbringsel wie Westzeitungen, -Illustrierte, -Kaffee, -Bols und anderes zurückging. Er war aber kein gewerkschaftlicher Dilettant und hätte ihnen Wichtigeres vermitteln können.
Seinen persönlichen Anteil an den auf der Baustelle Bettenhaus ausgelösten und danach auf die gesamte Allee sowie die DDR überspringenden Unruhen kannte Brosda und hielt ihn für legitim. Sicher deshalb, weil er Westberliner war und es diese DDR nach der dort geltenden Sprachregelung nicht gab.
Er gehörte zu jenen Nichtlegitimierten, die zur Einflußnahme auf die Ostberliner und DDR-Verhältnisse kein Recht hatten und es sich trotzdem mit größter Selbstverständlichkeit und bestem Gewissen nahmen. Folgerichtig befand er sich unter jenen, die um 13.23 Uhr laut Frequenz„Ida" nach Westberlin zurückkehrten, als die T-34 das Sagen hatten. Danach beobachtete er aus seiner Wohnung in der Kurfürstenstraße die weitere Entwicklung, während seine Ostberliner Kollegen die Suppe auszulöffeln hatten.
Möglicherweise besaß an diesem Tag nur ein einziger hoher DDR-Regierungsvertreter den Mut, sich in dem chaotischen Berlin umzusehen; oder er wollte sein Mütchen kühlen: der Stellvertretende Ministerpräsident und CDU-Vorsitzende Otto Nuschke.
Bekannt wurde, daß er zu 15 Uhr nach Schöneweide zu einem Gespräch gebeten worden war. Telefonisch. Aber vielleicht nahm er das auch nur als Vorwand. Nuschke setzte sich also am frühen Nachmittag in ein unauffälliges CDU-Dienstfahrzeug vom Typ IFA F 9 und ließ sich von den Kraftfahrern Heinz Fluhr und Walter Michael durch die Stadt fahren. Stalinallee, Warschauer Straße ... Vor der Oberbaumbrücke bog der ärmliche PKW in die Stralauer Allee ein. Etwa einhundert Mann, die nach Westberlin wollten, entdeckten den „bebrillten dicken Bonzen" und stoppten ihn mit Hallo. Einer griff durch die Scheibe ins Lenkrad, andere schoben, und der Wagen rollte mit Radau hinüber nach Westberlin. Stummpolizei übernahm die komplette Beute und brachte sie zum Revier 109.
Fluhr floh zurück nach Ostberlin, meldete im nächsten VP-Revier Nuschkes Entführung sowie den Autodiebstahl und berichtete auch Generalsekretär Götting den Vorfall. Der informierte sofort Grotewohl.
Dieweil die Grotewohlregierung protestierte, bemühten sich die amerikanischen Behörden vergebens, den CDU-Chef zum Überlaufen zu bewegen. Nuschke trat vor Militärs und Reportern auf, als habe er eine solche Begegnung gesucht.
Die Büros im Haus der Ministerien schlössen pünktlich um halb fünf, und die Mitarbeiter verließen das riesige Gebäude ebenso vollzählig, wie sie am Morgen angekommen waren.
Als Inge Dey aus dem Haupttor trat, staunte sie über die davor parkenden Panzer. Ein Stück weiter standen eine Kanone mit langem Rohr und ein LKW. Geschäftsinhaber Schüler und die HO-Angestellten hatten die Scheiben ihrer geplünderten Läden notdürftig mit Pappe und Sperrholz vernagelt. Inge Dey mußte zu Fuß nach Weißensee laufen, denn die Linie 74 fuhr seit etwa 9 Uhr nicht mehr.
Am Spittelmarkt sah sie ebenfalls Panzer, ebenso am Alex, viele zertrümmerte Läden und Kioske und hier und da Feuer. Alles konnte sie nicht sehen, aber eigentlich brannte es überall oder hatte tagsüber gebrannt: nahe dem Haus der Ministerien zwei Lebensmittelkioske, ein Stück weiter Richtung Leipziger Straße ein Zeitungskiosk, das „Columbus-Haus" am Potsdamer Platz, die VP-Baracke in der Friedrich-/Ecke Mauerstraße, ein Geschäft in der Schützenstraße, der Pavillon in der Zimmerstraße, eine Baracke in der Friedrich-/Ecke Zimmerstraße, ein PKW Ecke Stresemanstraße, unter den Linden der PKW GB-004 119, Ecke Rathausstraße der PKW GB-009 783, am „Kaufhaus Wertheim" ein Kiosk, an der Oberbaumbrücke ein Kontrollhäuschen der VP, das Amt für Warenkontrolle gegenüber der Köpenicker Straße 39, ein PKW an der Rathausstraße 19, im zweiten Hinterhof der Chausseestraße 123 ein Lager für Bühnendekoration, vor der Rathausstraße 49 zwei Motorräder, vor der Liebknechtstraße 14 ein PKW, vor der Leninallee 21 ein PKW, in der Neuen Grünstraße eine Garage der VP, in der Kopenhagener Straße 76 das Amt für Warenkontrolle, in der Stralauer Allee die Barackenhäuser 1-16, am Antonplatz ein Funkwagen der VP, an der Schillingbrücke ein VP-Häuschen, in der Chausseestraße eine Zollbaracke, vor der Stalinallee 6 ein PKW, das „Haus Vaterland" brannte bis auf die Grundmauern nieder.
Und immer noch züngelten trotz des Ausnahmezustandes hier und da neue Flammen aus Gebäuden und Geschäften. i
Wohl gerade deshalb gab die KgU keine Ruhe. Tillich oder Hildebrandt riefen um 21.45 Uhr das Polizeirevier 27 an und ließen den Polizeimeister Koste wissen: „Von 22.30 Uhr bis 0.30 Uhr Ballonaktion von der Lehrter Straße aus." Der Wind stand günstig, und Zehntausende Blätter segelten über Ostberlin herab.
Am 18. Juni 1953,6.57 Uhr sendeten wir über alle Säulen und Lautsprecher unsere Erkennungsmelodie in die Allee und auf die Baustellen.
„Hier meldet sich das Funkstudio des Nationalen Aufbauwerkes. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Heute ist Donnerstag, der 18. Juni 1953. Wir beginnen unser Programm mit flotten Muntermachern." Paul schickte heitere Volksmusik vom laufenden Band hinaus. Ich hängte das Aufnahmegerät um und schwang mich wieder mal auf sein Fahrrad. Diesmal, um die ersten Stimmen für meine Sendung einzuholen.
Gespannt schob ich die Baustraße Weidenweg entlang. Auf den Häusern 1 bis 6 sah ich nur hier und da Gesichter über den Mauerrand blicken. Am Haus 7 hing das halbierte blaue Transparent mit dem Rest der Losung zu Ehren des 60. Geburtstags von Walter Ulbricht, etwa dies: „ ... kämpfen für den Frieden." Die andere Hälfte lag sicher irgendwo im Polizeipräsidium, auf der Rückseite beschriftet mit „Wir fordern 40 % Normsenkung". Der das geschrieben hatte, duckte sich nicht vor Brigadier Meißner. „War doch nur Jux mit den 40 %, Stanike hat recht."
Bei den Lehrlingen fehlten elf. Ausbilder und Aktivleiter hielten dies aber für unbedenklich. Sie wurden bestimmt noch im Laufe des Vormittags eintreffen, wenn U- und S-Bahn wieder normal verkehrten. Das sollte sich danach im wesentlichen bestätigen
Auch Lehrausbilder Lehmann, einflußreicher Leithammel der Lehrlingsdemonstration vom Vortag, war bereits wieder aktiv, warb unter den Jungen und Mädchen - der ganze Knatsch sei vorbei; sie hatten mal was anderes erlebt und Erfahrung gesammelt; nun sollten sie wieder das Lehrprogramm durchziehen, um gute Facharbeiter und Staatsbürger zu werden.
Mancher feixte zwar hinterrücks über Lehmann, doch dann ging jeder an die Arbeit, und keiner blieb unten. Viel kam an diesem Tag allerdings nicht zustande, denn man hatte allerhand Gesprächsstoff.
Die Truppe Hein Görlichs mauerte bereits am Haus Auerstraße 1. Bevor die Maurer ihre Kelle in die Hand nahmen, machten sie eine Kurzversammlung und schlossen den Hucker Hanne Himmel aus der Brigade aus. So hatten sie es jedem angekündigt, der am 16. oder 17. Juni auf die Straße gehen wurde.
Weshalb ausgerechnet die schlechteste Maurerbrigade der Allee derart verfuhr, habe ich trotz meiner späteren engen Freundschaft mit Hein und seinen Männern nie recht verstanden.
Und noch etwas Merkwürdiges ereignete sich am frühen Morgen des 18. Juni in dieser Brigade: Maurer Otto Hämmerling, der „stumme Philosoph", meldete sich zu Wort: „Habt ihr was dagegen? Ich werde in die Partei eintreten." Niemand hatte etwas dagegen. Denn jeder wußte, daß Otto seit Jahren Marx las, auch Kautsky und Bucharin, und Trotzki und Lenin. Sein Entschluß schien logisch. Trotz oder wegen der Ereignisse vom Vortag. Das zu begreifen, fiel auch mir nicht schwer.
Ich glaube, es war der Maurer Wagner, der dazu witzelte: „Mir scheißegal, wo du rein trittst." Lacher fand er diesmal nicht.
Wochen später sollten weitere Wunder an Brigade und Brigadier sichtbar werden, deren Wurzeln fraglos in diesen Juni 1953 zurückreichten. Da war wohl so eine Art „Knoten gerissen". Denn die Görlichs mauserten sich von Tag zu Tag und zahlten nach wenigen Monaten zu den Besten der Stalinallee. Im Jahr 1954 nahm Hein Görlich sogar - gemeinsam mit weiteren Bauschaffenden - den Nationalpreis der DDR für enorme Einsparungen am Block F-Nord in Empfang.
Auch die Brigaden Streich, Krüger, Stiebert und Gruhl begannen kurz nach halb acht zu arbeiten. Gegen acht Uhr liefen die zwölf BGL-Mitglieder herum und trommelten zur Baustellenversammlung auf Block 40.
Fast alle kamen und waren auf Angriffe oder Belehrungen von höherer Stelle gefaßt. Aber von außerhalb ließ sich niemand sehen. Gutzeit, Pfeng und Fischer blieben die „Höchsten" im Terrain. Und die unterließen sowohl Kritik wie Schadenfreude, Belehrung oder Schimpfe. Was ohnehin nicht ihre Art war.
Gegen 8 Uhr pferchten sich etwa 450
Bauarbeiter, Kaffee- und Budenfrauen, Sekretärinnen und Lohnrechnerinnen in den
Speisesaal von Block 40. Nach Bert Stanike schaute ich umsonst aus. Angeblich
hatte er angerufen und um einen freien Tag gebeten, weil seine Mutter laut
Auflage der Feuerwehr sofort ihren Boden leerräumen müsse und das nicht allein
schaffe. Ich nahm an, daß es sich dabei um eine Ausrede handelte, weil er sich
blamiert fühlte.
Wettbewerbssieger vor der Deutschen Sporthalle in der Stalinallee
(der heutigen Karl-Marx-Allee), Berlin. Rechts im Bild Brigadier Hein Görlich
Inzwischen kannte ich den Grund für die Abwesenheit der „übergeordneten Leitungen". Otto Pfeng, Parteisekretär Gutzeit und BGL-Vorsitzender Fischer hatten sie über diese interne Baustellenversammlung nicht informiert. Nicht einmal Betriebsleiter Sprafke wußte davon. Er lag aber sowieso mit erheblichen Herzattacken zu Hause im Bett.
Als der Oberbauleiter sprach, hatte ich selbst das Fallen einer Stecknadel aufnehmen können. Nach meiner Erinnerung sagte er etwa dies: „Wir sind unter uns. Wem gefällt das nicht? ... Also: wir machen weiter - da, wo wir aufgehört haben, als wir meinten, aufhören zu müssen. Natürlich werden die Löhne nachgezahlt. Und zwar genau die Beträge, um die ihr betrogen worden seid. Wer das nicht glaubt, hat den Regierungsbeschluß nicht richtig gelesen. Was anderes kommt nicht in die Tüte. Einheizen werden wir den Sesselfurzern, bis sie die Technisierung und Materialbeschaffung im Griff haben. - Ob wir vorgestern und gestern was falsch und was richtig gemacht haben? Ich denke mir: der Brief an den Ministerpräsidenten ist angekommen - das haben wir richtig gemacht. Die Panzer hatten nicht kommen brauchen - das haben wir falsch gemacht. Falsch machen lassen. Von wem, das kann sich jeder selbst abfingern. Im November muß hier Richtfest sein, da beißt die Maus keinen Faden ab. - In diesem Sinne ..." Pfeng hob lässig die rechte Hand und wandte sich dem Ausgang zu.
Es waren die Buden- und Kaffeefrauen, die ihre Sprache zuerst wiederfanden. Eine nahm die Selbstgedrehte aus dem Mund, sagte: „Gut, Otto", tat sie wieder zwischen die Lippen und klatschte ihre welken Hände aneinander. Die Mehrheit, die reine, große Mehrheit fiel ein.
Aber als der Oberbauleiter bereits die Klinke der Barackentür in der Hand hatte, rief Richard Gruhl: „Einen Moment!"
Das Klatschen brach abrupt ab, und die Frau mit der Selbstgedrehten knurrte: „Watt will'n der?" Jeder wußte, daß Brigadier Gruhl - rühmlich oder schmählich - die Streiktrommel gerührt hatte und vorneweg marschiert war - zur Freude der einen und zum Unwillen der anderen.
„Wir haben Versammlung gemacht", sagte Gruhl laut und vernehmlich, „und uns geeinigt, den gestrigen Tag nachzuarbeiten. Obwohl wir drei Tage Planvorsprung haben. Das geben wir schriftlich ab. Was gestern in Berlin gewesen ist, davon distanzieren wir uns. Vorgestern, das geht in Ordnung. Aber gestern ... nee!"
Stille. Dann beifälliges Gemurmel. Klatschen. Hinter mir zischte Hein Görlich: „Scheißer!" Sicher wollte er noch mehr sagen, und vielleicht sogar recht laut.
Oberingenieur Otto Pfeng im Jahre 1971
Er bekam mehr Beifall als Gruhl.
Spontan stieg Brigadier Hartmann auf seinen Stuhl. „Auch bei uns alles klar!"
Kaum war er abgestiegen, röhrte Brigadier Streich mit Bärenstimme: „Bei uns auch! Und das ist kein Lippenbekenntnis. Verdammt ernst meinen wir es." Dabei warf er einen Blick zu Gruhl hinüber.
„Auch bei uns", fistelte es nahe dem Konsumausschank. Unverkennbar Brigadier Krügers Stimme.
Der Maurerbrigadier Arnold Neitzel tippte nur an seine Brust und nickte Krüger zu. Also auch seine Brigade. Und auch die Brigade Stiebert, obwohl sie sich nicht extra meldete.
Otto Pfeng schaute in die Runde, nickte lächelnd hierhin und dorthin und verließ die Speisebaracke.
Mit Hallo, Reden, Schweigen, Skepsis, Plaudern und Lachen ging die Belegschaft auseinander: die Gerüste hinauf, zu den Bauhexen, in die Handwerksbuden, ins Magazin, zu den LKW, in die Büros, zu den Betonmischern. Gegen 13 Uhr arbeiteten bereits vierundzwanzig Brigaden. Zu den herumsitzenden, puttelnden und unvollständigen Kollektiven gehörten auch die Männer des Maurerbrigadiers Brüggemann. Er war nicht zur Arbeit erschienen, und ohne seine Anweisung wollten die elf Männer nichts tun.
Dagegen ging es auf der Baustelle Krankenhaus Friedrichshain nicht so optimistisch zu, und es fand auch keine Versammlung statt.
Bis 9 Uhr war von den 400 Beschäftigten wenig mehr als die Hälfte erschienen. Genau die Hälfte der Brigaden arbeitete, aber keine war vollzählig. Die Brigaden Foth, Lembke, Bluhm, Zechmann und Rust saßen in ihren Buden und rührten keinen Finger, zumal Foth, Lembke und Rust nicht erschienen waren. Auch Bauleiter Roepke fehlte noch.
Viele Bauarbeiter waren enttäuscht vom Ausgang der Erhebung, ohne daß sie die Verwüstungen und Brandschatzungen billigten. Einige verurteilten diese nicht zuletzt deshalb, weil sie das Eingreifen der Besatzungsmacht zu rechtfertigen schienen.
Einig war man sich aber nicht darüber. Denn manche Bauarbeiter waren recht froh, daß sie ihre Rolle als „Vorreiter der Freiheit" nicht weiterspielen mußten - besonders in den Brigaden Bluhm und Rust. Allerdings war Rust, wie sich später herausstellte, zu diesem Zeitpunkt bereits „werdender BRD-Bürger".
Die BGL saß in Fettlings Gewerkschaftsbude. Ohne Georg Brosda, von dem für jeden feststand, daß er sich nie wieder auf der Baustelle sehen lassen würde. Offenbar begann der Druck nachzulassen, den jeder gespürt hatte
Trotzdem soll, wie ich später hörte, eigentlich nur Max Fettling gesprochen haben, und etwa so: „Wir hätten am 15. klare Positionen beziehen müssen, anstatt nur Grotewohl zu schreiben. Hätten einen Beschluß fassen müssen: Streik oder nicht. Stattdessen haben wir uns auf die Demonstration beschränkt. Alle, Kollegen, wir alle. - Wir sind gedrängt worden und haben uns drängen lassen, da gibt es keine Abstriche. Morgen oder übermorgen sollten wir eine BGL-Sitzung machen, die Lage analysieren -aber ohne uns zu zerfleischen - und darüber Gedanken machen, wie es weitergehen soll. Einen Nachfolger für Georg brauchen wir auch. Ich denke an Karl Foth."
Kaum vorstellbar, daß die übrigen so wortkarg waren. Als Gewerkschaftsleitung hatten sie sicher versagt, von welcher Seite man das auch sah. Sicher belastete sie das. Und ebenso sicher hatte Frieda Fettling ihnen an diesem verdrießlichen Morgen Georg Brosdas letzten Westkaffee aufgebrüht.
Wieder ganz anders war die Situation auf den G-Blöcken. Auf G-Süd fehlen zwanzig oder dreißig Mann - vorwiegend in den Randgebieten Wohnende, die vielleicht noch eintreffen würden. Also saßen in der Speisebaracke rund 270 Bauarbeiter, Buden- und Bürofrauen. Die fackelten nicht lange, wurde mir erzählt, redeten weder über ihr insgesamt triumphales Verhalten am Dienstag noch über die katastrophalen Ereignisse vom Mittwoch.
Während Bauleiter Pröhl erklärte, es bleibe - wie vorgestern bekanntgegeben - bei den alten Normen und Nachzahlung der bereits abgezogenen 10 % Löhnung, beschrieben zwei Maurer ein rotes Tuch: „Unsere Regierung hat unsere Forderung erfüllt: Wir arbeiten!" Ein bißchen gemogelt war das, denn G-Süd hatte Zurücknahme der Anordnung gewünscht, nicht gefordert.
Obwohl es viele für überflüssig hielten, ließ Alfred Pröhl abstimmen. Ohne Gegenstimmen wurde beschlossen: Wir arbeiten. Inzwischen waren Adolf Werner und Horst Pöcking aber schon ihre Turmdrehkrane hinaufgestiegen. Unten hängten die Transporter übereinandergestapelte Paletten an. Die Krane hievten sie hoch und fuhren sie hin und her. Für die anderen Baustellen sah das aus, als würde G-Süd bereits arbeiten.
Die Brigadiere Fiedler, Schröder, Vorwerk und Hartmann nahmen das auf G-Nord wahr und riefen ihre Brigaden heraus. Und noch ehe G-Süd tatsächlich ins Laufen kam, gingen die Männer von G-Nord mehrheitlich auf ihren Bau - 190 von 300. Das vorbereitete Transparent brachten Parteisekretär Merten und BGL-Vorsitzender Lindau wie ein Spiegelbild gegenüber dem von G-Süd an. „Unsere Regierung hat unsere Forderung erfüllt: Wir arbeiten!"
Die Brigaden Dilcher, Klüsener und andere ignorierten das allerdings. Sie wollten nicht so einfach nachgeben. Auch Hucker Georg Heinersdorf von der Maurerbrigade Hartmann zierte sich etwas. Von Anfang an war er Wortführer der Brigade gewesen - ohne sie allerdings recht mitreißen zu können - hatte sich am Dienstag ostentativ in die Demonstration eingereiht und war auch am Mittwoch unterwegs gewesen. Hartmann soll ihn aus der Bude geholt haben, erinnert sich Paul Merten. „Komm, Mensch, wir brauchen Steine. Los doch. Mann, wir haben alle Fehler gemacht."
Transportbrigadier König mit sieben
seiner Kollegen und sieben aus anderen Kollektiven setzten sich in die
Kulturbaracke zu Dilchers und Klüseners unvollständigen Brigaden. Als zwei mit
Schutt beladene LKW der Brigade Fiedler die Baustelle verlassen wollten, stürmten
die Königs hinaus und stoppten sie. Es gab Geschrei und Schubserei. Da
erschienen der lange Parteisekretär Merten und dessen Stellvertreter
Schuffenhauer. Ihre Drohung, den Staatssicherheitsdienst anzufordern, wirkte wie
eine kalte Dusche. Wütend ließ man die LKW passieren.
Die Transportbrigade Fiedler von G-Nord nahm als eine der ersten die Arbeit wieder auf - Foto vom 19. Juni 1953
Foto:ADN-ZB/Sturm, Quelle Bundesarchiv 183/20036/5
Auch die Bauarbeiter Erich Klüsener, Georg Heinersdorf und Siegfried Dilcher vom Block G-Nord betrachten ihre Forderungen als erfüllt - Foto vom 19. Juni 1953
Von den übrigen Brennpunkten der Allee notierte ich weniger.
Die Lehrlinge von der Baustelle Kinderwochenheim „Hildegard Jadamowitz" wurden von ihrem Jule Punkt 7 Uhr zu diesem sonnigen Tag beglückwünscht und hatten ihre Mauern schon um einige Kubikmeter erhöht, als woanders noch geredet und gar nichts gemacht, gebummelt und geschimpft, durchgeatmet und Anlauf genommen wurde.
Von Oberpolier Willi Hopke erfuhr ich, daß die Baustelle Schule Rüdersdorfer Straße seit 9.30 Uhr hundertprozentig arbeitete.
Ebenso die Restbesetzung C-Süd - mit einer Ausnahme: Horst Schlafke, ehemaliger SS-Mann und Generalstreiks-Agitator.
Das Schwerbetonwerk Strausberger Platz lief bereits 7 Uhr voll an.
Auch die Stahlbauer von Niesky hatten am Hochhaus Nord nicht eine Minute verloren.
Lebhaft ging es auf der Baustelle Fernheizwerk Küstriner Platz zu - wieder unter Mitwirkung des Brigadiers Alfred Berlin. Der Betonbauer bestand energisch darauf, daß es den Bauarbeitern der Stalinallee zu keiner Minute um den Sturz der DDR-Regierung, sondern nur um die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse gegangen war.
Davon rückte der zweifache Aktivist und Leiter einer „Brigade der ausgezeichneten Qualität" aus Rüdersdorf auch nicht ab, als er Jahrzehnte später vom Bundeskanzler in „Anerkennung der um Volk und Staat erworbenen besonderes Verdienste" ... das „Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland" verliehen bekam.
Wenn Alfred Berlin in der Stalinallee weiter so rangeklotzt hatte, wäre ihm wahrscheinlich von Walter Ulbricht der „Vaterländische Verdienstorden der DDR" überreicht worden. Aber als die Staatssicherheit ans Verhaften ging, hielt es Alfred Berlin für ratsam, die DDR zu verlassen. Wie viele andere wurde er zunächst zwischen drei westlichen Geheimdiensten und bis zum Innensenat durchgereicht, fand dann aber Arbeit als Kolonnenführer in einem Westberliner Baubetrieb.
Auch Gunter Döhring - ein weiterer Träger des „Verdienstkreuzes am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland" bleibt bei seinem Standpunkt. Den 16. Juni hatte der damals Achtzehnjährige auf seiner Baustelle in der Treptower Krüllstraße als Tag des Protestes erlebt.
Am 17. Juni waren er und andere mit der S-Bahn zur Warschauer Straße gefahren, um gegen halb elf am Generalstreik auf dem Strausberger Platz teilzunehmen. Nach den anschließenden Erlebnissen stand für ihn fest: „Unser Protest gegen die Normenerhöhung ist vom Westen, von Tausenden aus dem Westen Gekommener, übernommen worden. Das war kein Arbeiterprotest mehr, schon gar nicht Arbeiteraufstand."
Und das, obwohl er am 17. Juni im VP-Präsidium eingesperrt und verprügelt worden sei, worüber es aber - wie bei vielen anderen - keine Unterlagen gibt. Und den Entlassungsschein habe er „verlegt". Andere auch.
Außer einer mehrheitlichen Wiederaufnahme der Arbeit auf den Baustellen ereignete sich an diesem Donnerstag in der Stalinallee noch etwas Bemerkenswertes, und zwar am vielgenannten Strausberger Platz.
Am Vortag - etwa eine Stunde nach Verhängung des Ausnahmezustandes - hatte Professor Hermann Henselmann einen Anruf bekommen. Geradeheraus fragte der Maurerbrigadier Gerhard Fuchs, ob seine Brigade mal eben zu ihm kommen könnte „... es geht darum, was in Berlin los ist. Wir kommen damit nicht zurecht und wollen aus berufenem Munde wissen, was los ist."
„Wieviel seid ihr denn?" erkundigte sich Henselmann.
„Wenn alle mitkommen ... sechsundzwanzig und eine Budenfrau. Ich meine, eine Zimmererbrigade will auch gern dabei sein. Bißken ville, wa?"
„Nö, geht grade noch", scherzte Henselmann. Er rief den Dichter Bert Brecht und den Bildhauer Fritz Cremer an und lud sie zu dem mit dem Brigadier vereinbarten Termin ein.
Die Siebenundzwanzig vom Block B-Nord hatten gegen 8 Uhr in dem bereits zum Teil bewohnten Haus die Arbeit wieder aufgenommen. Noch bevor Bauleiter Förster und Oberpolier Steinbach auf ihrem Rundgang bei ihnen vorbeikamen, war der einbeinige U-Bahner Werner Schulz aufgetaucht. Das Gespräch zwischen den Maurern und ihm drehte sich natürlich um den Vortag. Die Brigade hatte auffallend wenig Zeit und „keine Ohren", mit Werner Schulz nach Feierabend am Kiosk ein Bierchen zu trinken. Sie hätten einundeinhalb Tage aufzuholen, redete man den plötzlich unangenehmen U-Bahner fort, um seinen Fragen aus dem Weg zu gehen.
„Habt ihr denn was erreicht?" fragte Schulz unerbittlich.
Von den sechzehn Brigadisten seien am 17. nur drei marschiert, wollte Fuchs ihm weismachen, leider auch er, ja.
„Wer's glaubt, wird selig", zweifelte Schulz und hinkte „bis'n andermal" vom Bau. Schwamm drüber, vorbei und vergessen ...
Da bei den Henselmanns größere Zusammenkünfte im Familien- und Freundeskreis seit jeher üblich waren, verlor die achtunddreißigjährige Irene, Hermann Henselmanns flotte „Isi", angesichts der großen Gästeschar keineswegs die Ruhe. Sie wartete einfach, bis alle Platz genommen hatten und fragte dann ab, was jeder trinken wollte. Es war sogar leichter als sie gedacht hatte, denn alle bevorzugten ein „Bierchen" - ausgenommen Bert Brecht und Fritz Cremer. Die nahmen einen lieblichen Wein.
Manchem Bauarbeiter gefiel nicht, daß sich Brecht vermeintlich extra für diese Zusammenkunft so einfach, so lumpenproletarisch angezogen hatte. Als wolle er damit demonstrieren, daß er zu ihnen gehöre. Das sagten sie ihm aber nicht. Niemand von ihnen hatte Brecht vorher gesehen, aber man kannte wenigstens seinen Namen. Von dem Bildhauer Cremer nicht einmal dies.
Professor Henselmann änderte das, in dem er beide ziemlich ausführlich vorstellte. Offenbar waren die Künstler vor allem zum Hören gekommen und wollten sich nicht in das Gespräch der Bauleute einmischen.
Henselmann erzählte den Bauarbeitern also zunächst, was er am Vortag von seinem Fenster ausgesehen hatte. Zum Beispiel, wie Bauarbeiter „drüben, am Block A-Süd, an meinem Projekt, drei große Schaufenster mit Ziegeln eingeschlagen und das von Stellmachern eben erst eingerichtete Mobiliar zertrümmert haben." Außerdem sei ihm zu Ohren gekommen, daß in der Stalinallee 27, nur ein paar Häuser weiter von hier, ein Kriminalist krankenhausreif geprügelt worden sei, vielleicht sogar friedhofsreif. Auch von Bauarbeitern?
Die Maurer-Füchse wehrten sich. Kein Bauarbeiter würde auch nur einen Stein gegen Häuser heben, schon gar nicht einer von der Stalinallee, wollten sie feststellen.
„Und kein Zimmermann reißt auch nur eine Krampe raus, das woll'n wir auch mal festhalten", setzte einer von der Brigade Fischer drauf. „Aber genug Strolche in Maurerklamotten und Kordsachen liefen gestern rum. Die hatten doch alle freie Fahrt, weil die ganze VP fürn Arsch ist."
„Ich bin total eurer Meinung", sagte Henselmann, während Brecht schweigend nickte. Brecht sei gestern mit Erwin Strittmatter, erläuterte Henselmann den Bauarbeitern, vom Berliner Ensemble aus durch die Friedrichstraße und Unter den Linden zum Brandenburger Tor gegangen, um sich alles anzusehen. Auch schon am 16. Juni habe er das getan. Und innerhalb dieser zwei Tage seien deutliche Verwandlungen vor sich gegangen...
Da die Brigademitglieder nachdenklich schwiegen - vielleicht hatten sie gegenüber den berühmten Namen ja doch ein paar Hemmungen - kam Henselmann wieder auf seine eigenen Erfahrungen: „Gestern habe ich beispielsweise gesehen, wie eine Kolonne - ganz in Maurerweiß und Zimmermannsschwarz, neue Schiebermützen und breitkrempige Hüte auf - die Stalinallee entlangmarschierte. Ganz vorne eine Krankenschwester und so'n baumlanger Kerl. Und die kamen immer wieder - dreimal, viermal, womöglich auch fünfmal! Wie Statisten im Theater. Masse war also gefragt. Will nur bestätigen, was ihr vorhin gesagt habt."
Nun gerieten die Maurer und Zimmerer doch in Fahrt, ungeordnet und manchmal zu laut in allem Für und Wider. Die einen sprachen hitzig von den Verwüstungen in der Stadt, vom „kleinen Krieg der Strolche" in Berlin, die anderen zornig über die „Feiglinge in Regierung und Partei", die sich nicht den empörten Menschen gestellt hatten.
„Ausgenommen Selbmann!" rief die Budenfrau dazwischen.
Die einen lehnten die Ereignisse des 17. Juni ab, weil am 16. alles geklärt worden sei, die anderen verteidigten sie - „außer den Brandstiftungen und Plünderungen!" „Zusagen allein klären nichts."
Einig waren sie sich scheinbar nur in einem: „Der Spitzbart muß weg!"
„Ihr habt doch eure Macht demonstriert", antwortete Henselmann, „und die Regierung ist zurückgewichen. Na also."
Brecht sah seinen Freund von der Seite an. Er selbst hatte am Vortag einen Brief geschrieben, in dem er seine Verbundenheit mit Ulbricht und der SED bekundete.
Denselben, mit dem Wekwerth unterwegs gewesen war, als die Meute sein Auto stoppte und es um ein Haar abgefackelt hätte.
Auch Professor Fritz Cremer schaute etwas skeptisch.
Der RIAS bezeichne die Vorgänge in der Stalinallee als „Aufstand", sagte ein Zimmermann. Er selbst wisse, was er davon zu halten habe, würde aber gern die Meinung des Kollegen Henselmann kennen.
„Nein," sagte der Professor. „Ein Aufstand war es nicht. Es war ein Streik. Er hat die DDR nicht hinweggefegt. Das war auch nicht die Absicht der Arbeiter, schon gar nicht des Volkes. Es ging und geht um die Verbesserung der DDR, um keinen Jota weiter. Und die DDR ist verbesserungswürdig, verbesserungspflichtig."
Am nächsten Tag - also am Freitag - rief Bert Brecht Henselmann an. Das Gespräch habe ihn beeindruckt.
Der Dichter nahm auch weiterhin großen
Anteil am Aufbau der Stalinallee, und noch heute trägt das „Haus Berlin"
seinen Vers:
„Als wir aber dann beschlossen,
endlich unsrer Kraft zu trauen
und ein schönres Leben aufzubauen,
haben Kampf und Müh uns nicht verdrossen."
Etwa zu der Zeit, als sich Henselmanns Atelier mit den Bauarbeitern des Blocks B-Nord füllte, hastete die Frau Otto Lembkes auf die Baustelle Bettenhaus Krankenhaus Friedrichshain. Eine Kaffeefrau wies ihr den Weg zur BGL-Baracke.
„Otto ist verhaftet!" keuchte sie und schlug weinend die Hände vors Gesicht. Max Fettling nahm sie in die Arme, gab ihr eine Aspirin und einen Schluck Wasser. Setzte sie auf seinen Stuhl. Viel zu erzählen hatte Elisabeth Lembke nicht. Die Männer hatten Ausweise gezeigt, Otto fünfzehn Minuten Zeit zum Packen gelassen und ihm dann Handschellen angelegt.
Inzwischen war Otto Lembke in die U-Haftanstalt eingeliefert worden. Seine Frau hatte Angst, daß man ihm nun auch seine Vergangenheit als Flugzeugführer bei Görings Luftwaffe mit freiwilliger achtzehnjähriger Dienstverpflichtung anlasten werde.
In der Zelle neben Otto Lembke saß bereits Karl Foth ein. Dessen Frau hatte angerufen, um Bauleiter Roepke zu verständigen. Aber Kurt Roepke befand sich ebenfalls bereits in U-Haft. Insgesamt waren dreizehn Bauleute verhaftet worden.
Max Fettling kochte vor Empörung. Es waren ja noch mehr gewesen, die den Brief an Grotewohl und die Demonstration vom Dienstag ausgelöst hatten, aus denen dann alle Ungeheuerlichkeiten des Vortages entwickelt worden waren. Aber was hatten sie alle gegen Recht und Gesetz getan? Gegen die Verfassung? Niemand von allen hatte sich an Ausschreitungen beteiligt.
„Wir haben ja nicht mal richtig gestreikt!" schrie Max Fettling die zwanzig, dreißig in seinem Büro versammelten Kollegen an. „Dabei ist streiken nicht mal verboten! Warum haben wir nicht gestreikt? Keine Streikleitungen gebildet, auf allen Baustellen, die Allee rauf und runter - und zwar schon am 10., als uns die Regierung ihren Beschluß um die Ohren gehauen hat. Nicht erst am 16., als alles vorbei war ... Hätten sie zehn Streikleitungen verhaftet? Hundertsechzig BGL-Mitglieder? Zweitausend Bauarbeiter?"
Keiner widersprach ihm, und keiner pflichtete ihm ausdrücklich bei, hörte ich später von Bauleiter Kunze. Im Vorfeld hatte Max Fettling wohl doch zu viel gezögert, laviert und geredet. Niemand sprach darüber, wie es nun weitergehen könnte - und die restlichen BGL-Mitglieder hielten sich vorsichtig zurück.
Am nächsten Morgen kamen alle mit dem Willen zu arbeiten. Aber dann saßen die meisten in den Buden, standen in Gruppen auf dem Baugelände herum oder hielten sich in der Speisebaracke auf.
Denn wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht von Fettlings Verhaftung über die Baustelle verbreitet. Das verschlug jedem den Atem, empörte, lähmte ...
Erneut flackerten Streikforderungen auf. Doch es fanden sich keine Führer, und die Streikbereitschaft der Masse fehlte. Man arbeite ja nicht, war die vorherrschende Meinung, und das sei so gut wie Streik. Erneut ging man zu unbeholfen, unerfahren und übervorsichtig zu Werke. Denn Betriebsleiter Sprafke, Parteisekretär Rosteck und wohl alle Genossen der Baustelle mißbilligten zwar die Verhaftungen, aber niemand erhob sein Haupt und sagte: ... So nicht, Herrschaften! Lediglich der Technische Direktor Busse verkündete offen: „Diese Regierung ist unfähig. Sie muß abgesetzt werden!" Das half aber den Verhafteten nicht. Und Busse hatte Glück, daß niemand seine Äußerung weitertrug.
Wenig später klang endgültig alles ab. Die Menschen wollten vor allem ihre Ruhe und sich keinen Ärger einhandeln. Bald kehrte Alltagsnormalität ein: arbeiten, Geld verdienen, Wettbewerbsziele erreichen, Stolz auf die eigene Leistung als Miterbauer der Stalinallee. Und das Einlenken der Regierung wirkte wie Balsam, der „Neue Kurs" ließ Sonnenschein auf allen Wegen erkennen ...
Inzwischen war auch Bert Stanike verhaftet worden, als er mit dem Fahrrad vom Einkaufen kam. Man beschuldigte ihn, den Streik der Bauarbeiter im Block 40 sowie in der Baustelle Krankenhaus Friedrichshain mit organisiert zu haben, und als Kurier tätig gewesen zu sein.
Gewichtiger als diese Anschuldigung war aber die Antwort Stanikes auf eine entsprechende Frage: „Die Motive meiner Beteiligung an dem am 16. Juni stattgefundenen Streik sind einmal in meiner gegnerischen Einstellung zur DDR, zum anderen in der zehnprozentigen Normenerhöhung zu suchen." Außerdem warf man ihm Aktivitäten für den Westberliner „Bund der Heimatvertriebenen" vor.
Gerechterweise muß hier das Fernschreiben Mielkes an die Bezirksverwaltungen des Ministeriums für Staatssicherheit vom 24. Juni 1953 erwähnt werden. Nachstehend ein Auszug daraus:
„Richtlinien über die Abwicklung und
Durchführung von Untersuchungsverfahren gegen Personen, die im Zusammenhang mit
den Ereignissen am 16. und 17. Juni 1953 sowie in den darauffolgenden Tagen
festgenommen wurden.
Voraussetzung für die Einleitung von Strafverfahren und Ziel der Untersuchungen muß in jedem Falle die genaue Feststellung der Schuld der Beschuldigten sein, wobei die Ermittlung und Bestrafung der tatsächlichen Anstifter und Aufwiegler der Unruhen und vor allem jener Beschuldigten, die aus Westberlin sind, in den Vordergrund zu stellen ist. Massenrepressalien sind untersagt. Ergeben die Untersuchungen, daß die Schuld des Täters gering ist und die Folgen der Tat unbedeutend sind, zum Beispiel, wenn ein beschuldigter Arbeiter lediglich an einer Demonstration wegen wirtschaftlicher Forderungen teilnahm und sich darüber hinaus auch zur Verbreitung antidemokratischer Losungen provozieren ließ, so ist die Einstellung des Verfahrens beim Staatsanwalt zu beantragen und der Beschuldigte sofort in Freiheit zu setzen ...
Mielke, 1. Stellvertreter des Ministers"
Dessen ungeachtet erhielten Foth, Fettling, Lembke und Stanike von den Berliner Behörden nach vielstündigen Verhören am 15. Dezember 1953 ihre Anklageschrift und wurden in der Hauptverhandlung vor dem Berliner Stadtgericht am 25. Mai 1954 nach einem unwürdigen Prozeß wegen Verstoßes gegen die Kontrollratsdirektive 38 zu langjährigen Zuchthaus- und Gefängnisstrafen verurteilt, die ein Vierteljahr später generell in Gefängnis abgewandelt wurden.
Stanike und Lembke hat man nach drei Jahren aus der Haft entlassen, Fettling und Foth erst nach vier Jahren und zwei Monaten.
Am 17.9.1953 kam Frau Stanike zu mir in die Wohnung, und ich half ihr bei der Formulierung eines Bittbriefes an Wilhelm Pieck zwecks Aussetzung der Strafverfolgung gegen ihren Sohn. Dies wurde damals vom Berliner Generalstaatsanwalt abgelehnt.
Neben diesen Vorgängen bewegte mich die Frage nach dem Schicksal meines Freundes Karl. Denn Pförtner Emil behauptete, dieser habe sichtbar noch gelebt, als ihn die Sowjetsoldaten auf ihren LKW legten. Ich hatte gleich nach jenen wirren Tagen einiges unternommen, kam aber keinen Schritt voran.
In der Liste der über einhundert verletzten Volkspolizisten tauchte Karls Name nicht auf. Mein Besuch bei der sowjetischen Kontrollkommission in Deutschland verlief ergebnislos. Die Kripo wußte angeblich nichts. Schließlich wagte ich einen letzten Versuch und fragte den Parteibeauftragten des ZK der SED für die Stalinallee, Herweg Körzendörfer. „Junge," sagte der, „laß die Finger davon. Es bringt nichts ..."
Was war da los? Das frage ich mich heute noch.
Horst Schlafke, der Bauhexenfahrer vom Block C-Süd, der Ordensburgschüler aus der Hitlerzeit, der SS-Mann, der angeblich am 16. Juni vor dem Haus der Ministerien zum Generalstreik aufgerufen hatte, war noch am gleichen Tag nach Westberlin gegangen. Dort schloß er sich dem „Komitee 17. Juni" an. Es wurde von Leuten gebildet, die irgendwie mit den Juniunruhen zu tun hatten, nach Westberlin geflohen waren, sich dort als „Streikführer" feiern ließen und vorgaben, die ersten, einzigen und wahren Volksvertreter der DDR zu sein. Zunächst floß reichlich Geld für dieses Komitee, vor allem vom DGB.
Der arbeitslose Schlafke hielt es für angebracht, diese Unterstützung durch „Vorträge" über den „Bauarbeiteraufstand in der Stalinallee" aufzubessern. Dabei gab er stets die gleiche Story zum besten, wie zum Beispiel am 1.9.1953 im Westberliner Studentenheim am Steinplatz: „Sechshundert Mann arbeiteten am 16. Juni auf der Baustelle Block 40. Alle in wahnsinniger Wut auf das kommunistische Regime, und alle streikbereit gegen die Regierung Grotewohl-Ulbricht-Pieck." So etwa soll er angefangen haben. Und dann: „Wir machten es so: Wer dafür ist, daß die Regierung der DDR gestürzt werden soll, der trete rechts heraus. Wer dagegen ist, bitte nach links heraustreten. Natürlich sind alle sechshundert Bauarbeiter, bis auf ein paar Kommunisten und Eingeschüchterte, nach rechts herausgetreten. Dann habe ich zum Marsch zum Haus der Regierung aufgerufen. Die Bauarbeiter sind angetreten und mir gefolgt. Die Maurer Marohn und Thiel vom Block 40 haben mir zur Seite gestanden."
Otto Pfeng schüttelt noch heute den Kopfüber diese Abgebrühtheit. Denn auf Block 40 kannte man weder Horst Schlafke noch Marohn oder Thiel.
Auch weitere gewesene „Streikführer aus der Zone" meldeten sich beim Landesvorstand des DGB, erhielten Taschengeld und wurden fast automatisch in das „Komitee 17. Juni" integriert. Schließlich bestand dieses aus 58 Männern, davon 14 aus Ostberlin.
Am 13. Juli 1953 beschäftigte sich der Landesvorstand Berlin des DGB mit dem „Komitee 17. Juni". Ernst Scharnowski gab bekannt, Georg Reuter, der 2. Bundesvorsitzende des DGB, habe um drei Namen von ehemaligen Streikleitungsmitgliedern aus der DDR gebeten. Sie sollten in westdeutschen Gewerkschaftsversammlungen auftreten. Vor allem wollte er sie aber mit nach Stockholm nehmen, um die DDR vor dem dort tagenden Weltforum des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften bloßzustellen.
Scharnowski habe aus der satt gefüllten Kiste neun bekannte Streikführer herausgesucht. Nach Überprüfung mußte Reuter jedoch feststellen, „daß von diesen neun auch nicht einer für die Agitation des DGB brauchbar sei. Alle neun sind entweder ehemalige Offiziere oder Soldaten der Waffen-SS, HJ-Führer oder Funktionäre der NSDAP gewesen." Einer von ihnen war wohl Horst Schlafke.
Nach erneuter „Durchkämmung" der in Westberlin untergetauchten Streikführer habe man Reuter drei Brauchbare genannt. Einer von ihnen hieß Alfred Brun, ein Bauarbeiter aus der Stalinallee. Ihn hatte es tatsächlich in der Stalinallee gegeben. Aber der ehemalige Brigadier Heinz Homuth und der ehemalige Fliesenleger Günter Sandow wissen von Brun, daß er in keiner Hinsicht hervorgetreten war. Am späten Nachmittag des 16. Juni soll sich Brun in einen gekaperten Lautsprecherwagen gesetzt und Losungen verbreitet haben. Streikführer ist Brun nie gewesen. Später erzählte er in Interviews einige Albernheiten über diese Tage.
Weiter hatte Scharnowski gesagt: „Man hat festgestellt, daß die Leute aus dem Osten, die sich hier als Streikleitungen ausgaben, überhaupt keine Gewerkschafter sind. ...
Ich habe allen Grund zu zweifeln, daß diese Flüchtlinge die Gewerkschafter sind, die in den Betrieben den Kampf gegen die Normenerhöhungen aufgenommen haben. Die angeblichen Streikleitungsmitglieder, die bei uns jetzt ins Horn stoßen, sind durchweg sehr fragwürdige Gestalten. Die 'Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit' und die 'Liga für Menschenrechte' haben sich dieser Menschen jetzt bemächtigt. Im Hotel am Zoo und im Hotel Kempinski haben Konferenzen stattgefunden unter der Leitung von Rainer Hildebrandt und von Götze, dem Vorsitzenden der Berliner 'Liga für Menschenrechte', mit Vertretern der 'Streikleitungen'. Diese Mitglieder der Streikleitungen haben sehr viel Geld bekommen und bevölkern nun die Vergnügungslokale am Kurfürstendamm. Es ist ein 'Streikkomitee 17. Juni' gebildet worden. Dieses 'Streikkomitee 17. Juni' ist an den DGB Berlin herangetreten und hat uns aufgefordert, wir sollten ihnen für ihre Arbeit Räume und Büromaterial kostenlos zur Verfügung stellen. Das lehnen wir ab. Wir unterstützen gewerkschaftliche Kämpfer, die sich auf gewerkschaftlicher Basis mit ihrer Regierung, dem FDGB und ihrer BGL auseinandergesetzt haben. Aber wir müssen uns aus diesen politischen Untergrundbewegungen heraushalten. Das Büro Haas hat von mir strenge Anweisung, auf keinen Fall mit Leuten zusammenzuarbeiten, die von der KgU oder der Liga für Menschenrechte bezahlt werden."
Nach Scharnowski sprach Heinz Striek, Scharnowskis Stellvertreter und Verbindungsmann zum „Komitee 17. Juni". Striek wohnte damals in Ostberlin. Er gab bekannt, daß die meisten nach Westberlin geflohenen Mitglieder von Streikleitungen in einem Dahlemer Heim der 'Liga für Menschenrechte' untergebracht seien. Auf Anfrage teilte er mit, daß „bis jetzt" 5023 aus der DDR geflüchtete Streikführer je 20 Mark erhalten hätten, darunter leider auch ohne Zweifel eine große Anzahl Strolche und Hochstapler. So heiße der wirkliche Streikleiter der Leunawerke Tuch. Friedrich Schorn dagegen, der sich als Streikleiter der Leunawerke ausgebe, sei nicht mal in der Streikleitung gewesen und den Leunaarbeitern nicht bekannt. Zumal er nur sechs Monate im Werk gearbeitet habe. Übrigens sei Schorn Mitglied der SED und vorher SS-Mitglied gewesen ...
Wörtlich erklärte Heinz Striek: „Im Ostsektor besteht keine Neigung zum Widerstand gegen die Regierung. Es wird aber passiv Resistenz geübt. Wenn man über die Stalinallee geht, kann man feststellen, wie langsam die Bauten jetzt wachsen. Die Ostregierung hat eine fühlbare Erleichterung in der Ernährung hergestellt. Die Leute haben jetzt ausreichend zu essen. In vielen Betrieben wird aber, auf Anweisung der Streikkomitees, eine sogenannte 'schwarze Liste' hergestellt. In ihr sollen alle Leute verzeichnet werden, die sich am Streik nicht beteiligt haben, damit sie bei kommenden Unruhen ausgeschaltet werden können."
Von Vorstandsmitglied Krause wurde „ein- für allemal" bekanntgemacht, daß nicht der gewisse Horst Ballentin die rote Fahne vom Brandenburger Tor geholt habe, sondern Werner Lange und Alfred Schulze aus Ostberlin. Ihre Aktion sei vom Kaiser-Ministerium und von Bilddokumenten bestätigt worden.
Später sagte der DGB-Funktionär Galle unter anderen:
„Der Weg, den Kollege Scharnowski eingeschlagen hat, ist richtig. Wir unterstützen keine Aggression gegen die DDR-Regierung, die nur unnütze Opfer unter den Arbeitern kosten würde. Das 'Komitee 17. Juni' ist abzulehnen. Die Gewerkschaften dürfen sich nicht in politische Manöver einlassen. Die Hintermänner von Rainer Hildebrandt wollen dunkle politische Geschäfte treiben. Es wird kein Arbeiter verstehen, daß aus einer rein gewerkschaftlichen Aktion auf einmal Aufruhr und politische Manöver entstehen."
Wie sich zeigte, wurde deren Wühltätigkeit gegen die DDR durch diese - zwar verspätete und keineswegs endgültige - jedoch trotzdem anerkennenswerte Haltung der Westberliner DGB-Funktionäre nicht gebremst.
Denn bereits am 9. Juli hatte eine geheime Konferenz zwischen KgU, Liga für Menschenrechte, „Streikleitungen" und dem amerikanischen Geheimdienst im Hotel Kempinski stattgefunden. Dort bildete sich eine „Führung für kommende Kämpfe" in der DDR. Ihr gehörten u. a. ein Mr. Brown, Rainer Hildebrandt von der „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit", Götze von der Liga für Menschenrechte sowie der vorgebliche „Streikführer" Schorn aus den Leunawerken an ...
Aus einer Mitteilung der Presseagentur dpa
(veröffentlicht in der „Märkischen Oderzeitung" vom 3.2.1999)
„Ein Fotodenkmal vor dem künftigen Bundesfinanzministerium wird nach dem Willen des Berliner Senats an die Opfer des Arbeiteraufstandes vom 17. Juni 1953 in der DDR erinnern. Ziel sei es, die Erhebung gegen Unrecht und Unterdrückung respektvoll zu würdigen, sagte Bausenator Jürgen Kiemann (CDU) gestern in Berlin ... Die 25 Meter lange und vier Meter breite, in Glas geätzte Fotografie wird vor dem ehemaligen „Haus der Ministerien" in den Boden eingelassen ... Das gestern vom Senat beschlossene Denkmal ist ein Entwurf des Künstlers Wolfgang Rüppel. Es soll nach Möglichkeit bis zum 17. Juni fertiggestellt werden. An den Baukosten von rund einer Million Mark wird sich nach Klemanns Angaben der Bund beteiligen."
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