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Meine Mitgliedschaften

 Zum Ende des Krieges war ich 15 Jahre alt und befand mich im zweiten Jahr einer kaufmännischen Lehre. Mein Lehrherr - ein Mann Anfang Vierzig - war Inhaber eines kleinen Ascherslebener Geschäftes mit angeschlossenem Elektro- und Sanitärhandwerk. Während andere Menschen zu dieser Zeit von Hunger und Elend gezeichnet waren, wirkte er satt und dick. Als aktiver Nazi besaß er offenbar so gute Beziehungen, daß er während des Krieges als „nicht kriegsverwendungsfähig“ eingestuft wurde und in der Heimat seiner Neigung zum guten Leben frönen konnte. Aber auch nach dem Krieg hob sich sein Äußeres von dem der üblichen Hungerleider ab.

Aschersleben lernte von Frühjahr bis Sommer 1945 nacheinander sämtliche Besatzungstruppen kennen. Zuerst waren es die amerikanischen, danach die britischen. Die französischen gaben auch eine kurze Gastrolle. Dann regierten wieder die Amerikaner, bis sie Anfang August 1945 durch die Rote Armee abgelöst wurden. Die Bildung politischer Parteien und Organisationen mit antifaschistisch-demokratischem Charakter, darunter der Gewerkschaften, wurde erstmalig durch die sowjetischen Besatzungsorgane gestattet.

In unserem kleinen Betrieb arbeiteten mehrere Nazis verschiedener Couleur. (Weder ihnen noch dem Unternehmer wurde ein Haar gekrümmt.) Außerdem gab es aber noch einen Kommunisten und zwei Sozialdemokraten - darunter den Klempner Wege, einen Endfünfziger, der die Initiative zur Gründung der Gewerkschaft ergriff. Er trat auch an mich heran, bat um meinen Beitritt und sprach mit mir nicht nur einmal über das „Warum“. Die übrigen Kollegen waren inzwischen sämtlich FDGB-Mitglied, aber ich weigerte mich standhaft. Die faschistische Ideologie und ihr antikommunistischer Ungeist saßen bei mir noch tief. Ein „Roter“ wollte ich nicht werden. Hinzu kam die anfängliche Angst meiner Mutter, daß „es wieder anders kommen könnte“ und die Nazis sich dann rächen würden. Sie war meine einzige Vertraute, denn Vater befand sich noch in amerikanischer Gefangenschaft. Schließlich sprach jedoch selbst sie davon, daß sich die Arbeiter gegen die Unternehmer einig sein müßten und erzählte von unserem Vater. Er war gelernter Bäcker und viele Jahre arbeitslos gewesen. Aber als aktiver Gewerkschafter hatte er sich vor 1933 stets für die Interessen seiner Kollegen eingesetzt und angeblich sogar mal einen Bäckermeister verprügelt, weil der seine Lehrlinge mißhandelte. Das beeindruckte mich. Außerdem hatte ich ja ständig unseren Chef vor Augen, der seinen Arbeitern und Angestellten recht arrogant begegnete. Also wurde ich als Sechzehnjähriger am 15. August 1946 doch noch Mitglied des FDGB und einige Monate danach - was ich nie geglaubt hätte - sogar Funktionär. Doch dazu später.

Endlich kehrte auch mein Vater heim und berichtete Niederschmetterndes aus dem US-Gefangenenlager Bolbec bei Le Havre in Frankreich. Er schilderte, wie die deutschen Kriegsgefangenen dort buchstäblich „verhungert wurden“. Später bestätigte mir ein Arbeitskollege diese Aussagen. Als Schreiber hatte er die Liste der „Abgänge“ führen müssen und nannte dafür die Zahl von ca. 36.000. Die Hinterbliebenen waren nicht über das tragische Schicksal ihrer Angehörigen informiert worden.

Nach erfolgreichem Lehrabschluß - Ende März 1947 - hatte der Unternehmer für mich keine Arbeit mehr. Irgendwie schien das sogar verständlich, denn die Geschäfte waren leer. Was sollte ein gelernter Kaufmann da verkaufen? Also wurde ich in die Arbeitslosigkeit entlassen.

Unsere fünfköpfige Familie - ich hatte noch zwei jüngere Geschwister - litt große Not, denn Vater war der einzige Ernährer. Weil ich weder von Schiebergeschäften noch Diebstahl leben wollte, nahm ich die nächste sich bietende Beschäftigung an und wurde für einen Stundenlohn von 89 Pfennigen Straßenbauer auf der heutigen B 185 Aschersleben-Güsten. Das war körperliche Schwerstarbeit, denn unsere gesamte „Technik“ bestand aus Schottergabel, Schaufel, Vorschlaghammer, Kreuzhacke, Schubkarren mit Eisenrädern und einem alten LKW, der alle Augenblicke ausfiel. Arbeitshandschuhe besaßen wir nicht, sondern benützten unsere bloßen Hände als Ver- und Entladewerkzeuge für die Granitsteine, die als Packlage in die Straße eingebracht wurden. Nach der vierten oder fünften Häutung gewöhnten sich auch meine Hände daran, denn ihre Innenflächen waren zu Leder geworden.

Inmitten all des schrecklichen Mangels schien das Leben in dieser Nachkriegszeit trist und hoffnungslos, an Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung nicht zu denken. Aber dann erfuhr ich von wöchentlichen Treffen junger Schachspieler. Da ich gern Schach spielte - in der Nazizeit war ich sogar Mitglied eines Klubs gewesen - ging ich hin. Den Raum sehe ich noch heute vor mir: Eine einzige Glühlampe verbreitete trübes Licht über die in ihre Partien vertieften Spieler. Aber die freundliche Begrüßung durch einen älteren Herrn ermunterte zum Mitmachen. Allerdings steckte ich an jenem ersten Abend - aus der Übung gekommen - nicht nur eine Niederlage ein. Danach besuchte ich diese Treffen regelmäßig. Erst nach geraumer Zeit erfuhr ich, daß sie unter Trägerschaft der FDJ liefen und jener freundliche ältere Herr Vorsitzender des FDJ-Kreisverbandes Aschersleben war. Nach meiner FDJ-Zugehörigkeit fragte niemand. Aber ich selbst stellte mir diese Frage und beantwortete sie positiv. So wurde ich irgendwann im Herbst 1947 ohne jede politische Motivation Mitglied der FDJ.

Eine charakteristische Episode aus jener Zeit hat sich in mein Gedächtnis eingeprägt. Wir hatten inzwischen eine Schachmannschaft gebildet und nahmen an Wettbewerben teil. Dabei spielte ich einmal am letzten oder vorletzten Brett. Mein Gegner kam vom Dorf - wohlgenährt, satt. Das Spiel zog sich mehr als zwei Stunden hin. Es verlief zunächst ausgeglichen, aber allmählich holte ich Vorteile heraus. Meine Kameraden ermunterten mich, denn von meinem Sieg hing das Mannschaftsergebnis ab. Leider hatte ich einen viel gefährlicheren Gegner als mein wohlgenährtes Gegenüber zu besiegen - nämlich den Hunger. Ich war völlig ausgehungert, mir schmerzte der Magen und meine Konzentrationsfähigkeit verringerte sich rapid. Bald beging ich einen Fehler - und mit meiner Niederlage zog leider auch die Mannschaft den kürzeren.

Der Baubetrieb, bei dem ich arbeitete, befand sich in Privatbesitz und war in Köthen/Anhalt ansässig. Einige Zeit nach meiner Einstellung erlebte ich zum ersten Mal, wie notwendig die Arbeit der Gewerkschaft sein konnte. Die Firma stellte einen Akkordlohn in Aussicht, falls wir unsere Leistungen abrechenbar steigerten. Wir stimmten dem zu und erfüllten die Vorgaben. Aber als es danach ans Bezahlen ging, wollte in der Firmenleitung niemand mehr etwas von der Abmachung wissen, und wir konnten sie schließlich nur mit Hilfe der Gewerkschaft durchsetzen.

Die Industriegewerkschaft Bau/Holz packte die Gelegenheit beim Schopfe und bildete eine Gewerkschaftsgruppe. Allerdings mußte für sie unbedingt ein Obmann gefunden und gewählt werden. Das war schwierig. Während das alles lief, wurde ich kurzzeitig krank (Erschöpfungszustand und hohes Fieber durch Unterernährung in Verbindung mit körperlicher Schwerstarbeit.) Als ich danach wieder zur Arbeit erschien, eröffneten mir meine Kollegen: „Konrad, wir haben Dich zu unserem Obmann gewählt.“ So wurde ich Gewerkschaftsfunktionär - ohne zu wissen, was ich damit anfangen sollte. Mit meinen siebzehn Jahren war ich außerdem der Jüngste von allen. Aber mein Vater unterstützte mich. Er hatte überhaupt großen Einfluß auf meine politische Entwicklung und war mir stets ein Vorbild.

Meine erste gewerkschaftliche Aufgabe ließ danach nicht lange auf sich warten. Der Sekretär des Ortsvorstandes der IG Bau/Holz rief mich zu sich und drückte mir „Bezugsscheine“ für meine Kollegen in die Hand. Heute schwer vorstellbar, aber nach dem verheerenden Krieg gab es für den täglichen Bedarf so gut wie nichts mehr - und was es gab, wurde streng rationiert. Lebensmittelkarten und Bezugsscheine waren fast wichtiger als das Geld zu ihrer Einlösung und Verwandlung in lebenswichtige Güter. Bezugsscheine existierten für Kleidung und Brennstoffe. Prinzip der sowjetischen Besatzungsmacht war es, mit diesen Zuteilungen vor allem die Arbeiter zu versorgen. Danach kamen Angestellte, Kinder und Nichtberufstätige. Das heißt: Alle erhielten etwas, nur eben in unterschiedlichen Mengen.

Mit der Verteilung der Bezugsscheine im Betrieb wurde die Gewerkschaft beauftragt, und auch ich bekam von Zeit zu Zeit einige zur Weitergabe an meine Kollegen. Da gab es solche für Strümpfe sowie Ober- und Unterbekleidung (jeweils getrennt nach Herren-, Damen- und Kinderartikeln), manchmal waren Bettwäsche oder Schuhe dabei, gelegentlich auch ein Sack Brikett oder Holz. Besonders lustig ging es zu, wenn wir zwölf Männer zwischen Siebzehn und Sechzig im Straßengraben saßen und über die Vergabe von Büstenhaltern oder Strumpfhaltergürteln verhandelten. Denn jegliche Verteilung erfolgte auf demokratischer Basis, und Streitfälle wurden durch Abstimmung entschieden. Die unterschriebenen Quittungen mußten an die Gewerkschaftsleitung zurückgegeben werden. „Unter den Nagel reißen“ konnte man sich dabei nichts. Aber das kam mir auch nie in den Sinn. Es war mir sogar peinlich, als die Kollegen einmal den Bezugsschein einer Herrenhose für mich bestimmten: „Konrad, die bekommst Du. Du hast keine ordentliche Hose mehr.“ Das stimmte natürlich -aber trotzdem ... Jeder von uns war doch bis aufs Äußerste heruntergewirtschaftet und litt Mangel an allem. Beispielsweise existierte von den amerikanischen Armeeschuhen, die mir Vater mitgebracht hatte, nur noch das schlimm strapazierte Oberleder, während die Sohlen aus alten Reifenstücken bestanden. Als Essen für den langen Arbeitstag konnte mir Mutter meist nur eine dünne Doppelschnitte sowie ein Kochgeschirr voller Brennesselsuppe - manchmal auch Graupen - mitgeben. Sie verkochte darin eine geriebene Kartoffel zum Andicken, sofern wir welche hatten. Solches Essen wurde im heißen Sommer des Jahres 1947 schnell gärig und sauer. Bis zur Arbeitsstelle legten wir frühmorgens zwischen 5 und 7 km zurück und mußten die gleiche Strecke am Abend nochmals zu Fuß bewältigen.

Es lag auf der Hand, daß wir auf die Dauer so nicht weiterleben konnten. Deshalb dachte ich darüber nach, ob denn die Bezugsscheinverteilung alles sei, was einen Gewerkschaftsfunktionär ausmachte. Als ich unserem Gewerkschaftssekretär im Herbst 1947 diese Frage stellte, antwortete er: „Wir delegieren dich auf eine Gewerkschaftsschule!“

Die Bezirksgewerkschaftsschule des FDGB befand sich in Trebnitz/Könnern bei Halle. Das mir dort vermittelte Wissen hatte großen Einfluß auf meine gesamte Entwicklung. Erstmals erfuhr ich, daß Marx und Lenin keineswegs „verabscheuungswürdige Jüdische Bolschewisten“ waren, sondern sehr viel für die Befreiung des arbeitenden Volkes getan hatten. Auch von Friedrich Engels hörte und las ich. Schwerpunkt des theoretischen Unterrichts waren aber die Arbeiten Stalins (insbesondere die kleine Schrift „Über den dialektischen und historischen Materialismus“), die für mich und andere entsprechend unseres damaligen geringen Bildungsstandes leichter verständlich waren.

Noch wichtiger war für uns allerdings die Aufklärung über das wahre Gesicht des Jtlerfaschismus. Ich begriff nun, wie man uns Jugendliche betrogen und für Interessen mißbraucht hatte, die nicht die unseren sein konnten. Es waren ebenso aufschlußreiche wie erschütternde Erkenntnisse, die uns einige als Lehrer tätige Überlebende des Konzentrationslagers Buchenwald vermittelten. Meine besondere Verehrung gilt seither dem Genossen Paul Keck.

Obwohl mein Alltag nach Rückkehr von der Schule zunächst kaum anders verlief als vorher, begann mit diesem Lehrgang für mich - den Achtklassen-Volksschüler, der kaum einen zusammenhängenden Satz artikulieren konnte - ein neuer Lebensabschnitt. Allerdings drängte es mich nun auch, mein neu erworbenes Wissen, vor allem aber die Erkenntnisse über den Faschismus, anderen Altersgefährten mitzuteilen. In kleinen Grüppchen saßen wir abends in der Schule oder im Umkleideraum des Stadtbades zusammen. Dabei sangen wir auch viele neue Lieder: von Freundschaft, gegenseitiger Achtung, von Frieden und Solidarität zwischen den Völkern und vom Aufbau einer neuen Zeit. Durch sie entwickelten sich ein wunderbares Zusammengehörigkeitsgefühl, Freude, Optimismus - ein neues Denken. Und sie ließen uns vieles leichter tragen, was doch so schwer war.

Zumindest in Aschersleben dominierte damals die Jugendarbeit der Gewerkschaften. Die FDJ hatte selbst Anfang 1949 erst 354 Mitglieder (bei mindestens 3.000 Jugendlichen im „FDJ-Alter“). Zur Auseinandersetzung mit dem faschistischen Gedankengut und Erläuterung des Weges in eine bessere Zukunft organisierten die Betriebsgewerkschaftsleitungen Jugendstunden. Sie fanden während der Arbeitszeit statt, denn die meisten Jugendlichen interessierten sich nicht für Politik; eine freiwillige Teilnahme wäre schwer erreichbar gewesen. Dagegen waren die jungen Leute für konkrete Aktionen schnell zu begeistern. Sie drängten vorwärts, nahmen insgesamt durchaus Anteil am gewerkschaftlichen Leben und organisierten in einigen Betrieben sogar eine selbständige Jugendarbeit.

Allerdings steuerten die zentralen Gewerkschaftsorgane den Tendenzen zur Bildung einer Gewerkschaftsjugend entgegen. Denn das Streben nach einem einheitlichen, demokratischen und friedliebenden Deutschland erforderte die über alles Trennende - wie Beruf, soziale Herkunft, Konfession, Parteizugehörigkeit usw. - hinausreichende Einheit der Jugend. Nach Lage der Dinge konnte dies nur im Rahmen der FDJ gewährleistet werden. Trotzdem gab es mancherorts noch 1948/1949 Bestrebungen, junge Gewerkschafter und FDJler ausdrücklich unter ihren bisher getrennten Symbolen zu vereinen - beispielsweise durch Fahnen mit dem FDJ-Wappen auf rotem Grund oder zweigeteilt: halb FDJ-Blau und halb Gewerkschaftsrot.

Inzwischen war die Ortsgewerkschaftsleitung auf mich aufmerksam geworden und übertrug mir die Leitung der Kreisjugendkommission des FDGB Aschersleben. Da sich meine Arbeit im Straßenbau nur schwer damit vereinen ließ, erhielt ich Ende Mai 1948 eine Anstellung in der traditionsreichen Werkzeugmaschinenfabrik Aschersleben. Sie war den bisherigen Eigentümern Biletter & Klunz kurz zuvor durch Dekret der Sowjetischen Militäradministration abgenommen und - als Vorbereitung auf die Übergabe in Volkseigentum - unter Sequester gestellt worden. Unseren ersten Werkdirektor, früher SPD- und nun SED-Mitglied, hatte man direkt von der Drehbank in den Direktorensessel gehievt.

Im Werk gab es einen Betriebsrat zur Interessenvertretung aller Kollegen und eine Betriebsgewerkschaftsleitung für die FDGB-Mitglieder. Sie wurden getrennt gewählt. Als Jungarbeiter und -gewerkschafter bemühten wir uns oft vergeblich um die Delegierung unserer Vertreter in diese Leitungen, da Jugendliche in der Regel an das Ende der Kandidatenliste gesetzt wurden.

Als Hilfsarbeiter hatte ich in der Dreherei Späne oder Werkstücke zu karren und sonnabends die Maschinen zu säubern. Natürlich kam ich nun mit einem ganz anderen Schlag von Arbeitern zusammen als auf der Baustelle. Alle waren irgendwie - durch jahrelange Zusammenarbeit, aber auch durch Vetternwirtschaft - viel mehr miteinander verbunden. Als Fremder faßte man da nicht so leicht Fuß. Aber ich machte meine Arbeit, und man redete auch mit mir. Es war die Zeit der Diskussionen um den Befehl 234 der SMAD, mit welchem nicht nur bestimmte soziale Verbesserungen einhergingen, sondern vor allem unter dem Motto „Mehr arbeiten, gerechter verteilen, besser leben!“ eine allgemeine Produktionssteigerung erreicht werden sollte. Da ich die dazu notwendigen Maßnahmen trotz meiner damals nur geringen Kenntnisse aus Überzeugung vertrat, wurde ich für meine Kollegen bald zum „SEDisten“ - obwohl ich noch gar kein Parteimitglied war. Diesen Titel hörte ich in verschiedenen Variationen: gehässig, bedauernd, gutmütig - und immer wieder geringschätzig. Die Kollegen wollten nicht verstehen, daß wir erst mal mehr herstellen mußten, um besser zu leben. Die meisten argumentierten mit dem Motor, der nicht ohne Benzin oder Elektroenergie läuft - ebensowenig wie der menschliche Körper ohne ausreichende Nahrung. Natürlich hatte ich die einfachste Logik auf meiner Seite: Wo nichts war, konnte nichts verteilt werden; schließlich mußten auch Benzin oder Elektroenergie - d. h. Nahrungsmittel - erst mal irgendwo herkommen, und dazu hatte die gesamte Volkswirtschaft beizutragen. Aber meist erlebte ich, was bei einigen etablierten Politikern heute noch üblich ist: Wo die Argumente ausgingen, wurde man unsachlich, schimpfte mich „Roter“ oder „SEDist“ und versuchte mich quasi in die Ecke zu stellen. Angenehm war das keineswegs, aber Resignation kam für mich nicht in Frage. Dazu besaß ich zu viel Elan und jugendliche Unbeschwertheit.

Nach kurzer Zeit fragte mich ein jüngerer Kollege aus der Werkzeugmacherei, ob ich vielleicht in der FDJ-Betriebsgruppe mitmachen wolle. Nichts lieber als das! Immerhin bestand die Gruppe bereits aus 15 oder 20 Jugendfreunden. Ich war nicht länger allein und traf sogar Horst, einen meiner früheren Schachfreunde, wieder. Allerdings stellte dieser mir dann eines Tages auf dem Werkhof die Frage, ob ich nicht in die Partei (SED) eintreten wolle. Ich verneinte und meinte, daß ich kein Kortschagin1 sei. Horst ließ nicht locker, und wir führten viele Diskussionen. Den Ausschlag gab jedoch ein von mir geleitetes Jugendforum zum Befehl 234 der SMAD im Juni 1948, bei dem die Vertreter der damaligen drei Blockparteien (SED, LDPD und CDU) auf Anfragen zu ihrer Politik antworteten. Die Veranstaltung lief gut, endete für mich jedoch trotzdem mit einem Schock. Denn nach der lebhaften Diskussion versuchte unser damaliger Kreisvorsitzender der LDPD ein neues Mitglied für seine kleinbürgerliche Partei zu gewinnen - und zwar ausgerechnet mich, einen Arbeiter! Natürlich lehnte ich ab. Aber letzten Endes hieß es nun, eine Entscheidung zu treffen. Das Aufnahmeformular für die SED war schnell besorgt: ein unscheinbares A5-Blatt für die allernötigsten Angaben, das ich rasch im Umkleideraum ausfüllte (später hatte der Bewerber einen mehrseitigen Fragebogen und zwei Bürgschaften vorzulegen). Da ich den Arbeitsplatz unseres Parteisekretärs Paul Grabe in der Elektrowerkstatt leer fand, legte ich meinen Zettel auf seine ölgetränkte Werkbank und sicherheitshalber einen Schraubenschlüssel obenauf. Irgendwann danach bestätigte mir Paul auch, daß er meinen Antrag gefunden und weitergeleitet habe.

Vorläufig erfuhren weder Eltern noch Geschwister etwas von diesem entscheidenden Schritt. Aber natürlich wußten sie um meine gesellschaftlichen Aktivitäten, denn ich verbrachte den größten Teil meiner Freizeit in Diskussionsabenden oder anderen Veranstaltungen von FDJ und Gewerkschaft.

Im Herbst 1948 delegierte mich mein Betrieb auf die Landesgewerkschaftsschule Beesenstedt bei Halle/Saale. Sie war in einem Gebäudekomplex untergebracht, der vormals reichen Großgrundbesitzern gehört hatte und sich - mit Blick auf die ärmlichen Gehöfte und Katen der Dorfbevölkerung sowie die dürftige Unterbringung der Bediensteten - hervorragend als Anschauungsmaterial für die Quellen solchen Reichtums eignete. Mir war unbegreiflich, daß mancher Dorfbewohner trotzdem das Schicksal der „gnädigen Herrschaft“ bejammerte, die vor den bösen Russen und Roten geflüchtet war und „verarmt“ irgendwo in den Westzonen Zuflucht gefunden hatte.

Für meine Familie war dieser Schulbesuch ebenso wie der vorangegangene eine Erleichterung, denn ich hatte ihnen beide Male meine Lebensmittelkarte zu Hause lassen dürfen. (Allerdings war das damals nicht die Regel.) In der Schule gab es relativ gutes Essen, aber richtig satt wurden wir trotzdem nicht.

Ich schrieb häufig nach Hause und freute mich auf jede Post. Verblüfft war ich allerdings, als mir meine Mutter eines Tages lakonisch mitteilte, daß mein Parteimitgliedsbuch auf dem Postweg angekommen sei und eine Namensliste sowie Beitragsmarken zum Kassieren beigelegen hätten. „Da Du eine Zeit fort sein wirst, jedoch abgerechnet werden soll, habe ich das gleich für Dich erledigt.“ Das war eben meine Mutter: keine Ermahnung, kein Jammern. Aber auch Vater akzeptierte meine selbständige Entscheidung. Inzwischen war ich ungefragt Parteifunktionär geworden, nämlich Kassierer im Wohngebiet.2 Es war die erste und letzte Funktion, in die ich ohne Wahl gelangte. Natürlich stellt sich heute die Frage, weshalb ich mich nicht gegen dieses undemokratische Verfahren wehrte. Aber mein Instinkt sagte mir einfach, daß der von meiner Partei eingeschlagene Weg und ihre Ziele für uns kleine Leute genau das Richtige seien. Mit anderen Worten: Ich hatte Vertrauen, stellte mich den Anforderungen und wollte mithelfen, ohne kleinliche Vorbehalte alle Schwierigkeiten und Hürden möglichst rasch zu überwinden. Denn deren gab es damals wie später genug, und bei weitem nicht alle waren „hausgemacht“.

So erinnere ich mich sehr gut an einen grauen Novembermorgen des Jahres 1948. Als ich den Betrieb betrat, standen die Arbeiter auf dem Werkhof herum und führten erregte Diskussionen. Ungewöhnlich war nicht die Diskussion selbst, sondern ihr - im Gegensatz zu sonst - ausgesprochen politischer Charakter und die keineswegs prowestlichen Äußerungen. Es ging darum, daß die fällige Kokillenlieferung3 aus dem Ruhrgebiet ausgeblieben war. Die Auswirkungen dieser offensichtlichen Boykottmaßnahme waren unabsehbar. Einige Produktionsbereiche würden sie sofort, andere erst später zu spüren bekommen; aber insgesamt schien die Erfüllung der volkswirtschaftlich wichtigen Aufgaben des Betriebes ernsthaft gefährdet. So weit ich mich erinnere, wurden die Lieferungen danach auch nicht wieder aufgenommen. Später ersetzten sowjetische Erzeugnisse die Kokillen aus dem Ruhrgebiet, aber vorerst mußte Schrott als Ersatz herhalten. Vielleicht war es kein Zufall, daß einer unserer Schmelzöfen kurze Zeit später durch eine Explosion stark beschädigt wurde und erneuter Produktionsausfall eintrat. Viele Arbeiter waren damals der Meinung, daß die Granate nicht zufällig in den Schrott gelangt sei bzw. beim Füllen des Ofens hätte entdeckt werden müssen. Über das Ergebnis der eingeleiteten Untersuchung ist mir allerdings nichts bekannt.

In jener Zeit häuften sich auch Meldungen über schwerwiegende Diebstähle - so von großen Kupfermengen in Mansfelder Betrieben, die man sich nur mit organisierter Bandenkriminalität erklären kann. In Berlin gestohlene S- und U-Bahn-Kabel führten zu erheblichen Störungen im öffentlichen Nahverkehr.

Dies alles geschah etwa zur Zeit der separaten Währungsreform in den Westzonen, mit der die Spaltung Deutschlands offen eingeleitet wurde. Als dann (zur Freude der US-amerikanischen Lebensmittelkonzerne) die Aktion „Berliner Luftbrücke“ lief, wurden wir Ascherslebener an schlimme Tage und Nächte erinnert. Denn nur wenige Jahre zuvor hatten ähnliche - vielleicht sogar dieselben - schwerbeladene zweimotorige Militärmaschinen der US-Airforce über meine Heimatstadt hinweg Kurs auf Berlin genommen und noch im Frühjahr 1945 ihre „Rosinen“ auch über Aschersleben abgeworfen. Den Anblick der zerrissenen Menschenleiber werde ich ebensowenig vergessen wie den Klang der Motoren: dumpf und drohend auf dem Hinflug mit der Bombenlast und hell, fast jubelnd, nachdem sie sich ihrer über deutschen Städten entledigt hatten. Die spätere Luftbrücke nach Westberlin empfand ich deshalb als ähnlich freche Heuchelei wie den gegenwärtigen „humanitären“ Einsatz der NATO auf dem Balkan.

Mein Eintritt in die SED erfolgte zu einer Zeit, als die Nachwirkungen der Vereinigung von KPD und SPD an der Basis noch unmittelbar spürbar waren. In unserer Stadt hatten sich die Büros beider Parteien im gleichen Gebäude, aber in verschiedenen Etagen befunden. Da beide auch nach der Vereinigung zunächst bestehen blieben, sprach man von „Die oben“ und „Die unten“. Aber die beiden „paritätischen“ Vorsitzenden - aus der SPD bzw. KPD kommend - saßen sich in einem Raum an ihren Schreibtischen gegenüber und verstanden sich offenbar gut.

Bei einigen alten Parteimitgliedern war das anders. Als FDJ- und Gewerkschaftsfunktionär gehörte ich zum Ascherslebener Parteiaktiv, das jeden Sonntagmorgen zur Beratung aktueller politischer Fragen zusammenkam. Auf dieser Ebene waren die Diskussionen häufig noch von gegenseitiger „Vergangenheitsbewältigung“ überschattet. Auf mich wirkte es sehr belastend, wenn sich „gestandene“ alte Genossen in die Haare bekamen. Da spielten Verhaltensweisen im antifaschistischen Kampf vor und nach der Machtergreifung der Nazis, Verrat und Denunziation eine Rolle. Anfangs verhinderten Vorwürfe und Verdächtigungen jede sachliche Aussprache. Aber allmählich rauften sich die Genossen zusammen, und bei der Bewältigung der täglichen Aufgaben waren sie sich von Beginn an einig. Ich bin davon überzeugt, daß es uns damals und später nur dank dieser Einheit gelungen ist, den ewig gestrigen Klüngel in die Schranken zu weisen.

Denn natürlich suchten auch allerhand zweifelhafte Elemente in der Partei Unterschlupf. In einer Mitgliederversammlung des Jahres 1948 entdeckte ich unversehens einen stadtbekannten Großbauern neben mir. Noch wenige Jahre zuvor hatte er mit dem Hackenstiel hinter uns Schülern gestanden, als wir zwangsweise auf seinen Feldern arbeiten mußten. Auf seinem Hof war die HJ-Einheit im Karree angetreten, damit ihn uns irgendwelche Nazigrößen als Beispiel vorführen konnten. Denn sie wollten uns als künftige „Wehrbauern“ für die besetzten Ostgebiete gewinnen. Meinen ehemaligen Klassenlehrer sah ich in einer der nächsten Parteiversammlungen, den ehemaligen Fähnleinführer des Jungvolks ebenfalls. Hatten sie ehrliche Lehren aus der Vergangenheit gezogen oder fürchteten sie sich vor Repressalien? Oft ging es auch nur um die Karriere. Wes Geistes Kind solche „Genossen“ waren, wurde endgültig dann klar, wenn sie der lukrativeren Lebensweise wegen als „politische Flüchtlinge“ nach dem Westen verschwanden.

Für meine Familie erwies sich der eingeschlagene Weg als richtig. Meine noch zu DDR-Zeiten verstorbenen Eltern sowie meine Schwester blieben vor der Geißel der Arbeitslosigkeit, sozialer Unsicherheit und Perspektivlosigkeit bewahrt. Unser aller Entwicklung - besonders die meines Bruders und meine eigene - blieb untrennbar mit dem Entstehen und Wachsen der DDR verbunden. Noch in ihrem Gründungsjahr waren wir beiden Brüder einfache Arbeiter, aber wenige Jahre später wurde ich - der ehemalige Achtklassenschüler – Diplom-Staatswissenschaftler/Ökonom und mein Bruder Diplompädagoge. 

                                                                                           Konrad Zink


1 Held des sowjetischen Buches „Wie der Stahl gehärtet wurde“ von N. Ostrowski - das von der ostdeutschen Nachkriegsgeneration meistgelesene Buch über die beispielhaften Leistungen sowjetischer Jugendlicher beim Aufbau ihrer Heimat.

2 Die Umstellung auf das betriebliche Organisationsprinzip erfolgte erst mit dem Übergang zur „Partei neuen Typus“ entsprechend den Beschlüssen der 1. Parteikonferenz im Jahre 1949.

3 Kokillen - Eisenkerne, die im Betrieb zu Gußteilen für Werkzeugmaschinen  umgeschmolzen werden.


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