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Pechmarie 

In Stunden der Ruhe und Beschaulichkeit gehen meine Gedanken zurück zu unserer ersten Weihnachtsfeier 1945 im zerbombten Magdeburg, der ersten Feier nach dem großen und grausamen Weltenbrand. Ich war gerade zehn Jahre alt.

Ich sollte aufpassen, immer wieder gab ich mir diesen inneren Befehl. Auf die flackernden Kerzen des Weihnachtsbaumes hatte ich achtzugeben, dazu war ich hier auf die Bühne gestellt von unserer jungen Lehrerin. Dabei war es nicht der Wert der Kerzen allein, die wir alle zu unserer ersten Weihnachtsfeier nach dem großen Krieg mitgebracht hatten. Denn Kerzen besaßen zu dieser Zeit einen hohen Tauschwert, bei den häufigen Stromsperren verständlich. An diesem finsteren und eiskalten Dezembertag mußte ich das Licht, den Tannenbaum mit seinem harzigen Duft, die erwartungsvolle Stille in der alten Aula und das beginnende Märchenspiel auf der Bühne vor Feuer bewahren; denn durch die hohen Fenster, nur notdürftig mit Pappe vernagelt, pfiff ein grimmiger Ostwind von der Elbe her, drohte alles zu zerstören, den glücklichen Traum der Geborgenheit in dieser gemeinsamen Stunde zu beenden.

Aber ich wurde immer wieder abgelenkt, ich spürte es mit Unbehagen und einem bohrenden Schuldgefühl, konnte jedoch nichts dagegen tun. Abgelenkt wurde ich nicht so sehr von den Eltern im Saal - meist waren es Mütter, die Väter waren noch immer in Gefangenschaft - sondern von dem Märchenspiel auf der Bühne. Goldmarie und Pechmarie kämpften mit dem drohenden Unheil dieser Welt auf dem Weg zu Frau Holle und dann zurück ins gemeinsame Leben. Da waren die knusprigen Brote, die reifen Äpfel, die weißen Bettfedern, die schadenfrohen Nachbarn. Aber unser Märchen sollte anders als gewohnt enden: nicht Goldmarie blieb Goldmarie und Pechmarie traf die Strafe für Faulheit und Hoffart. Nein, unsere junge Neulehrerin stimmte als Dramaturgin unserem ausgedachten Schlußbild zu: Beide Mädchen trafen sich am Ende ihrer glücklichen Lebensreise zu Hause unter einem weißen Schleier mit Goldsternen und gingen Arm in Arm ins Leben zurück, geläutert und glücklich beide, die blonde Annegret und die schwarzhaarige Christiane. Beide umarmten sich, verbeugten sich bescheiden, der Beifall trug sie von der Bühne.

Ich hatte dem Ende des Spiel entgegengefiebert, denn daran war ich beteiligt. Der Brautschleier gehörte meiner Mutter, ich hatte ihn ihr abgeschwatzt. Den Baum mit den Kerzen hatte ich vergessen, denn ich war immer an der Seite von Christiane gewesen, zitterte bei jeder schwierigen Textstelle, hörte auf ihre Worte, sah jede ihrer Bewegungen mit Rührung und liebevoller Sorge.

Sonst war ich ein robuster Bengel der Kriegszeiten, spielte Handball, pfiff auf die Hausarbeiten und manchmal auf die Schule, prügelte mich gern, strolchte mit meinem Hund auf den Elbwiesen herum, ärgerte Angler und Kleingärtner, ein richtiger „Elbröwer“, wie man mit ein wenig Respekt sagte. Mein größter Stolz war es, als erster im vergangenen Sommer, als die Elbe Grenzfluß gewesen war, den breiten Strom zu überqueren, ohne abgetrieben worden zu sein.

An diesem Abend nun, bei dieser Weihnachtsfeier, spürte ich etwas Neues, Ungewohntes, nie Erlebtes, Schwäche und Traum zugleich, Sehnsucht nach etwas, was ich nicht sagen konnte. Waren es Christianes schwarz glänzende Haare mit den langen Zöpfen, ihre dunklen, unergründlichen Augen, die alles überstrahlten, ihre sanfte Sprache, ihre Worte? Meine Mutter merkte wohl auch, daß mit mir etwas nicht stimmte, aber sie hielt sich zurück mit klugen Erwachsenensprüchen.

Während alle anderen mich „Heini“ riefen, und dies nicht beleidigend, sagte Christiane immer „Sonni“ zu mir. Welch eine Musik, welch ein Glücksstrahl, der mein Herz traf! Was verband uns seit Jahren? Da war zuerst das nüchterne graue Klassenbuch. Bei uns beiden stand ein Fragezeichen in der Rubrik „Vater“. Bei vielen stand dort ein Kreuz. Wer lesen konnte, wußte, unsere Väter sind vermißt seit Kriegsende, beide wohl in den Weiten des Ostens. Was uns blieb und uns verband, war die Hoffnung auf eine richtige Familie, in der nicht nur die Mutter und ihre Liebe und Fürsorge alles trugen. So hatte sich wohl ein erster Faden zwischen uns verwoben, scheue Blicke des stillen Einvernehmens, aber auch der Scheu, sich über die Hoffnungen des anderen auszusprechen, ihn nicht zu verletzen mit Fragen, die keine Antwort finden konnten.

Wenn wir den Weg zur Schule ein Stück gemeinsam gingen - ich hatte es manchmal so einrichten können, daß es wie Zufall aussah - sprachen wir über unsere Lehrer, andere Schüler, über Gott und die Welt; wir waren immer einer Meinung. Da oft Lehrer fehlten, durfte ich in den Freistunden Aushilfslehrer spielen. Geographie war meine Stärke. Über meinem Bett hingen eine Welt- und eine Europakarte, die ich immer studierte, auf der ich die deutschen Fronten mit Fähnchen fixiert hatte wie ein Stabsoffizier. Der Vater hatte noch im letzten Kriegsurlaub die Fähnchen näher an Berlin herangesteckt. Das ist die HKL1 in Wirklichkeit - so bestimmte er und ließ mich mit Sorgen zurück. Außerdem hatte ich einen Riesenglobus aus den Trümmern einer alten Villa gerettet. Erst am nächsten Tag stand dort eine Warntafel: Plünderer werden erschossen! Ich erzählte das Christiane, und sie riet mir, den Globus zu Hause zu lassen.

Als unerbittlicher Pauker stellte ich meine bohrenden Fragen: Wie heißt die Hauptstadt Tasmaniens? Dann korrigierte ich die nicht exakte Antwort: Das heißt nicht Hobart und liegt unter Australien, sondern südlich. Christiane bekam immer Fragen, von denen ich genau wußte, das weiß sie sicher, und ich erntete dafür dankbare Blicke aus schwarzen Augen. Mein Tun bekam so einen höheren Sinn, sie glücklich zu machen, selbst glücklich zu sein in ihrer Nähe, über die Zukunft nachzudenken, über das Spätere langsam zu reden, über Weltreisen, vielleicht nach Tasmanien, vielleicht auch in die Weiten des Ostens, unsere Väter zu suchen. So war ich dankbar an ihrer Seite, glücklich über jedes Zeichen des Einvernehmens, über jeden Wink, jeden Gruß, jedes Wort, jede Antwort, alles sagte mir - ich verstehe dich.

In den Winterferien nach der Weihnachtsfeier sahen wir uns noch einmal, ich wußte nicht, daß es das letzte Mal war.

Von unserer Kohlenkarte konnte ich zwei Zentner Kohlen vom Händler holen, Kohlen gab es sonst nur noch auf dem Güterbahnhof, beim Kohlenklau. Da tiefer Schnee lag und es grimmig kalt war - viele Menschen erfroren in diesem Winter und wurden erst im Frühjahr gefunden - nahm ich meinen Schlitten und zog los, ein weiter Weg lag vor mir, denn wir wohnten außerhalb der Stadt. Kurz vor dem Kohlenhändler hielt ich an, sah ich doch drei Mädchen auf einem Trümmerberg rodeln, alle vermummt in dicken Winterjacken und Pelzmützen. War Christiane dabei, denn sie wohnte hier in der Nähe?

Ein Paar schwarze Augen leuchteten mir entgegen. „Soll ich dir helfen, Sonni?“ „Nein, nein, ich schaffe das schon alleine, sind ja nur zwei Zentner.“ Ich wehrte ab, hätte ich nur zugestimmt. Beim schnellen Weitermarsch sah ich noch, wie ein Junge in meinem Alter hinzukam, um die Mädchen beim Rodeln zu ärgern. Er warf vor ihren Schlitten etwas Schweres, ein Eisenstück, wie mich dünkte, was diese zum Kreischen und Umlenken zwang.

Ich hatte mit Mühe die Kohlen auf dem Schlitten verstaut, da erschütterte eine kurze, harte Explosion die Luft, mehrmals widerhallte der Peitschenknall in der Kälte des Tages ... Er kam aus der Richtung des Rodelberges, von dort, wo ich hergekommen war, wo Christiane sein mußte. Ich rannte gehetzt zurück, mein Herz war schon zu Eis erstarrt. Auf einer Decke lagen drei Körper, seltsam ruhig und still. Der Junge schrie, er hatte beide Beine verloren, zerrissen von einer Granate. Ein Mann sagte sachlich, er trug einen Soldatenmantel: „Eine Flakgranate 8,8; sie haben nicht gelitten, ihre Lungen sind geplatzt.“

Ich stand am Rande der Welt, allein, hilflos, der Boden unter meinen Füßen schwankte, ich ging wie unter Zwang zur Decke. Da lag sie, Christiane, unsere Pechmarie, die Augen halb geöffnet, ein wenig helles Blut tropfte aus dem lachenden Mund.

Zum Schulbeginn legte ich den Brautschleier mit den Goldsternen auf ihren Platz. Mehr konnte ich nicht tun.

Der verdammte Krieg hatte nicht nur auf den Schlachtfeldern seine Opfer gefunden.

Noch heute, im gereiften Alter, denke ich über den Sinn von Christianes Schicksal nach. Was konnte sie nicht erleben, was ist ihr vielleicht erspart geblieben? Kann man so denken? Ich glaube - Nein und nochmals Nein.

Der höchste Wert für jeden Menschen und eine humane Gesellschaft ist die Ehrfurcht vor dem Leben jedes einzelnen.

Alles Menschenfeindliche und Zerstörerische sollte geächtet sein, vor allem der Krieg und seine Folgen, wie auch immer „begründet“.

Den Opfern gehört über die Zeit hinaus unsere Trauer und liebevolle Erinnerung. 

Dr. Heinz Sonntag


1 HKL - Hauptkampflinie


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