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Nach dem zwölften Einsatz

 Im Mai 1949 wurde ich Mitglied der FDJ und von der Jugendgruppe des Betriebes 17 (Elektrowerkstatt) im Magdeburger Krupp-Gruson-Werkbereits kurze Zeit später zum Vorsitzenden gewählt. Wir beteiligten uns aktiv an allen gesellschaftlichen Aufgaben. So erinnere ich mich, daß wir damals jedes zweite Wochenende eine freiwillige Sonderschicht fuhren. Dabei wurden aus den Trümmern Motoren geborgen, damit sie danach überholt und wieder der Produktion zugeleitet werden konnten. Jeder von ihnen erhielt ein FDJ-Emblem aufgeklebt. Einer dieser Einsätze, es war mein zwölfter, bleibt mir unvergeßlich. Zu dritt waren wir auf einen halbzerstörten Außenkran geklettert, um den Motor auszubauen. Es war äußerst mühsam, die stark verrosteten Schrauben herauszudrehen. Aber endlich konnten wir den schweren Motor langsam am Seil hinunterlassen und wurden dabei sogar von einem Reporter der „Volksstimme“ fotografiert. Als wir danach selbst vom Kran wollten, rutschte ich allerdings aus und konnte mich gerade noch an der Schiene der Laufkatze festhalten. Einer griff schnell zu und zog mich zurück. Wenige Tage später, am 2. Juli 1949, erschien das Zeitungsfoto, und ich dachte: „Es hätte mein letztes sein können.“

Aber natürlich machte ich trotzdem weiter mit. Einmal kam einer von uns auf die Idee, unmittelbar nach dem Arbeitseinsatz an der Einweihung des Magdeburger „Franke-Jugendheimes“ teilzunehmen. Also setzten wir uns auf einen Elektrokarren und fuhren zum Jugendtanz. Als wir in unseren Arbeitsklamotten den Saal betraten, klatschten alle Beifall, denn die meisten Jugendlichen arbeiteten ebenfalls im Werk und wußten, daß wir wieder eine Sonderschicht hinter uns hatten. Allerdings zierten sich die Mädchen erst ein bißchen, weil wir so schmutzig waren, aber schließlich fand doch jeder eine Tänzerin. Wir drehten zwei Runden und fuhren danach zum Duschen und Umkleiden ins Werk zurück.

Diese und ähnliche Sonderschichten leisteten wir damals im Rahmen des vom III. Parlament der FDJ beschlossenen „Max-Reimann-Aufgebotes“. Max Reimann, ein bewährter Antifaschist, war zu dieser Zeit Bundestagsabgeordneter sowie Vorsitzender der westdeutschen KPD. Er hatte die Unterschrift unter das Grundgesetz verweigert, das er als Dokument der Spaltung Deutschlands bezeichnete, und war von der britischen Militärregierung wegen seines konsequenten Eintretens für die Einheit verhaftet worden. Die Ausgabe der „Volksstimme“ vom 2. Juli 1949 gibt dazu die Meinungen unseres Jugendaktivs wieder. So sagte ich: „Es ist klar, der Mann ist unser Freund. Er kämpft doch für Deutschlands Einheit, und das ist es, was uns not tut. Die Zonengrenzen müssen fallen, und dafür muß jeder kämpfen.“

Außer unseren Sonderschichten im Betrieb führten wir FDJler des Krupp-Gruson-Werkes damals an manchem Sonnabend auch Ernte- oder Agitationseinsätze in der Landwirtschaft durch. Einmal waren wir in Klötze/Altmark. Ein Teil der Jugendfreunde arbeitete auf dem Acker, und wir anderen halfen bei der Schaffung von Gemeinschaftsanlagen. Die alten Bauern freuten sich sehr über unsere Leistungen und verpflegten uns gut. Wir hatten sie sogar noch bei der abendlichen Tanzveranstaltung mit unserer FDJ-Kapelle auf unserer Seite, als die einheimischen Jungen wegen „ihrer“ Mädchen Rempeleien anfangen wollten und die Scheiben unseres Busses einwarfen.

Ein andermal fuhren wir aber zum Agitationseinsatz nach Sommersdorf/Börde, dicht an der Zonengrenze. Hier suchten wir jeweils zu zweit die Gehöfte auf, um mit den Bauern über politische Probleme - insbesondere die Vorbereitung der ersten Volkswahlen im Oktober 1950 - ins Gespräch zu kommen. Dabei geriet ausgerechnet unser Zweierkollektiv an einen „Zeugen Jehovas“, der jede Diskussion ablehnte, uns von seinem Hof wies und auch gleich den Hund losmachte. Da waren wir allerdings schon draußen. Für den Abend hatten wir wieder eine Tanzveranstaltung organisiert und wunderten uns anfangs über den schwachen Besuch. Danach hörten wir, daß jenseits der Zonengrenze eine Hochzeitsfeier stattfand, an der auch viele Sommersdorfer teilnahmen. Als sie nachts zurückkehrten, wollten sie einige von uns tätlich angreifen, aber wir kamen den Jugendfreunden zu Hilfe.

Ganz entscheidend für meine weitere persönliche und politische Entwicklung war die Bekanntschaft mit Walter Schumann, einem Schwerkriegsbeschädigten älteren Kollegen. Wir arbeiteten 1950 zusammen längere Zeit in einer 2 m tiefen Grube an der Elektroinstallation des ersten Hochfrequenzofens der Stahlgießerei. Dabei erfuhr ich einiges aus seinem Leben. Als Kommunist wurde er 1933 von den Nazis verhaftet, die ihn zunächst in ein Konzentrationslager und danach in das Strafbataillon 999 gesteckt hatten. Nachdem er mit diesem an die Ostfront kam, entschloß er sich zum Überlaufen. Allerdings wurde ihm zuvor ein Bein abgeschossen, was den Krieg für ihn auf andere, wenn auch besonders schmerzhafte Art enden ließ. Walter erzählte mir viel über die Kommunistische Partei, die Arbeiterklasse und den Klassenkampf. Obwohl ich damals in der FDJ bereits sehr aktiv war, sah ich viele seiner Argumente nicht ein und vertrat meinen Standpunkt so energisch, daß wir des öfteren in Streit gerieten. Den Faschismus wollte ich keinesfalls zurückhaben, aber an der neuen Ordnung gefiel mir auch manches nicht. So fragte ich beispielsweise: „Warum ist ausgerechnet der Kommunist Wilhelm Pieck unser Präsident geworden?“ „Die Kommunisten waren doch nie angesehen beim Volk, warum sind sie jetzt an der Regierung?“ „Warum versorgen uns die Russen nicht besser, bei den Amis klappt es doch?“ Manchmal müssen diese und ähnliche Fragen wohl ziemlich barsch geklungen haben. Aber Walter überhörte das und erklärte mir geduldig alle möglichen Hintergründe und Zusammenhänge. Wahrscheinlich hatte er auch daran „gedreht“, daß ich von der FDJ-Leitung unseres Betriebes im Juli 1950 zu einem zweiwöchigen Lehrgang an die Bezirksjugendschule in Köckte delegiert wurde. Was ich hier hörte, war eine Fortsetzung und Vertiefung seiner Erläuterungen. Mir erschlossen sich ganz neue Welten. Ich lernte eifrig und konnte in den Seminaren manche Fragen klären, die ich vorher nicht verstanden hatte. Abends halfen wir den Bauern in der Ernte. Dabei lernte ich auch den inzwischen legendären Traktoristen Bruno Kiesler kennen, den Initiator der Aktivistenbewegung auf dem Lande. Er koppelte gleichzeitig mehrere landwirtschaftliche Geräte an einen sowjetischen Traktor und bearbeitete den Acker in einem Arbeitsgang.

Als ich danach wieder in den Betrieb kam, bat ich um Aufnahme in die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands. Bis heute bin ich stolz auf diesen freiwilligen Schritt und bereue ihn keineswegs. Während meiner einjährigen Kandidatenzeit arbeitete ich weiter in der FDJ-Gruppe des Betriebes, war aber außerdem als ehrenamtlicher Vertreter der FDJ im Demokratischen Block des Wohnbezirks tätig. So nannte sich ein Gremium aller Parteien, der Gewerkschaft und der FDJ. Unser Vorsitzender war Genosse S., Inhaber eines kleinen Milchgeschäftes. In unseren Sitzungen berieten wir alle Belange des Wohnbezirks - beispielsweise die Verbesserung der Wohnverhältnisse sowie die Vorbereitung der ersten Volkswahlen am 15. Oktober 1950.

Da das Wahlalter in der DDR auf Verlangen aller fortschrittlichen Kräfte, darunter der FDJ, von 21 auf 18 Jahre heruntergesetzt worden war, durfte ich an diesem Tag erstmalig wählen. An die Vorbereitung der Wahlen erinnere ich mich gut. Wir stellten Agitationsgruppen zusammen und suchten die einzelnen Haushalte auf. Besonders richtig war uns dabei die Erläuterung, weshalb eine gemeinsame Kandidatenliste aller Parteien aufgestellt wurde. Unsere Argumente fanden zwar nicht überall Anerkennung, aber bei den meisten doch. Darüber hinaus brachten die Leute natürlich auch allerhand eigener Probleme zur Sprache, um die wir uns danach zu kümmern versuchten. Diese offene, persönliche Diskussion machte mir viel Spaß. Wir hätten sie auch in späteren Jahren fortführen sollen, anstatt uns im wesentlichen auf die Presse zu verlasen.

Am Wahltag war ich dann zur Anleitung der FDJ-Wohngruppe Birkenfeld eingesetzt. Zur Unterstützung des Wahlausschusses begleiteten wir Fahrzeuge, die mit der fliegenden Wahlurne zu Kranken und Gebrechlichen unterwegs waren. Ältere oder behinderte Menschen, die unbedingt selbst ins Wahllokal gehen wollten, wurden von uns aus der Wohnung abgeholt und auch wieder zurückgebracht. Am Nachmittag suchten wir einige Personen auf, die noch nicht zur Wahl gegangen waren und versuchten, sie durch ein Gespräch doch noch dazu zu bewegen. Höhepunkt des Tages wurde dann die öffentliche Auszählung der Stimmen, und das gute Wahlergebnis war unsere schönste Belohnung.

Nach Besuch eines vierwöchigen Gewerkschaftslehrganges wurde ich im gleichen Jahr Vertrauensmann einer im Mühlenbau eingesetzten Elektrikerbrigade. Das war innerhalb des Krupp-Gruson-Werkes ein großer Betrieb, in dem hauptsächlich Zementmühlen hergestellt wurden. Unser Brigadeleiter war Ingenieur und ehemaliger Inhaber eines privaten Elektrobetriebes, den man enteignet hatte. Er achtete zwar auf Distanz, war als Fachmann jedoch große Klasse. Darüber hinaus bewunderte ich seine Standhaftigkeit gegenüber elektrischem Strom. Um eine 220-Volt-Leitung auf Stromführung zu prüfen, feuchtete er einfach seine Finger an und hielt sie an die Kontakte bzw. Drähte. Ohne das Fingeranfeuchten spürte er überhaupt nichts mehr. Dagegen hätte mich der Umgang mit einer Betriebsspannung von 500 Volt zweimal fast das Leben gekostet.

Das erste Mal geriet ich beim Herausdrehen einer Sicherung in das Messing-Innenteil des Stöpselkopfes. Ich versuchte loszukommen, blieb aber kleben und begann am ganzen Körper zu zittern. Einer meiner Elektrikerkollegen stand zwar unmittelbar daneben, lachte aber nur. Erst ein Dreher begriff die Situation und sprang zum Hauptschalter. Als er ihn umlegte, kam ich sofort los, haute meinem Kollegen eine runter -und fiel um. Danach wurde ich natürlich zur Untersuchung in die Betriebspoliklinik gefahren. Aber ich hatte keinen Schaden genommen. Unser Brigadier wertete den Vorfall sofort aus und belehrte uns erneut über den Umgang mit elektrischem Strom.

Trotzdem wollte ich beim nächsten Mal in aller Eile einen unter Strom stehenden Kupplungskontakt aufschrauben. Als mein Zeigefinger dabei versehentlich das Metall des Schraubenziehers berührte, bekam ich einen mächtigen Schlag, flog fast 8 m weit und lag dann auf dem Boden. Glücklicherweise war die Sicherung durchgebrannt, sonst hätte es schlimm enden können. Gemerkt hatte diesmal niemand etwas, und das große Loch im Finger überklebte ich mit einem Pflaster. Allerdings kaufte ich mir danach nicht nur einen isolierten Schraubenzieher, sondern wurde insgesamt vorsichtiger.

Trotz Arbeit und gesellschaftlicher Tätigkeit kam auch die Freizeit nicht zu kurz. Mit einem guten Freund besuchte ich Kino- und Theatervorstellungen oder manchmal auch eine Gaststätte. Wenn wir nette Mädels fanden, unternahmen wir auch zu viert etwas und gingen gemeinsam schwimmen oder tanzen.

Außerdem las ich sehr viel, z. B. „Wie der Stahl gehärtet wurde“ (Ostrowski), „Die junge Garde“ (Fadejew), „Die erste Reihe“ (Hermlin), „Der Weg ins Leben“ (Makarenko) und anderes. Da ich im Bett las, schlief ich oft über meiner Lektüre ein, ließ das Licht brennen und bekam deshalb am nächsten Morgen großen Ärger mit meiner Mutter.

Im Juli 1951 wurde ich zu einem vierwöchigen Lehrgang der Betriebsparteischule delegiert. Bemerkenswert daran war vor allem, daß wir uns nicht nur mit der Theorie befaßten, sondern in die Betriebe gingen und mit den Arbeitern sprachen. Was uns in den Diskussionen entgegengehalten wurde, werteten wir in den Seminaren aus und gaben Beschwerden oder Hinweise zur Verbesserung der Arbeit an die zentrale Parteileitung weiter. So tauchte immer wieder die Frage auf, warum unser Werkleiter - Genosse unserer Partei und ehemaliger Arbeiter - unbedingt jeden Morgen mit dem PKW von zu Hause abgeholt werden mußte. Die Lage war damals so, daß wir sehr wenig betriebseigene Fahrzeuge und noch weniger Sprit hatten. Deshalb diskutierten wir diese Frage auch innerhalb des Lehrgangs sehr heftig. Eines Tages kam dann der Werkleiter selbst zu uns, um seinen Standpunkt zu begründen. Aber wir konnten ihn mit unseren Argumenten wohl doch überzeugen, denn danach verzichtete er innerhalb der Stadt weitgehend auf die Benutzung des Fahrzeuges, und die Arbeiter im Werk waren mit diesem Ergebnis zufrieden.

Nach dem Unterricht an der Betriebsparteischule besuchte ich allabendlich einen Lehrgang für Sanitäter, da wir bei den III. Weltfestspielen der Jugend und Studenten in Berlin (August 1951) eingesetzt werden sollten. Sie waren dann auch für mich ein gewaltiges Erlebnis. Natürlich wurden wir manchmal als Sanitäter gebraucht, aber das Wichtigste blieb: Wo man auch hinkam, überall Freundschaft, Freude und Lachen.

Alle waren wir eine große Familie. Ein herrliches Bild war es, wenn auf dem Alexanderplatz ein großer Kreis gebildet wurde. Arm in Arm Chinesen, Koreaner, Franzosen, Afrikaner, Amerikaner, Komsomolzen, Spanier, Jugendfreunde aus der BRD und FDJler. Mit unbeschreiblicher Begeisterung erlebte ich inmitten vieler Zehntausende den Auftritt des Alexandrow-Ensembles auf dem Marx-Engels-Platz. Wir standen so dichtgedrängt, daß kein Apfel mehr zur Erde fallen konnte. Das Festivallied „Im August, im August blüh’n die Rosen ...“ war wohl das meistgesungene Lied, und bald konnten alle Ausländer es auf Deutsch singen. Dann kam die Abschlussfeier am 19. August auf dem Marx-Engels-Platz. Die Stimmung war toll. Mit großem Beifall wurden die einzelnen Delegationen und Persönlichkeiten wie Max Reimann (inzwischen wieder aus der Haft entlassen), der Präsident des Weltbundes der Demokratischen Jugend, Enrico Berlinguer, die französische Friedenskämpferin Raymonde Dien (sie hatte sich während des verbrecherischen französischen Indochinakrieges auf einem Bahngleis anketten lassen, um einen Waffentransport aufzuhalten) sowie unser Arbeiterpräsident Wilhelm Pieck begrüßt.

 Quelle: Privatarchiv U. Münch

Raymonde Dien während der III. Weltfestspiele der Jugend und Studenten Berlin, August 1951

 Zum Abschluß der Kundgebung zogen wir gemeinsam mit unseren Gästen aus aller Welt das Fazit dieser herrlichen Tage, bei dem manchem von uns Tränen in den Augen standen:

„Wir kehren in unsere Heimat zurück voller Begeisterung bei dem Gedanken an diese unvergeßlichen Tage der Weltfestspiele, die Tage aufrichtiger Freundschaft und des gemeinsamen Verstehens gewesen sind. Wir kehren zurück, sicherer denn je zuvor, daß die Kräfte des Friedens den Sieg davontragen werden.“

Eigentlich wollte ich danach endlich wieder meiner beruflichen Arbeit nachgehen, aber die FDJ-Kreisleitung hatte anderes mit mir vor und „überzeugte“ mich davon, Leiter eines zweiwöchigen Lehrgangs für die Zirkelleiter des FDJ-Studienjahres zu werden. Eigentlich war ich im Hinblick auf meine Eignung ziemlich skeptisch, doch danach klappte alles - mit allerhand Improvisation, aber auch guter Unterstützung durch erfahrene Genossen Lektoren - recht gut.

Eine Woche war ich im Betrieb, als ich zur BGL gerufen und gebeten wurde, künftig als Assistent des Schulleiters an der Betriebsgewerkschaftsschule zu arbeiten. Erneut hatte ich allerhand Bedenken - und sagte schließlich trotzdem zu. Um es kurz zu machen: Es zeigte sich bald, daß diese Aufgabe damals doch noch eine Nummer zu groß für mich war. Bei den FDJ-Zirkelleitern hatte es sich ausnahmslos um junge und relativ unerfahrene Jugendfreunde gehandelt, während ich es nun auch mit älteren Gewerkschaftern zu tun bekam, die teilweise in führenden Funktionen arbeiteten oder sogar Wissenschaftler waren. Sie konnten mir in vielerlei Hinsicht mehr geben, als ich ihnen. Natürlich strengte ich mich an und entwickelte mich auch mit den neuen Aufgaben. Aber die Vorbereitung der eigenen Lektionen und Seminare kostete unheimlich viel Kraft. Hinzu kam, daß uns nur eine uralte Mignon-Schreibmaschine zur Verfügung stand, bei der jedesmal der Zeiger auf den einzelnen Buchstaben geführt und danach die Schreibtaste gedrückt werden mußte. Ihr Erfinder hat bestimmt niemals Lektionen schreiben müssen. (Heute wird diese Maschine sehr hoch gehandelt, denn es gibt davon nur noch wenige Exemplare.)

Obwohl ich im Dezember 1951 auf meinen Wunsch von der Aufgabe des Schulleiter-Assistenten entbunden wurde, konnte ich während dieser Tätigkeit wertvolle Kenntnisse und Erfahrungen sammeln. Denn wir gewannen hervorragende Gastlektoren, darunter beispielsweise zwei ehemalige Krupp-Gruson-Werker, die inzwischen Dozenten der Martin-Luther-Universität Halle und noch eng mit der Arbeiterklasse verbunden waren. Einer von ihnen sagte sinngemäß: Die Arbeiterklasse, der einzelne Arbeiter, müsse bestrebt sein, die Intelligenz auf dem Parkett einzuholen. Damit meinte er, daß sich auch die Arbeiter auf dem Weg zum Sozialismus weiterentwickeln, d. h. entsprechendes Wissen und gute Umgangsformen aneignen müssen, um den Abstand zwischen Arbeiterklasse und Intelligenz möglichst klein zu halten. Diese Überlegung beeindruckte mich damals sehr und war mir auch später stets ein Ansporn.

In den Seminaren gab es oft harte Diskussionen zwischen Arbeitern und Intelligenzlern. Keiner nahm ein Blatt vor den Mund. Andererseits wurde manchmal eine Kluft zwischen Theorie und Praxis sichtbar: Mancher äußerte sich mit großer Klappe über den „kommunistischen Menschen“, war aber in der Freizeit oder in der praktischen Arbeit ein Versager, wenn nicht sogar Schlimmeres. Das traf beispielsweise auf einen älteren Diplomingenieur mit sehr guten Kenntnissen des Marxismus-Leninismus und vielen positiven Argumenten zu. Einige Monate später wurde er als Spion entlarvt. Er hatte wichtige Produktionsunterlagen fotografiert und nach dem Westen geschleust. In der Hauptverwaltung unseres Werkes gab es damals auch noch andere ältere Angestellte, die sogar ziemlich offen früheren Zeiten nachtrauerten, dementsprechend argumentierten und arbeiteten. Wir sagten, daß ein Teil von ihnen sicher noch das Krupp-Bild im Schreibtisch liegen hatte.

Inzwischen hatte ich die Erfahrung gemacht, daß es kaum eine Chance gab, der Politik zu entrinnen, wenn man einmal in ihre Fänge geraten war. Denn es wurden an allen möglichen Stellen dringend geeignete Kader gebraucht. Zunächst übernahm ich die Funktion des hauptamtlichen Org.-Leiters der FDJ-Grundorganisation. Unser Arbeitsstil war damals: nicht so viel am Schreibtisch, sondern runter in die FDJ-Gruppen der einzelnen Betriebe. Da tauchten wir auch schon mal in der Nachtschicht auf und unterhielten uns mit den Jugendlichen über ihre Probleme. Deren gab es genug und wir versuchten vieles zu klären. Vor allem aber mußten wir der Jugend auch kulturell etwas bieten. Das war schon allein deshalb wichtig, weil wir sie vor dem zunehmenden Einfluß der westlichen Kultur oder Unkultur, wie wir das nannten, bewahren wollten. Diese war damals stark am Hasselbachplatz vertreten, und zwar in Gestalt von Jugendlichen mit knöchellangen Hosen, Ringelstrümpfen, Halbschuhen mit „Specksohlen“ und knalligen Schlipsen. Das Aussehen war aber nur die eine Seite, ihr Verhalten die andere. Vorübergehende FDJler, jedoch auch andere „normale“ Jugendliche wurden von diesen Grüppchen angepöbelt, und es kam zu Schlägereien, sooft einer auf die Provokationen reagierte. Wir stellten sogar Agitationsgruppen zusammen, die mit diesen jungen Leuten zu sprechen versuchten - einfach, um die Ruhe wieder herzustellen. Der Erfolg war aber nicht sehr überzeugend.

Also organisierten wir als FDJ-Grundorganisation für den ersten Weihnachtsfeiertag 1951 einen großen bunten Abend mit Tanz und vielen Attraktionen im neuerbauten Kulturhaus „Ernst Thälmann“. Es wurde eine gelungene Veranstaltung. Die Stimmung war hervorragend, Zwischenfälle ereigneten sich nicht, und wir waren sehr zufrieden. Allerdings tauchte dann gegen 23 Uhr plötzlich unser Werkleiter auf. Die Kapelle spielte einen Tusch und verschaffte seinem Anliegen Gehör: Das Werk habe bis Jahresende noch eine große Anzahl fertiger Maschinen zu exportieren, aber Versandabteilung und Packerei kämen einfach nicht nach. Er bitte darum, daß sich einige der anwesenden Jugendfreunde bereit erklären, noch in derselben Nacht eine Zusatzschicht durchzuführen. Wir FDJ-Funktionäre steckten kurz die Köpfe zusammen und meldeten uns zuerst, nach uns kamen dann auch andere - wieviel, weiß ich heute nicht mehr. Im Werk erhielten wir erst mal Arbeitskleidung - wir waren ja in unseren besten Sachen zum Tanz gegangen - und schufteten danach gemeinsam bis morgens 8 Uhr. Ich hatte einen Kran zu fahren und mußte vor allem höllisch aufpassen, daß ich munter blieb. Immerhin bekam danach jeder 30 Mark, was damals viel Geld war (ich verdiente ca. 250 Mark netto im Monat). Außerdem wurden wir während der Nacht mit Schnitten und Getränken bestens versorgt.

Einen sehr guten Eindruck hinterließ bei mir der Werksbesuch des Schriftstellers Kurt Barthel (Kuba). Er war ein Arbeiter geblieben. Die Veranstaltung mit einer Lesung aus seinen Werken war gut besucht. Später saß die FDJ-Leitung noch in gemütlicher Runde mit ihm zusammen. Dem Antialkoholiker Kuba zuliebe tranken wir an diesem Abend alle nur Brause. Er konnte recht lustig sein, und so endete dieser Tag sehr harmonisch.

Das Interesse am Besuch kultureller Veranstaltungen war damals allgemein groß. In den Mittagspausen traten oft Ensembles der Städtischen Bühnen Magdeburg auf dem Platz vor Betrieb 3 auf und zeigten Ausschnitte aus Schauspielen oder Dramen.

Inzwischen ging man dazu über, gute Produktionserfahrungen zu verallgemeinern. Dabei spielten die Erfahrungen sowjetischer Arbeiter eine große Rolle. Adolf Hennecke hatte sich bei seiner bahnbrechenden Aktivistenleistung den sowjetischen Bergmann Stachanow zum Vorbild genommen. Eine ähnliche Bedeutung besaßen die Leistungen des sowjetischen Spitzendrehers Pawel Bykow, der gemeinsam mit dem DDR-Drehermeister Erich Wirth in unseren Betrieb kam, um seine Schnellzerspanungsmethode vorzuführen. Allerdings hatten besonders ältere Kollegen keine gute Meinung von ihr. Pawel Bykow erläuterte ihnen dann im Kultursaal seine Arbeitsweise auch theoretisch. Er machte einen ruhigen, freundlichen und ehrlichen Eindruck. Man sah, er wollte gute Erfahrungen vermitteln, aber nicht schulmeistern.

Im Frühjahr 1952 verließ ich das ehemalige Krupp-Gruson-Werk, das damals bereits seit einem Jahr den Ehrennamen „Schwermaschinenbau Ernst Thälmann“ trug. Ich hatte einen Entschluß gefaßt, der mein Leben veränderte und begann am 15. April 1952 in Halle meine Ausbildung im Wachbataillon des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. 

                                                                                           Günter Klein 


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