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Das neue Leben muß anders werden ...1

 Im Jahre 1946 traf ich - sechzehnjährig, hungrig, ohne Geld und Beruf und nur mit dem, was ich am Leibe hatte bzw. tragen konnte, - in Magdeburg ein. Nach dem schrecklichen Krieg träumte ich wie viele junge Menschen davon, eine neue, friedliche Heimat zu finden. Und mein größter Wunsch war, möglichst schnell Arbeit zu bekommen und einen Beruf zu erlernen.

Mit den ersten Schritten vom Magdeburger Hauptbahnhof ins Stadtzentrum wurde mir erst richtig bewußt, was uns die zwölfjährige Naziherrschaft und der durch sie ausgelöste II. Weltkrieg hinterlassen hatten. So weit man blicken konnte - ob nach rechts oder links bis zur Elbe - glich die Stadt einem Trümmerhaufen. Der Dom und die Kirchen waren schwer beschädigt. Das Stadttheater und einzelne Barockhäuser, von denen meistens nur noch Teile der Außenwände standen, ragten mahnend aus den Trümmern. Bei diesem Anblick konnte man nur ahnen, welches Inferno hier am 16. Januar 1945 geherrscht hatte, als die Industrie- und Kulturstadt Magdeburg mit der schönsten Barockstraße Europas, dem Breiten Weg, noch kurz vor Kriegsende durch angloamerikanische Bomberverbände sinnlos zerstört worden war. Sechzehntausend Menschen hatten damals den Tod gefunden, zweihunderttausend Einwohner ihr Obdach verloren. Schulen, Kinos, Krankenhäuser, Geschäfte, Kirchen, Betriebe, Hotels und viele kulturhistorische Gebäude lagen danach in Trümmern.

Trotz dieses schrecklichen Erbes spürte ich jedoch in den nächsten Tagen, daß die Stadt irgendwie wieder lebte. Zumindest die Hauptstraßen waren befahrbar, die Bürgersteige teilweise von Trümmern geräumt, und auch einige Straßenbahnen fuhren bereits. Auf Feldbahnschienen beförderte eine kleine Dampflok mit Kipploren den Schutt aus dem Stadtzentrum hinaus. Beladen wurden die Züge durch fleißige „Trümmerfrauen“. Heilgebliebene Mauersteine putzten sie sorgfältig ab, damit sie für den Wiederaufbau genutzt werden konnten. Männer sah man bei dieser Arbeit kaum, denn viele waren gefallen oder noch in Kriegsgefangenschaft. Andere hatte man zur Demontage früherer Rüstungsbetriebe dienstverpflichtet. Aber natürlich mußte auch die Friedenswirtschaft wieder in Gang gebracht werden, insbesondere die Versorgungsbetriebe. In dieser Stadt wurde jede Hand gebraucht.

Meine Lage schien trostlos, aber sie wäre es damals überall gewesen. Unsere fünfköpfige Familie hatte in einem deutschsprachigen Gebiet zwischen Prag und Brunn gelebt. Da die Einnahmen aus Vaters Schneiderwerkstatt für den Unterhalt nicht ausreichten, verdiente Mutter als Landarbeiterin etwas hinzu. Außerdem kümmerte sie sich um unsere kleine Landwirtschaft, die aus 3 ha Land und jeweils zwei Kühen, Ziegen und Schweinen bestand. Wir drei Kinder mußten frühzeitig mithelfen und auch auf anderen Höfen arbeiten, vor allem wenn Gespannleistungen der Bauern ausgeglichen werden mußten. Geld war knapp, also half man sich gegenseitig.

In unserem streng katholischen Dorf hatten Deutsche und Tschechen bis zur Besetzung des benachbarten Sudetenlandes und Vertreibung der dortigen tschechischen Bevölkerung im Jahre 1938 friedlich zusammengelebt. Erst danach begannen sich Mißtrauen und Haß uns Deutschen gegenüber zu entwickeln. Als die deutsche Wehrmacht am 15. März 1939 mit Böhmen und Mähren unser Gebiet ebenfalls annektierte, mißhandelten Hitleranhänger auch viele Tschechen, Kommunisten und Juden aus der Gegend. Später erlebte ich selbst, wie unser Dorfschullehrer - er hieß Königsbauer und war Jude - geschlagen und abtransportiert wurde. Als Handwerker hatte sich mein Vater bislang aus der Politik herausgehalten und auch beim Einmarsch der deutschen Truppen weder die Hakenkreuzfahne hinausgehängt, noch sein zweisprachiges Firmenschild beseitigt. Nun wurde er unter Schlägen gezwungen, es abzunehmen und danach offiziell boykottiert. Nur einige gute Bekannte kamen noch im Dunkeln und ließen etwas nähen. Aber das reichte nicht, und mein Vater mußte die Schneiderwerkstatt schließen. Bis zu seiner Einberufung hatte er danach u. a. als Heizer gearbeitet und mit innerem Groll miterlebt, wie seine beiden Jungen zwangsweise von der „Hitlerjugend“ vereinnahmt wurden.

Im Jahr 1944 wurde unsere Schule geschlossen und in den Räumen ein Lazarett eingerichtet, während wir zu Schanzeinsätzen, Stellungsbau sowie militärischen Hilfsdiensten herangezogen wurden. Als der Krieg endlich zu Ende ging, lag Vater schwerkrank im Lazarett, und mein Bruder war in sowjetische Gefangenschaft geraten. Unsere ältere Schwester hatte schon vor Jahren nach außerhalb geheiratet.

Im Juni 1945 mußten Mutter und ich unser Häuschen binnen weniger Minuten verlassen. Wir wurden in ein Internierungslager und danach mit einigen anderen Deutschen in ein kleines tschechisches Dorf zur Zwangsarbeit gebracht. Dort hatten deutsche Soldaten noch am 6. Mai 1945 neunzehn Menschen, darunter auch Kinder, erschossen. Bei unserer Ankunft standen die Einwohner Spalier. Einige spuckten und schimpften, andere weinten. Danach kamen Mutter und ich auf einen Bauernhof, wo man Vater und Sohn getötet hatte. Der Junge war so alt wie ich gewesen. Wir mußten unentgeltlich schwer arbeiten und Schlimmes anhören. Aber man gab uns satt zu essen und manchmal sogar ein Kleidungsstück. Nach Meinung der Dorfbevölkerung hatten wir für immer zur Wiedergutmachung dazubleiben. Allerdings wurde unsere Gruppe vom Internationalen Roten Kreuz sowie Journalistenverbänden aufgespürt. Anschließend schob man uns in Güterwagen nach Deutschland ab. Nach vielen Irrfahrten - denn niemand wollte uns haben - schickte uns ein sowjetischer Bahnhofskommandant - es könnte in Altenburg gewesen sein - ins Magdeburger Quarantänelager. Später wurden wir in einem nahegelegenen Dorf untergebracht. Inzwischen war auch mein 17jähriger Bruder nach seiner Entlassung aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft auf vielen Umwegen zu uns gekommen.

Da es für mich am neuen Wohnort keine Arbeits- und damit Existenzmöglichkeit gab, hatte ich erneut mein schmales Bündel packen und wohl oder übel „schwarz“, d. h. ohne Fahrkarte, in die nächstgelegene größere Stadt fahren müssen.

Nun entschied ich mich, in Magdeburg zu bleiben und suchte die Arbeitsvermittlungsstelle in der Hegelstraße auf. Vor der Tür traf ich auf einen Arbeiter, der mir sein Leid klagte. Obwohl die Familie in Berlin wohne, sei er im Krupp-Gruson-Werk Magdeburg dienstverpflichtet. Er brauchte einen Ersatzmann, der seinen Platz einnahm und bot mir - mit Blick auf mein miserables Schuhwerk - dafür sogar seine Arbeitsschuhe an. Wir waren uns schnell einig und gingen zum zuständigen Arbeitsvermittler. Dieser - ein älterer Herr mit Zwicker auf der Nase - musterte uns ernst. Danach belehrte er mich, daß Krupp-Gruson ein Rüstungsbetrieb gewesen sei und deshalb unter sowjetischer Leitung stehe. Er halte es für möglich, daß das Werk demontiert oder samt Beschäftigten in die Sowjetunion verlegt werde.

Damals gab es täglich neue Gerüchte, aber wie manch anderer hatte ich bereits meine eigenen Erfahrungen mit den Vertretern der Sowjetmacht. Deshalb ließ ich mich nicht beirren, sagte zu und erhielt eine schriftliche Einweisung. Damit meldete ich mich in der betrieblichen Personalabteilung und wurde eingestellt. Der Berliner bekam seinen Entlassungsschein und konnte nach Hause fahren. Ich aber begann Anfang Oktober als Anlernling in der Zahnradfräserei zu arbeiten. Sie war in der am wenigsten zerstörten Halle untergebracht. Auf dem restlichen Werksgelände bot sich ein erschütterndes Bild: sämtliche Bauten völlig zerstört oder schwer beschädigt, fehlende Dächer, herabgestürzte Krane, in Bombentrichtern liegende Werkzeugmaschinen ...

Die Mehrzahl Arbeiter resignierte. Ihnen fehlte einfach der Mut zum Neuanfang. Die meisten hatten durch den Krieg alle Habe und manche auch die Heimat verloren. Wenige besaßen eine intakte Wohnung, viele gar keine. Dazu kamen Hunger und Mangel jeder Art. Kaum einer wußte, wie er seine Familie über den Winter bringen sollte. Schieber und Spekulanten nutzten die große Not der Menschen aus. Obwohl die junge Volkspolizei Razzien durchführte, behauptete sich hartnäckig der in der Bahnhofstraße entstandene Schwarzmarkt. Dort kosteten ein Brot oder eine Schachtel Zigaretten fast den Wochenlohn eines Arbeiters.

Wir wollten damals vor allem in Ruhe und Frieden arbeiten - für uns und sogar für die Wiedergutmachung - wollten satt werden und eine warme Wohnung haben. Und wir waren uns, ob jung oder alt, in einem Punkt absolut einig: Nie wieder Krieg, nie wieder Bombennächte! Einig waren wir uns aber auch darüber, daß die Krupp-Dynastie niemals wieder in Magdeburg herrschen durfte. Kein ehrlicher Arbeiter wünschte sich die kapitalistischen Verhältnisse zurück. Deshalb gab es nahezu einhellige Zustimmung zum Volksentscheid vom Juni 1946, wonach Kriegsverbrecher, Großgrundbesitzer und Naziaktivisten zu enteignen und die Schuldigen an all dem Elend zu bestrafen waren.

Die schwierige Lage des Betriebes und seiner Beschäftigten resultierte nicht nur aus unmittelbaren Kriegsschäden, sondern auch aus den Nachkriegspraktiken der westlichen Besatzungsmächte. Am 18. April 1945 hatten die US-Amerikaner Magdeburg besetzt. Sie zeigten danach keinerlei Interesse an der Wiederaufnahme der Produktion, sondern transportierten bei ihrem Abzug auf 40 - 50 LKW alles ab, was sie für wertvoll hielten: Technologien, Patentschriften, Zeichnungen, wichtige Geräte - und Spezialisten. Die nachrückenden Engländer handelten nicht anders. Als sie Ende Juni 1945 Magdeburg verlassen hatten, war alles noch Brauchbare samt Werkleitung sowie den meisten verbliebenen Spezialisten verschwunden.

Danach kamen die Russen, und viele Magdeburger erwarteten, daß sie nun den Rest des Werkes demontieren und wegbringen würden. Statt dessen wurde inzwischen auf der Grundlage einer Anordnung der SMAD - wie überall in der Sowjetischen Besatzungszone - auch bei Krupp-Gruson Magdeburg mit der Wiederingangsetzung der Produktion begonnen. Natürlich ging es der Sowjetunion dabei nicht nur um eine bessere Versorgung der deutschen Bevölkerung, sondern auch um das rasche Anlaufen der deutschen Wiedergutmachungsleistungen. Im Krupp-Gruson-Werk wurde eine sowjetische Leitung mit Genossen Laptschew als erstem Direktor eingesetzt. Parallel dazu baute man eine deutsche Werkleitung auf, an deren Spitze zunächst Felix Wolter stand.

Als erstes begannen wir unsere Werkhallen, so gut es ging, zu reparieren und gleichzeitig die Maschinen aus den Trümmern, Kellern oder Bunkern zu bergen, aufzustellen und einsatzfähig zu machen. Dabei halfen uns auch Soldaten der Sowjetarmee mit ihrer Militärtechnik. Da die Hallendächer fehlten, konnten viele Maschinen zunächst nur provisorisch vor Nässe geschützt werden. Wie inzwischen überall im Lande, engagierten sich auch im Krupp-Gruson-Werk Magdeburg vor allem junge Menschen - darunter zahlreiche FDJler - am meisten für den Wiederaufbau. So bargen Jugendliche an einem einzigen Sonntag freiwillig mehr als zwanzig Elektromotoren aus den Trümmern und brachten sie danach sogar wieder zum Laufen. Ich beteiligte mich später an der Bergung von Wälzfräsern und Werkzeugen, die wir für unsere Fräserei brauchten. Auch diese freiwilligen Einsätze wurden meist außerhalb der Arbeitszeit durchgeführt.

Gleichzeitig war jedoch vor allem von ehrenamtlichen Gewerkschaftern, SED-Mitgliedern und FDJ-Funktionären eine andere Schwerstarbeit zu leisten. Sie kümmerten sich nicht nur um die vielen Sorgen und Nöte der Kollegen, sondern setzten sich in geduldigen Aussprachen oder hitzigen Streitgesprächen mit den in manchem Kopf zurückgebliebenen geistigen Trümmern auseinander. Denn noch sahen viele Menschen die Ursache ihrer miserablen Lage nicht in Faschismus und Krieg, sondern machten die sowjetische Besatzungsmacht dafür verantwortlich. Und kaum einer konnte sich vorstellen, wie wir uns aus der ganzen Misere durch eigene Anstrengung würden befreien können.

Es ist keineswegs eine Phrase, daß auch viele von uns Parteilosen eben deshalb hoffnungsvoll auf die im Frühjahr 1946 erfolgte Vereinigung von KPD und SPD schauten.

Die meisten Beschäftigten des Krupp-Gruson-Werkes waren SPD-orientiert oder sogar SPD-Mitglieder gewesen. Doch inzwischen arbeitete die Mehrzahl tatkräftig mit den Kommunisten zusammen. Wir fanden das gut, denn die Arbeiterklasse mußte zusammenhalten, einheitlich handeln und die Führung übernehmen. In der geeinten Arbeiterpartei sahen wir die Kraft, die mit uns eine neue, bessere Gesellschaft aufbauen und die Zukunft meistern würde.

Aber zunächst wurde es - trotz aller Zerstörungen, Sorgen, Mängel und vieler Pessimisten - mit vereinten Kräften geschafft, die Produktion im Krupp-Gruson-Werk Magdeburg wieder in Gang zu bringen. Anfangs stellte der Betrieb Kochtöpfe, Äxte, Schaufeln und Hacken her. Dann kamen Reparaturaufträge für Eisenbahn, Schiffahrt und Straßenbahnen sowie für die Braunkohlenindustrie, insbesondere einige Brikettfabriken. Doch die Krupp-Gruson-Werker halfen ebenso, Lebensmittelbetriebe - beispielsweise Margarinefabriken oder Öl- und Getreidemühlen - wieder in Gang zu setzen. Die Neubauern brauchten Gespannwagen, die wir später in Serie zu produzieren begannen.

Meist nach Feierabend fertigten wir darüber hinaus aus den überall herumliegenden gummierten Panzerlaufrädern Handwagenräder, Schuhsohlen und sogar provisorische Fahrradbereifungen an. Wir stellten auch kleine Ölpressen zum Auspressen der „gestoppelten“ Ölsaaten, Tabakschneidemaschinen zur Aufbereitung des selbstangebauten Tabaks, Gartengeräte, Schlüssel usw. her. Ja, sogar Löffel wurden gegossen, denn wir konnten im Betrieb inzwischen gegen Abgabe von Lebensmittelmarken eine warme Mahlzeit einnehmen - wenn es anfangs auch nur eine Suppe war. Den Löffel trugen die meisten damals ständig bei sich. Diese kleine „Konsumgüterproduktion“ war allerdings kein offizielles Betriebsprogramm, sondern diente der Befriedigung unserer eigenen Bedürfnisse bzw. dem Eintauschen von Lebensmitteln. Da all die nützlichen Dinge aus nichtverwertbarem Material bzw. Abfällen hergestellt wurden, duldeten die Vorgesetzten unsere „Schwarzarbeit“ in der Regel (zumal sie dabei auch nicht ganz leer ausgingen). Aber alles bewegte sich in überschaubarem Rahmen, und ehrlich geteilt wurde auch.

So richtig in Gang kam der Betrieb mit einem Auftrag der SMAD, fünfzehn komplette Zementanlagen an die Sowjetunion zu liefern. Mit ihm wurde gewissermaßen das Ernst-Thälmann-Werk geboren, denn er gab eine klare Perspektive und beeinflußte die Entwicklung unseres Produktionsprofils entscheidend. Wir bauten die ersten Brecher, Brech- und Klassieranlagen zur Schotter- und Baustoffherstellung, Hammermühlen, Aufbereitungsanlagen usw. Gleichzeitig entwickelten sich solche Bereiche wie Konstruktion, Technologie, Modelltischlereien, Gießereien, die Schmiede sowie das Transport- und Lagerwesen. Der Winter 1946/1947 war allerdings ebenso hart wie lang und brachte manchen Rückschlag. Um die Maschinen einsatzfähig zu halten, stellten wir Koks- und Kohlekübel in den Hallen auf. Das Öl in den Werkzeugmaschinen durfte nicht erstarren und auch das Wasser zur Kühlung der Werkzeuge nicht einfrieren.

Ich hatte das Glück, mit erfahrenen Facharbeitern, Gewerkschaftern und Genossen zusammenzuarbeiten. In dieser Zeit wurden mir nicht nur praktisches Wissen und allerlei Kniffe vermittelt, sondern auch in meinem Kopf einiges geradegerückt und mancher Rat fürs Leben gegeben. Denn die Auseinandersetzung mit der verhängnisvollen deutschen Geschichte blieb Gegenstand unermüdlicher Diskussionen, und auch ich mußte erst noch manche Einsicht gewinnen. Meine persönliche Wende im politischen Denken ist durch den zum Jahresbeginn 1947 erfolgten Eintritt in den FDGB markiert. Danach boten die älteren Kollegen mir das „Du“ an und bemühten sich noch mehr um meine fachliche Entwicklung. Sie vertraten den Standpunkt, daß ein ordentlicher Arbeiter in die Gewerkschaft gehöre. Als etwa zu gleicher Zeit der Abschluß aller Demontagen bekanntgegeben wurde, löste das in unserem Arbeitskollektiv große Zustimmung aus, und auch die Haltung anderer Arbeiter begann sich spürbar zu ändern. Denn vor allem die Älteren hatten die Geißel der Arbeitslosigkeit meist schon am eigenen Leibe verspürt, und ihre Sorge um den Arbeitsplatz war tief verwurzelt.

Ich erinnere mich gut, wie intensiv die westlichen Sender damals täglich auf uns eintrommelten. Ihr Hauptstoß richtete sich gegen Funktionäre der SED, der Gewerkschaften und des Jugendverbandes sowie fortschrittliche Arbeiter. Doch unsere Vorgesetzten und Funktionäre brauchte uns kein Außenstehender charakterisieren. Sie waren nicht nur aus unseren Kollektiven hervorgegangen, sondern arbeiteten und lebten auch mit uns. Selbstverständlich machten sie aber manchmal Fehler, und bei einigen mußten sich die notwendigen menschlichen und fachlichen Qualitäten erst herausbilden. Hinzu kam, daß wir in einem SAG-Betrieb arbeiteten und direkt der Besatzungsmacht unterstanden, die das meiste durch Befehle und Verordnungen regelte.

Nach Auslieferung der ersten Maschinen erhielten wir als Anerkennung für unsere Arbeit aller zehn Tage zusätzlich zu den Lebensmittelkarten ein halbes Brot und zehn Zigaretten. Die Besten, aber auch besonders Bedürftige, bekamen darüber hinaus Kleidungsstücke, Wäsche oder Schuhe. Ich hatte besonderen Grund zur Freude. Zunächst beglückte man mich mit einer Garnitur Unterwäsche sowie ein paar Leinwandschuhen. Während der Ausgabe hatte ich den Eindruck, daß mich ein leitender sowjetischer Ingenieur beobachtete. Offenbar machte ich auf ihn einen besonders elenden Eindruck. Kein Wunder, denn inzwischen war ich aus meinen Sachen herausgewachsen und besaß außerdem praktisch keine getrennte Arbeits- und Zivilkleidung. Trotzdem war ich überrascht, als er mich einige Tage danach rufen ließ und mir einen Schein aushändigte, für den ich im Bekleidungsmagazin eine schwarzgefärbte Rotarmistenuniform erhielt. So kam ich zu meinem ersten Arbeitsanzug, den ich danach lange und besonders im Winter getragen habe.

Derartige Zuwendungen führten bei uns durchaus zum besseren Verständnis der Losung „Erst mehr arbeiten, dann besser leben“. Man spürte, daß sich persönliche Anstrengungen für jeden lohnten, und allmählich entwickelte sich auch ein gewisses Verantwortungsgefühl für die Qualität unserer Erzeugnisse. Allerdings konnten die steigenden Anforderungen an diese oft auch aus objektiven Gründen nicht erfüllt werden. Denn uns fehlten Werkzeuge, Meßmittel und Ersatzteile. Die traditionellen Herstellerbetriebe lagen meist in den Westzonen, von deren Politikern bereits damals viele wichtige Lieferungen in die Ostzone verboten bzw. behindert wurden. Oder es gab nicht genügend Geld, um sie zu bezahlen. Vieles hat dann die sowjetische Leitung auf unterschiedlichsten Wegen beschafft. Später kamen erste Sendungen aus Thüringen, wo sich der Werkzeugbau rasch entwickelte. Aber das Entscheidende wurde durch den Aufbau der Werkzeugmacherei unseres Betriebes geleistet, für den viel Geld und Sachverstand nötig waren.2

Die Auswertung des II. Parteitag der SED vom September 1947 löste auch bei uns neue Initiativen aus. In den Kollektiven kam es zu ersten freiwilligen Normüberbietungen, und der Wettbewerb begann sich zu entwickeln. Von ebenso entscheidender Bedeutung war der Befehl 234 der SMAD. Er verordnete uns nicht nur eine warme Mahlzeit am Tag ohne Abgabe von Lebensmittelkarten, sondern ein umfangreiches Wirtschafts- und Sozialprogramm zur Steigerung der Produktion und Verbesserung unserer Lebenslage. Danach wurden im Betrieb einige wichtige Maßnahmen eingeleitet.

An erster Stelle stand ein großes Umschulungsprogramm. Arbeitskräfte und auch Arbeitsuchende gab es genug. Aber infolge des Krieges hatten viele keinen Berufsabschluß oder einen, der nicht gebraucht wurde. Außerdem mußte den Umsiedlern - zu denen auch ich zählte - eine sichere Perspektive gegeben werden. So wurde mir und vielen anderen, vor allem jungen Menschen, die Möglichkeit zur Facharbeiterausbildung eröffnet, die ich nach zwei Jahren als Dreher (mit der Note „Gut“) abschloß.

Ein weiterer Schritt waren Maßnahmen der Arbeitsorganisation, Planung und Normierung, die u. a. den Übergang zur „wirtschaftlichen Rechnungsführung“ ermöglichten. Dieser Prozeß wurde von der Leitung Schritt für Schritt, begleitet von vielen Aussprachen und Schulungen, gemeinsam mit uns Arbeitern in Angriff genommen. Veraltete Betriebsordnungen mußten außer Kraft gesetzt und neue eingeführt werden. Es begann der Kampf gegen Arbeitsbummelei und Vergehen am Volkseigentum.

Das alles war nicht einfach, denn viele meinten: „Der Russe nimmt uns doch sowieso alles weg.“ Außerdem wollte keiner von uns wie früher durch kapitalistische Normen, Verordnungen und Leitungsmethoden ausgebeutet werden. „Akkord ist Mord“, sagten vor allem ältere Kollegen, die schon für Krupp gearbeitet hatten und bei freiwilligen Normerhöhungen schnell mit den Schimpfworten „Normbrecher“ oder „Arbeiterverräter“ bei der Hand waren. Sie empfahlen, nicht mit den Vorgesetzten zusammenzuarbeiten und ihnen keine Facharbeiterkniffe zu verraten. Jeder müsse seine Arbeitskraft so teuer als möglich verkaufen. Fortschritte konnten nur durch geduldige Überzeugungsarbeit erreicht werden. Deshalb kamen die Technologen zu uns an die Maschinen. Wir trugen unsere Argumente vor, die Experten die ihren, und meistens wurden wir uns einig.

Die Ankündigung einer warmen Mahlzeit ohne Markenabgabe hatte zwar große Freude ausgelöst, aber die Verwirklichung war keine einfache Sache. Es fehlte an Küchenkräften, Räumen, Lagermöglichkeiten und anderen technischen Voraussetzungen. Die sowjetischen Freunde ließen jedoch nicht locker, bestellten Leiter, Gewerkschaftsfunktionäre und Arbeiter zu sich, um immer wieder die Notwendigkeit der Maßnahme zu erläutern. Uns Arbeiter brauchten sie davon wahrhaftig nicht überzeugen, denn wir hungerten und begrüßten diesen Teil des Befehls 234 nicht nur, sondern forderten seine rasche Realisierung. Um mehr zu leisten, brauchten und wollten wir mehr zu essen. Ein geflügeltes Wort war damals: „Ohne Verpflegung keine Bewegung“.

Die sowjetischen Freunde provozierten danach unsere deutsche Leitung, indem sie sagten: „Wenn ihr die Forderungen der Arbeiter nicht erfüllen könnt, müssen wir euch ablösen.“ Und so versetzte man schließlich in gemeinsamer Arbeit einige Berge und fand zunächst wenigstens provisorische Lösungen. Das Essen wurde mit Kübeln antransportiert und an einem selbstgezimmerten langen Tisch in der Produktionshalle unter den strengen Augen von Gewerkschaftsfunktionären und Arbeiterkontrolleuren in braunen Keramikschüsseln ausgegeben. Es bestand nur aus Suppe - abwechselnd Porree, Kohl, Erbsen, Teigwaren oder ähnlichem. Der Geschmack war meist der gleiche. Aber wir hatten Hunger, und deshalb schmeckte es uns. Gegessen wurde in der Regel direkt am Arbeitsplatz. Einige Meisterschaften hatten sich allerdings auch bereits provisorische Eßecken eingerichtet. In den darauffolgenden Jahren wurden dann die erforderlichen Küchenkapazitäten und Speiseräume geschaffen sowie entsprechendes Fachpersonal ausgebildet.

Weniger problematisch war die Versorgung mit heißem Tee, die vom ersten Tag an funktionierte. Er wurde zur Frühstücks- und Mittagszeit in Milchflaschen angeliefert (von denen jede zwei Pfennige kostete) und in dampfbeheizten Kästen warmgehalten.

Bald wurde dann auch in unseren Kollektiven die alte Gewerkschaftsforderung „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ verwirklicht und die bisherige Benachteiligung von Frauen, Jugendlichen und Behinderten beseitigt. Überhaupt dominierten in den Gewerkschaftsversammlungen inzwischen schon nicht mehr die Themen Essen und Wohnung, sondern wir diskutierten zunehmend andere Fragen - beispielsweise außer Arbeitsorganisation, Leitung und Normierung auch den Arbeitsschutz. Im Zusammenhang mit diesem erhielt ich die erste ehrenamtliche Funktion, als mich meine Kollegen zum Arbeitsschutzobmann unserer Meisterschaft wählten. Ich nahm danach vor allem Einfluß auf die Verbesserung des Arbeitsschutzes sowie der sozialen Bedingungen. Im Ergebnis der Zusammenarbeit aller Arbeitsschutzobleute mit der Betriebsgewerkschaftsleitung wurden unsere Wasch- und Umkleideräume in Ordnung gebracht, die ersten Hallenfenster verglast und die Heizung verbessert. Sämtliche Arbeitsplätze erhielten Lampen und jeder Kollege eine Glühbirne dazu, die er selbst verwahren mußte. (Denn auch schon in dieser Zeit gab es Menschen, die alles gebrauchen konnten.)

Ohne die energische Unterstützung der Betriebsleitung hätten wir allerdings wenig bewirken können. Aber damals hatte man für die Vorschläge der Arbeiter stets ein offenes Ohr. Jede Idee, jeder Vorschlag, jede Kritik wurden aufgegriffen. Die für Mißstände Verantwortlichen mußten unangenehme Folgen befürchten, und alles wurde öffentlich in Versammlungen besprochen. Provisorische Betriebszeitungen, Mitteilungsblätter oder Aushänge begleiteten diese Prozesse kritisch. Neu für uns war, daß wir offen unsere Meinung sagen und auch Vorgesetzte ohne nachteilige Folgen kritisieren durften. So mancher Leiter kam ins Schwitzen, wenn die Arbeitsorganisation nicht klappte oder andere Mängel auftraten.

Natürlich konnte nicht jeder Vorschlag verwirklicht werden, und es ging auch sonst nicht immer alles glatt, denn Kritik tut stets irgend jemandem weh. Aber nicht zuletzt dank dieser offenen Atmosphäre entwickelten sich ein reges Gewerkschaftsleben und die Anfänge der Neuererbewegung. Bald entstanden auch die ersten Jugendkollektive, und einige Zeit später wurde unter Leitung des Jungmeisters Fred Hohenstein sogar eine Jugendmeisterschaft gebildet. Sie produzierte die bereits erwähnten Gespannwagen für Neubauern.

Wir spürten, daß man uns ernst nahm und sich unsere Arbeit lohnte. Denn mit ihr verbesserten wir auch unsere eigenen Lebensverhältnisse Schritt für Schritt. Als besonderen Höhepunkt behielt ich die Gründung unserer aus mehreren Sektionen bestehenden Betriebssportgemeinschaft „Motor Mitte“ in Erinnerung. Bei der ersten Versammlung gab es für jeden ein belegtes Brötchen und Limonade.

Obwohl es also voranging, haben meine Kollegen und ich die Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 nicht gerade bejubelt. Denn bis dahin bestand ja noch Hoffnung, daß die Vernunft siegen und ein einheitliches, demokratisches, friedliches Deutschland aufgebaut würde. Initiativen dafür hatte es in Ost- und Westdeutschland genügend gegeben, und sie waren von der Sowjetunion durch zahlreiche diplomatische Aktivitäten unterstützt worden. Es hätte den Besatzungsmächten möglich sein müssen, auch für Deutschland eine Art „österreichische Lösung“ auszuhandeln. Nach meiner Auffassung war aber Bundeskanzler Dr. Adenauer entsprechend dem Motto „Lieber das halbe Deutschland ganz, als das ganze Deutschland halb“ damals der Hauptakteur bei der Spaltung.

DDR und Sowjetunion setzten ihre Bemühungen um die Einheit Deutschlands danach bekanntlich noch jahrelang fort. Ich habe selbst an zahlreichen Veranstaltungen teilgenommen, auf denen auch manches politische Lied unseren Protest gegen die Teilung Deutschlands zum Ausdruck brachte. So sangen wir beispielsweise: „Bonn, Bonn, Bonn am Rhein, für die Hauptstadt bist du viel zu klein ...“

Gleichzeitig mußten wir aber den Tatsachen ins Auge sehen, an unsere Zukunft denken und in unserem Teil Deutschlands mit der Nachkriegsgeschichte fertig werden. Letztendlich war die Gründung der DDR ein logischer Schritt, und im eigenen Interesse wollten wir ihre weitere Entwicklung und Festigung unterstützen. Schließlich konnten ja nicht alle weglaufen und Heimat und Eltern im Stich lassen. Aber wir machten uns natürlich trotzdem Gedanken über den Charakter des neuen Staates und vieles weitere: Was wird uns diese Republik bringen? Wird sie unser Staat sein? Wird sie ein friedlicher Staat sein? Und wie werden die beiden deutschen Regierungen miteinander umgehen?

Im Jahre 1949 hatte das damalige Krupp-Gruson-Werk bereits 7.500 Beschäftigte. Zunehmend nutzten vor allem wir Jungarbeiter nicht nur unsere Chancen bei der Mitgestaltung betrieblicher und gesellschaftlicher Prozesse, sondern auch die wachsenden Möglichkeiten zur sinnvollen Freizeitgestaltung. Ich erinnere mich an Jugendtanzveranstaltungen, vielseitige Zirkel und Interessengemeinschaften sowie Radtouren und andere Fahrten. Die Sektionen der Betriebssportgemeinschaft entwickelten sich gut. Es wurden Betriebs-, teilweise auch schon Stadtmeisterschaften durchgeführt, und unsere Wassersportler bauten sich mit großzügiger Unterstützung des Betriebes ein Boot.

Vor allem wir Jugendlichen begannen uns mit den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen zu identifizieren und wollten auch deshalb nicht länger unter den drei Ringen des ehemaligen Rüstungskonzerns Krupp produzieren. Deshalb starteten wir kurz nach Gründung der DDR unsere Initiative für ein neues Firmenzeichen. Wir wollten einen neuen Namen und ein neues Logo, das in der Welt von einem neuen, friedlichen Deutschland kündete. Wir dachten an ein bekanntes Goethe-Gedicht und entschielen uns, nicht Amboß, sondern Hammer zu sein.

Aber es gab viele Widerstände. Ältere Kollegen und auch einzelne Leiter meinten, daß die Qualität unserer Erzeugnisse ohne die Kruppschen Ringe auf dem Weltmarkt nicht als Markenware anerkannt werde. Selbst die sowjetischen Genossen waren zunächst skeptisch und wollten die Reparationslieferungen lieber mit dem alten Firmenzeichen. Aber dann war es endlich soweit. Am 30. April 1951 besuchte die Witwe Ernst Thälmanns unser Werk und verlieh ihm während einer Großkundgebung den Namen „Ernst-Thälmann-Werk Magdeburg“.

Allerdings war es wirklich nicht einfach, uns in Westdeutschland bzw. im Ausland durchzusetzen. Als wir den ersten Gießereikran in das Stahl- und Hüttenwerk Hattingen lieferten, mußten wir uns gegen eine starker Konkurrenz behaupten und mit sehr knappen Terminen zurechtkommen. Außerdem konfrontierte man uns mit außergewöhnlichen Qualitätsanforderungen, die in einer besonderen Prüfung nachzuweisen waren. Dabei mußte der Kran ohne Anstrich und unter höchster Belastung vorgeführt werden. Trotzdem ging bis zu diesem Punkt alles gut, aber das Drama kam mit der Übergabe. Als nämlich das Firmenschild „VEB Schwermaschinenbau ‚Ernst Thälmann’ Magdeburg-Buckau DDR“ angebracht wurde, erschienen einige Herren und forderten - angeblich auf Verlangen des Verfassungsschutzes - die Beseitigung. Unsere Monteure lehnten dies kategorisch ab, aber das Schild wurde gewaltsam entfernt. Am nächsten Tag brachten unsere Kollegen ein neues an und verschweißten es fest. Zu gleicher Zeit beriefen sich unsere offiziellen Vertreter auf jene Vertragsklausel, wonach ein Firmeneichen angebracht werden durfte. Da gaben sich die Gegner geschlagen, und seitdem kündete ein erstes Firmenschild des Thälmannwerkes auch in der westlichen Welt von er Existenz der DDR. Nach einem Jahrzehnt exportierten wir unsere Erzeugnisse bereits in 36 Länder.

Obwohl ich noch immer parteilos war, wurde die Auswertung der 2. Parteikonferenz der SED im Sommer 1952 für mich zu einem markanten Erlebnis. Was ich zunächst von ihr hörte, beeindruckte mich kaum. Allerdings war ich überrascht, als unsere in den Betrieb zurückgekehrten Delegierten die Beschlüsse in den Werkhallen und an den Arbeitsplätzen erläuterten. Zu mir an die Maschine kam unser Parteisekretär Gustav Höft, der vormals mit mir zusammen Dreher gelernt hatte. Für meinen Geschmack erzählte er zunächst sehr viel allgemeines von der „planmäßigen Schaffung der Grundlagen des Sozialismus“, einer „freien, demokratischen, sozialistischen Gesellschaft“, dem „freiwilligen Zusammenschluß der Bauern zu Genossenschaften mit dem Ziel einer schnelleren Entwicklung der Landwirtschaft“, der „effektiveren Arbeit des Staatsapparates“ sowie einer „erhöhten Rolle der gesellschaftlichen Organisationen“ und so weiter.

Danach wurde es allerdings konkreter: „Um unser Ziel zu erreichen, brauchen wir Kader und nochmals Kader: Ingenieure, Meister, Mitarbeiter für den Staatsapparat, Polizisten, Lehrer, Gewerkschaftsfunktionäre ... Und nun zu Dir, lieber Sepp! Ich kenne Dich lange genug. Du mußt da mitmachen!“

Als erste Antwort rutschte mir raus: „Ich bin Arbeiter und bleib’ Arbeiter. Ich kann doch die Arbeiterklasse nicht verraten.“

Aber die Genossen gaben ihr Vorhaben wegen einzelner Weigerungen nicht auf. Zunächst wurden etwa 30 Jungfacharbeiter in einer Studienklasse zusammengefaßt, um sie zu Betriebsingenieuren zu qualifizieren. Diese jungen Kader erhielten während ihrer exzellenten Ausbildung den bisherigen Durchschnittslohn. Sie durchliefen nacheinander Auftragsannahme, Planung, Projektierung, Konstruktion, Modellbau und Gießerei bis zu Montage und Auslieferung. Drei Tage in der Woche leisteten sie in den genannten Abteilungen praktische Arbeit, und an den restlichen drei Tagen wurde studiert. Eine Spezialisierung erfolgte im letzten Ausbildungsdrittel. Die meisten dieser jungen Kollegen übten später verantwortliche Funktionen inner- und außerhalb des Betriebes aus.

Ich selbst hatte durch meine impulsive Weigerung zwar den Anschluß verpaßt, aber meine Vorgesetzten und der Parteisekretär bewiesen den längeren Atem und führten mich in kleinen Schritten ans Ziel. Zunächst wurde ich unter den Fittichen erfahrener Facharbeiter an den wichtigsten Maschinen eingesetzt, mit kleinen Gewerkschaftsfunktionen betraut und zu Fachzirkeln bzw. politischen Gesprächen eingeladen. Später delegierte man mich zu Lehrgängen oder Schulungen. Zuletzt kam tagtäglich ein Kaderinstrukteur, um mit mir über meine weitere Qualifizierung zu reden. Und siehe da: Am Ende saß ich mit meiner Achtklassenschulbildung doch noch in einem Vorbereitungslehrgang für die Aufnahmeprüfung an einer Ingenieurschule! 

Sepp Landa


1 Anfang eines vor allem in der FDJ häufig gesungenen Liedtextes aus der Nachkriegszeit: „Das neue Leben muß anders werden als dieses Leben, als diese Zeit. Da darf's kein Hungern, kein Elend geben. Packt alle an, dann ist es bald soweit.“

2 Übrigens haben sich die dort arbeitenden Kollegen nach „Wende“ und eingeleiteter Liquidierung des Thälmannwerkes nicht unterkriegen lassen und stellen inzwischen auf eigene Rechnung Werkzeuge her. Allerdings mußten sie sich eine neue Unterkunft suchen, obwohl viele Hallen im ehemaligen SKET leerstehen. Denn die Treuhand gestattete es ihnen nicht, die eigene Produktionsstätte für 1 DM zu kaufen. Dieser Vorzugspreis wurde auch in Magdeburg nur westdeutschen oder ausländischen Unternehmen eingeräumt.


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