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Das Lied der freien Jugend

 Der Bombengefahr wegen wurden meine Mutter, Geschwister und ich 1943 aus Magdeburg in verschiedene ländliche Gebiete, Altmark und Harz, evakuiert. Ich war 10 Jahre alt und kam in ein sogenanntes KLV1-Lager. Wir blieben als Schulklasse zusammen, hatten unsere Lehrer auch „mitgenommen“ und wurden von einem „Lagermannschaftsführer“, d. h. einem Jugendführer der faschistischen HJ, zusätzlich betreut. Außer dem normalen Schulunterricht gab es einen „strammen“ HJ-Dienst. Unser Klassenlehrer, ein Pauker von preußischem Format, bleute uns fehlendes oder mangelndes Wissen bisweilen dadurch ein, daß er einen recht schweren Billardstock - wir waren in einem leerstehenden Hotel, dem „Würzburger Hof“ in Seehausen/Altmark untergebracht - statt des fehlenden leichten Zeigestocks auf unsere Köpfe niederfallen ließ. (Als sich die amerikanischen Truppen zwei Jahre später der Altmark näherten, das „Lager“ aufgelöst wurde, alle Kinder nach ihren in verschiedenen Gegenden zerstreuten „zu Hause“ fuhren, prophezeite er uns mit Tränen in den Augen eine düstere und glücklose Zukunft.)

Unser Verhältnis zur einheimischen Jugend war, der faschistischen Erziehung entsprechend, meist feindlich. Wie wir meinten, konnten wir besser marschieren, lauter singen bzw. grölen und siegten meist bei „dienstmäßig“ veranstalteten Schlägereien, die als Geländespiele bezeichnet wurden. Morgens marschierten wir „zackig“ mit einem Lied durch die kleine Altmarkstadt. Am offenen Fenster eines Geschäftshauses grüßte uns oft ein verwundeter Offizier mit dem Hitlergruß. Im Lager dominierte eine Erziehung zur Härte. Morgenappelle fanden täglich bei jedem Wetter, auch bei Schnee und Kälte, mit freiem Oberkörper auf dem Hof statt.

Ich erinnere mich an zwei Mitschüler, die von Haus aus mit den Nazis nichts „am Hut“ hatten. Sie kamen offensichtlich aus antifaschistischen Elternhäusern. An den Türen ihrer Spinde hatten viele Schüler ihre Kriegshelden mit Reißzwecken angeheftet. An meiner Schranktür prangten Jagdflieger wie Mölders und Galland. Einer der beiden oben genannten Schüler bemerkte eines Tages zu einem anderen, an dessen Tür der „Führer“ angebracht war: „Nimm den Kerl ab und häng Jesus dran!“ Die Strafe kam prompt: Sonderappell mit markiger Rede des Lagermannschaftsführers, Isolierung der beiden von allen anderen, keiner durfte mit ihnen sprechen, der Morgenappell wurde für die beiden verlängert und ich glaube, daß sie nach Haus „abgeschoben“ wurden. Ich hatte zu beiden irgendwie ein freundschaftliches Verhältnis und spürte vage, daß es noch etwas anderes als faschistisches Gedankengut gab.

Erstmals kam im Januar 1945 in mir die Befürchtung auf, daß Deutschland den Krieg verlieren könne. Bis dahin glaubte ich fest an den Sieg der deutschen Waffen.

Im April 1945 wurde die Altmark von der US-Armee befreit. Kurzzeitig zogen auch englische Truppen ein, und dann kamen die Russen! So sagten damals alle. Wir hatten Angst vor ihnen. Diese war systematisch gezüchtet worden. Gegenüber der Bevölkerung gab es natürlich auch so manchen Übergriff, denn die Gefühle der Befreier, und zwar aller Alliierter, waren gegenüber den Deutschen keineswegs vorrangig freundschaftlich. In kindlicher Unbefangenheit und Neugierde suchte ich oft Kontakt zu den Soldaten der verschiedenen Armeen. Ich quatschte munter drauflos, immerhin hatte ich in der Mittelschule, die ich besuchte, schon über ein Jahr Englisch gelernt, und wenn die Worte fehlten, dann halfen Hände und Füße, Zeichen und Gebärden.

Von einem bis heute bei mir nachwirkenden Gespräch mit einem sowjetischen Sergeanten, der ausgezeichnet Deutsch sprach, über die Schlacht bei Stalingrad sei berichtet. In anerzogener nationaler Borniertheit „erklärte“ ich ihm, einem militärischen Spiel im Sandkasten gleich, denn ich kratzte den Wolgabogen bei Stalingrad mit einem Stock in den Erdboden, warum die Russen dort gesiegt haben. Sie hätten die Front nur deshalb durchstoßen können, weil an der Durchbruchstelle rumänische Soldaten gestanden haben. So hatte ich das damals jedenfalls gehört. Gegen Deutsche wäre ihnen das nicht gelungen. So ich, ein kleiner zwölfjähriger „Pimpf“, zu einem Sowjetsoldaten, der seine zerstörte Heimat von der Wolga bis Berlin kämpfend befreit hatte. Der Sergeant reagierte außerordentlich gelassen auf meine Unverschämtheit. Das verdiente „Eins-hinter-die-Ohren“ blieb aus. Erst später begriff ich die Ungeheuerlichkeit meiner Anmaßung. Dieses Erlebnis war für mich ein erster Ansatzpunkt meiner sich später durch Wissen entwickelnden und vertiefenden Freundschaft zur Sowjetunion und ihren Menschen.

In der unmittelbaren Zeit nach der Kapitulation Hitlerdeutschlands herrschte auf dem Lande Chaos. Die Besatzungsmacht als Ordnungsfaktor war oft weit weg, d. h. wohl mehr in den Städten als auf dem flachen Land. Deutsche antifaschistische Machtstrukturen festigten sich aus vielerlei Gründen nur langsam und widersprüchlich. Allenthalben herrschte das „Faustrecht“, ein Merkmal willkürlicher, nichtstaatlicher Gewalt. Kühe und andere Tiere wurden des Nachts auf den Weiden geschlachtet, Pferde aus Ställen gestohlen, räubernde Banden, darunter bisweilen auch sowjetische Soldaten, führten Überfälle und nächtliche Einbrüche in Wohnungen durch, Bürgermeister verschwanden mit Gemeindekassen über die Elbe in den nahen Westen. Der alte Staat war kaputt, ein neuer konnte von heute auf morgen nicht entstehen.

Ich erlebte damals auch die demokratische Bodenreform. Das Rittergut, auf welchem wir evakuiert waren, wurde aufgeteilt. Land erhielten vor allem Umsiedler und Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Diese Reform habe ich damals nicht verstanden. Ich empfand sie als etwas Ungerechtes. Er später begriff ich ihre historische und demokratische Legitimation.

Die weitere Entwicklung auf dem Lande erlebte ich nur noch indirekt. Als mein Vater aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause kam, zogen wir kurz danach in die kleine Stadt Arendsee, oft als „Perle der Altmark“ bezeichnet. Trotz der damaligen schweren Zeiten, die ich keineswegs so empfand, verlebte ich als Junge dort schöne, relativ unbeschwerte Jahre. Der See, die Wälder, in denen es sich herrlich herumstrolchen ließ, der sich entwickelnde Sport, insbesondere Fußball, die grenznahe Region, die uns zu illegalen Streifzügen in den Westen verleitete (im Grenzbereich wuchsen tatsächlich die besten Heidelbeeren), Kino, wo wir in den Abendvorstellungen, da wir noch keine 14 Jahre alt waren, meist wieder rausgeschmissen wurden, die ersten Portionen eines sehr körnigen, wäßrigen, geschmacklosen Eises, Brause bzw. Limonade und andere Schleckereien, die ich schon fast vergessen hatte, tauchten allmählich wieder im Angebot von Gaststätten und Kaufläden auf. Politische Ereignisse wie Währungsreform, obwohl ich diese an meinem nun noch schmaler werdenden Taschengeld spürte, die zunehmende Spaltung Deutschlands in Gestalt der Bi- und Trizone, weitere Ost-West-Konflikte, die Luftbrücke, die wachsende Kriegsgefahr durch den Beginn des „Kalten Krieges“ u. a. registrierte ich nur oberflächlich. Erst zu Beginn meiner Oberschulzeit in Salzwedel entwickelten sich politische Erkenntnisse stärker, gab es erste Erlebnisse und Kontakte mit den neuen gesellschaftlichen Organisationen, für mich in erster Linie mit der FDJ. Ich erinnere mich noch an eine Gruppe von FDJlern, die mit dem Gesang des Liedes

„Ein Ruf dringt von Zelle zu Zelle,

wach auf, Jugend heraus,

der Sturmwind ist unser Geselle,

der Sturmwind der Jugend dringt von Haus zu Haus.

Jugend heraus aus den Häusern

Wir sind bereit zu neuen Taten.

Es ruft die freie Jugend, Jugend der neuen Zeit!“

durch die Stadt zogen. (Diesen Text schreibe ich noch heute aus dem Kopf nieder und singe die Melodie in Gedanken mit.)

Meine Haltung zur FDJ war reserviert. Obwohl politisch interessiert, wollte ich zunächst nicht Mitglied werden. Im Februar 1949 fand in unserer Klasse, ich war in der 9., eine Diskussion über Ziele und Charakter der FDJ statt. Nach regem Meinungsstreit überzeugten mich die Argumente der Agitatoren, die natürlich zum großen Teil aus den höheren Klassen waren und politisch mehr „drauf“ hatten als wir. Ich wurde Mitglied der FDJ. Argumente, die auf Logik und Tatsachen beruhen, haben bei mir damals und in meinem weiteren Leben stets Wirkung erzielt, denn stets war ich und bin es noch heute, streitbar, jedoch niemals streitsüchtig. Konsequenz im Denken und Handeln hatte für mich stets einen hohen Stellenwert. In meiner späteren beruflichen Arbeit als Dozent für marxistisch-leninistische Philosophie bemühte ich mich, dem in meiner Arbeit mit den Studenten zu entsprechen.

Wenn ich heute zurückblicke, dann war mein Eintritt in die FDJ wohl auch Folge sehr unterschiedlicher Erfahrungen und Erlebnisse vor und nach 1945. Da waren einerseits die aus den Kriegsjahren, eine zu Härte und Grausamkeit tendierende Erziehung in der HJ bzw. dem Jungvolk, andererseits die dieser entgegengesetzte antifaschistische in der FDJ, die aus dem Aufbruch in eine neue Zeit, aus dem Willen, Lehren aus der finsteren Vergangenheit zu ziehen, erwuchs. „Jugend, erwach’, erhebe dich jetzt, die grausame Nacht hat ein End’“ und „... deutsche Jugend, pack an, brich dir selber die Bahn für Frieden, Freiheit und Recht ...“. Es war das ständige Erleben realer Humanität und Moral, welches mich auf meinem Weg in diese neue Zeit begleitete. Stets sangesfreudig, spielte dabei das Liedgut der FDJ eine für mich wichtige Rolle. Man vergleiche nur die menschenverachtenden Texte faschistischer Lieder, die brutalen Zielstellungen nazistischer Gebote für die Jugend mit den lebensbejahenden, optimistischen Inhalten der nach 1945 entstandenen neuen Lieder der FDJ und den traditionsreichen der Arbeiterbewegung. Nach vielen Jahren im FDJ-Chor der Oberschule Nordhausen und im Chor des „Max-Reimann-Ensembles“ der Friedrich-Schiller-Universität Jena erinnere ich mich gern an zahlreiche schöne und erfolgreiche Auftritte und Reisen mit beiden Chören, die nachhaltig meine politische Entwicklung prägten.

Der 7. Oktober 1949 war für mich zunächst ein Tag wie jeder andere. Ich fuhr wie immer mit dem Zug nach Salzwedel zur Schule. Während irgendeiner Stunde wurde der Unterricht unterbrochen, worüber wir uns alle freuten. Gemeinsam zogen wir zu einem Kundgebungsplatz in einem Park der Stadt. Irgendwo hing eine Losung mit den Worten: „Es lebe die Deutsche Demokratische Republik“. Ein Redner informierte uns über die Ausrufung der DDR in Berlin. Eine Hymne gab es noch nicht, wahrscheinlich sangen wir irgendein anderes passendes Lied, oder auch nicht. Auf der Heimfahrt dachte ich dann in etwa: „Nun sind wir eine Republik, haben bzw. bekommen eine Regierung und einen Staatspräsidenten.“ Die historische Bedeutung der Gründung der DDR begriff ich erst später und allmählich.

Von Anfang an fühlte ich mich jedoch mit diesem deutschen Staat verbunden, garantierte er mir und meiner Familie - ich hatte noch sechs Geschwister, von denen fünf später, ohne finanzielle Belastung meiner Eltern, ein Hoch- bzw. Fachschulstudium absolvierten - ein Leben in Frieden, sozialer Sicherheit und Geborgenheit. Dabei verlief meine weitere Entwicklung keineswegs konfliktfrei, wie sollte sie das auch? Schule, Studium und Beruf hielten noch genug Probleme bereit. Aber niemals hatte ich prinzipielle Lebens- und Zukunftsängste. Wenn es diese gab, dann erwuchsen sie in keiner Weise aus der sich später entwickelnden sozialistischen Ordnung der DDR.

Das „Deutschlandtreffen“ der FDJ, Pfingsten 1950 in Berlin, war für mich ein erster Höhepunkt als Mitglied der FDJ. Die Motive meiner Teilnahme an diesem Treffen waren weniger politischer als vielmehr sportlicher Natur. Ich wollte die Fußballer der jungen DDR sehen, die damals noch als Gewerkschaftsauswahl antreten mußten, wollte andere Sport- und Kulturveranstaltungen erleben. In Erinnerung an dieses begeisternde Treffen blieben bei mir u. a.: die zeitlich lange, von vielen Aufenthalten unterbrochene Eisenbahnfahrt in Güterwagen, die Begeisterung auf Straßen und Plätzen Berlins, „Auf den Straßen, auf den Bahnen seht ihr Deutschlands Jugend ziehn ...“, der Jubel bei einer Durchfahrt von LKW mit FDJlern aus Westdeutschland auf der Frankfurter Allee, die Einweihung des „Walter-Ulbricht-Stadions“, unsere Sprechchöre dort: „Max Reimann2 soll sprechen“, welche diesen schließlich an das Stadionmikrofon „zwangen“, denn wir alle hatten von den Schikanen der westdeutschen Polizei an der Grenze gegenüber westdeutschen Jugendlichen gehört, mein illegaler Besuch bei einer Tante in Westberlin und die dort geführten politischen Streitgespräche, das „Klauen“ einer Weltjugendfahne für unsere Grundorganisation, natürlich die große Demonstration bei ständigem Wechsel von Sonnenschein und intensiven Regenschauern, Wilhelm Pieck auf der Ehrentribüne und noch vieles andere - z. B. auch die Berge von Trümmern in dem vom Krieg zerstörten Berlin, einem traurigen Erbe Hitlerdeutschlands.

Vorrangig aus Sportleidenschaft und jugendlicher Neugier nach Berlin gefahren, kehrte ich von dort politisch reifer geworden und als etwas mehr Wissender nach Nordhausen, wohin wir 1950 gezogen waren, zurück. Von jugendlich-emotionaler Begeisterung, maßgeblich ausgelöst durch das Deutschlandtreffen und viele andere Ereignisse, vertieft und rational begründet durch im Philosophiestudium erworbenes theoretisches Wissen, eingeschlossen natürlich auch in eigene Erfahrungen aus der vielschichtigen gesellschaftlichen Praxis, begann meine Entwicklung zu einem bewußten Bürger dieses Landes, der in der 1949 gegründeten DDR nicht das schlechtere, leider aber das schwächere Deutschland sah und heute, den oft gemachten Vorwurf einer angeblichen Nostalgie zurückweisend, mit den Worten Armin Stolpers traurig, aber keineswegs pessimistisch sagt: „So gute Karten wie wir damals hatten, kriegen wir so schnell nicht wieder.“

                                           Dr. Gerhard Peine


1 Kinderlandverschickung

2 Max Reimann - damaliger KPD-Vorsitzender


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