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Vom ungelernten Arbeiter zum Diplom
Das Jahr 1943: Vor Stalingrad tobte ein mörderischer Kampf, und zum ersten Mal seit Beginn des II. Weltkrieges mußten die Siegesfanfaren der faschistischen deutschen Massenmedien schweigen. Stalingrad wurde nie eingenommen.
Zu dieser Zeit war ich 22 Jahre alt und Soldat der Marineartillerie auf einer kleinen Insel in der Wesermündung. Diese hatte bereits während des I. Weltkrieges als Festung gedient, deren schwere Geschütze nach dem Versailler Vertrag verschrottet worden waren. Inzwischen befand sich auf dem Gelände eine leichte Flak- und Scheinwerferstellung der deutschen Wehrmacht. Aus der alten „Festungszeit“ war nur die großangelegte Latrine übriggeblieben, die nun auch der neuen Inselbesatzung dienen mußte. Allerdings war sie zuvor niemals entsorgt worden, so daß die angesammelten Fäkalien buchstäblich zum Himmel stanken. Das war auch dem Inselkommandanten zu viel, und er forderte „russische“ Kriegsgefangene an. Etwa zehn von ihnen waren eine ganze Woche lang mit der Räumung dieser Kloake beschäftigt.
Damals hatte ich meine erste Begegnung mit sowjetischen Menschen. Da wir uns auf einer Insel befanden, mußten auch die Kriegsgefangenen auf ihr übernachten und verpflegt werden. Ich werde nie vergessen, wie unser Koch mit der Bitte an uns herantrat, einen kleinen Teil unserer Essenration für die Gefangenen abzuzweigen. Wir waren alle einverstanden.
Einer von uns war im deutsch-polnischen Grenzgebiet aufgewachsen und, da er als Deutscher galt, zur Wehrmacht eingezogen worden. Er sprach perfekt polnisch, und auch einige der Gefangenen konnten sich in dieser Sprache verständigen. Mit ihnen hatte er sich angefreundet und fragte uns eines Abends, ob wir sie nicht gemeinsam in ihrem Unterkunftsraum aufsuchen wollten. Das war natürlich bei strenger Strafe verboten, aber einige - darunter auch ich - gingen doch heimlich hin. Wir erlebten eine sehr interessante Unterhaltung und erfuhren einiges von der „russischen“ Mentalität. Danach wußte ich allerdings, daß es sich bei den Gefangenen keineswegs nur um Russen, sondern auch um Angehörige anderer Nationalitäten der Sowjetunion handelte. Als die Gespräche auf den Krieg kamen, sagte ein junger Gefangener, der ziemlich gut Deutsch sprach: „Stalin bricht Hitler das Genick!“ Das überraschte uns sehr, denn die deutschen Truppen standen ja noch bei Stalingrad. In der Folgezeit mußte ich oft über diese Voraussage nachdenken. Bald war klar, daß der junge Russe recht behielt. Aber woher er seine Siegesgewißheit genommen hatte, konnte ich mir noch nicht erklären.
Nach Kriegsende kam ich für etwa zwei Monate in englische Gefangenschaft. Wer in den Westzonen zu Hause war oder dort wenigstens eine Adresse angeben konnte, wurde entlassen, bei denen aus der Ostzone war der Termin ungewiß. Glücklicherweise kannte ich eine Anschrift in der Nähe von Bremerhaven. Danach blieb ich zunächst in diesem niedersächsischen Dorf und half in der Landwirtschaft. Hier wurde ich im Dezember 1945 auch Mitglied der KPD. Entscheidend dafür war, daß mir mein Vater frühzeitig antifaschistisches und linkes Gedankengut vermittelt hatte. Er erzählte viel über Ernst Thälmann und gebrauchte vor 1933 dessen Feststellung: „Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler, wer Hitler wählt, wählt den Krieg!“ Diese Prophezeiung hatte sich nun ebenso bestätigt wie die des jungen Russen.
Natürlich nahm ich nach Kriegsende sofort Verbindung mit meinen Eltern auf und besuchte sie mehrfach nach dem unerlaubten, d. h. nicht ungefährlichen Überqueren der „grünen“ Grenze. Sie waren in Berlin ausgebombt worden und wohnten vorerst in unserer Sommerlaube auf einem Grundstück in Borkwalde, das wir bereits seit 1927 nutzten. Ordentliche Arbeitsstellen waren damals nirgendwo in Deutschland leicht zu finden, aber im Osten schienen mir die Chancen für eine Weiterbildung doch größer. Hinzu kam, daß mir in Borkwalde ein Häuschen zur Miete angeboten wurde. Also zog ich im November 1946 dorthin.
Eines Tages bestellte mich der Bürgermeister der etwa tausendköpfigen Gemeinde in sein Büro und fragte, ob ich nicht bereit wäre, im Ort eine FDJ-Gruppe zu bilden?
Ich entgegnete, daß keiner meiner ehemaligen Borkwalder Freunde den Krieg überlebt hätte. Gerhard R. und Gerhard B. waren in Finnland bzw. Italien gefallen, Walter N. sowie „Kiki“ A. an der Ostfront geblieben und Heinz T. noch kurz vor Kriegsende in den Ardennen vermißt. Gerhard F. hatte den Krieg überlebt, in einer Auseinandersetzung mit Sowjetsoldaten jedoch zur Axt gegriffen und war - erschossen worden. Von uns Freunden lebte außer mir nur noch Gerhard R, aber der heiratete ein Westberliner Mädel und zog dorthin.
Der Bürgermeister ließ trotzdem nicht locker und meinte, die Kinder von 1939 seien jetzt 16 oder 17 Jahre alt und hätten nichts als den Hitlerfaschismus erlebt. Dieses Gedankengut müsse schleunigst aus ihren Köpfen, und dazu werde eine fortschrittliche Jugendorganisation wie die FDJ gebraucht. Das leuchtete mir ein. Allerdings hatte ich keine Ahnung, wie man am besten an eine solche Aufgabe heranging. „Kein Problem“, sagte der Bürgermeister, „an allen Wandtafeln der Gemeinde wird einen Aufruf zur Bildung der FDJ-Gruppe erscheinen.“
Tatsächlich ging alles gut. Zur ersten Zusammenkunft kamen etwa zwei Drittel der Jugendlichen, und ich wurde als kommissarischer Leiter der Gruppe eingesetzt. Einige Wochen danach erfolgte in Anwesenheit des Belziger Kreisvorsitzenden der FDJ die freie Wahl der Leitung und des Vorsitzenden, zu welchem ich bestimmt wurde.
Danach trafen wir uns jede Woche dreimal, spielten kleine Theaterstücke, bildeten eine Volkstanz- und Instrumentalgruppe oder gingen gemeinsam wandern, baden und tanzen. Es dauerte nicht lange, und sämtliche Jugendliche der Gemeinde kamen zu unseren Abenden. Allerdings wurden manche nicht Mitglieder der FDJ. Die Eltern befürchteten, daß aus ihr ähnliches wie die Hitlerjugend entstehen könnte, und das wollten sie nicht.
Ohne Übertreibung kann man sagen, daß wir in dieser Zeit zum kulturellen Mittelpunkt der Gemeinde wurden. Ob zum Frauentag, am 1. Mai, zu Schul- oder Weihnachtsfeiern - überall wirkten wir mit. Heinz war der Schlagzeuger unserer Musikgruppe. Er wurde von einer Tante aufgezogen, die man einmal beim nächtlichen Kartoffeldiebstahl auf dem Feld erwischt und dafür eine Nacht ins Borkwalder Spritzenhaus gesperrt hatte. Wir hungerten damals alle. Deshalb wirkte Heinz gern bei Tanzveranstaltungen in den umliegenden Dörfern mit, denn die Gastwirte spendierten meist etwas zu essen und natürlich auch ein Paar Mark in bar. Einmal hatte er für fünf Stunden Tanzmusik 25 Mark erhalten und eilte sofort zum Tresen, wo man zu Schwarzmarktpreisen Zigaretten bekam. Er kaufte 5 Glimmstengel à 5 Mark - und der sauer verdiente Tageslohn war „im Eimer“.
Ende 1947 wollten wir erstmals auch eine Weihnachtsfeier für uns selbst gestalten, die Frage war nur, wie? Als wichtigste Attraktion mußte unbedingt etwas Gebäck organisiert werden. Deshalb beschlossen wir, daß unsere Jugendfreunde jeweils einen 50-Gramm-Abschnitt ihrer „Brotmarken“ stiften sollten. Das bedeutete für jeden eine ganze Scheibe Brot weniger! Doch als zwei Mädchen traurig vermeldeten, daß ihre Eltern damit nicht einverstanden seien, opferten zwei andere sogar die doppelte Ration. Unser Bäckerlehrling erklärte sich bereit, für die Brotmarken Mehl zu beschaffen und daraus Weihnachtsgebäck zu zaubern. Als wir in unserer stimmungsvollen Feier danach um unerwartet stattliche Plätzchenteller herumsaßen, schien der Gedanke an Hexerei zunächst tatsächlich nicht abwegig. Aber unser „Zauberlehrling“ flüsterte mir strahlend zu, daß er von den aus Borkwalde zum Abbacken gebrachten Blechen jeweils zwei oder drei Plätzchen gemopst habe. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Denn wenn das herauskam, war der Skandal perfekt: Die FDJ stiehlt den Borkwaldern ihre vom Munde abgesparten Weihnachtsplätzchen!
Natürlich wollten wir bald auch eine eigene Fahne haben. Diesmal wurden die für den Stoff benötigten „Punkte“ der Kleiderkarte zusammengetragen. Leider gab es im Laden dafür nur weißen Stoff in der Breite von 80 Zentimeter. Nach erneuter Beratung und Punktesammlung kauften wir noch 40 Zentimeter hinzu und kamen so auf die stolze Breite von 1,20 Meter. Danach wurde der Stoff blau eingefärbt und unser FDJ-Emblem aus schwarzen und gelben Lumpen mühevoll zusammengestückelt. Aber am Ende hatten wir eine wunderschöne Fahne und waren sehr stolz auf sie.
Einige Zeit danach unternahmen wir eine Wanderung zum Kolpinsee bei Lehnin, und natürlich mußte auch die Fahne mit. Unser jüngstes Mitglied, die vierzehnjährige Anita, war nicht nur schlank, sondern ausgesprochen mager. Aber sie wollte unsere Fahne unbedingt die ganze Strecke tragen und fing wegen meiner Skepsis sogar zu weinen an. Da ließen wir ihr den Willen und meckerten auch nicht, als sie ihren Vorsatz nach 3 km Fußmarsch aufgeben mußte. Sofort sprangen andere Freunde ein, und im Wechsel brachten wir unsere Fahne glücklich ans Ziel.
Zelte für Übernachtungen besaßen wir nicht und nahmen ersatzweise sogenannte „Pferdedecken“ mit, die an Staketen befestigt wurden. Außerdem mußte bei derart ausgedehnten Unternehmungen wenigstens ein warmes Essen gewährleistet sein. Dafür sammelten wir erneut Lebensmittelkarten und kauften Nudeln ein. (Sie wurden damals aus Roggenmehl hergestellt und besaßen einen Geschmack, der jeder Beschreibung spottet.) Dann schleppten wir einen riesigen Topf mit, den man früher wahrscheinlich zum Wäschekochen benützt hatte. Die Zubereitung der Mahlzeit auf einer provisorischen Feuerstelle erfolgte unter allgemeiner Anteilnahme in drei Arbeitsgängen: viel Wasser in den Topf, danach eine Portion brauner Nudeln, zuletzt etwas Salz. An Fett oder Fleisch war nicht zu denken. Aber uns mundete die Suppe vorzüglich, und es blieb kein Löffel voll übrig.
Bei unseren Zusammenkünften fehlte es auch nicht an politischen Diskussionen. Die Meinungen gingen oft auseinander, und mancher war nicht mit allem einverstanden. Aber irgendwelche persönlichen Konsequenzen mußte keiner befürchten.
Leider kam diese lebendige Jugendarbeit in den Gemeinden und Wohngebieten allmählich zum Erliegen, als sich die übergeordneten FDJ-Leitungen Ende der Vierziger Jahre voll auf die Bildung und Unterstützung von Betriebsgruppen konzentrierten. Ich hielt diese Entwicklung für verfehlt.
Aber zunächst war man in Belzig auf unsere aktive Jugendgruppe und ihren Leiter aufmerksam geworden, so daß ich zunächst kurzerhand als FDJ-Arbeitsgebietsleiter nach Beelitz und später als Instrukteur in den Kreisvorstand der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft geholt wurde. Danach bat mich ein mir bekannter ehemaliger Volkspolizist, der inzwischen Kulturdirektor der „Ernst-Thälmann-Werft“ Brandenburg war, in seinem Betrieb ein Volkskunstensemble zu bilden. Die Arbeit machte mir Spaß. Doch bald sagte meine Partei, die SED: „Im Stahlwerk Hennigsdorf wird dringend ein Ensembleleiter gesucht. Dieser Betrieb ist bedeutend größer und wichtiger. Geh also nach Hennigsdorf!“ Sollte ich da „Nein“ sagen?
Danach wurde das Hennigsdorfer Volkskunstensemble fast aus dem Boden gestampft. Mit ihm verbinden sich für mich viele wundervolle Erlebnisse und eindrucksvolle Erfolge. Als ich meine Tätigkeit begann, gab es im Stahlwerk lediglich einen Chor von 20 Mitgliedern, der vom heutigen Prof. Manfred Roost geleitet wurde.1 Da selbst der beste Chorleiter mit diesem mageren Bestand wenig anfangen konnte, stattete ich als erstes sämtlichen Abteilungen des Stahlwerkes sowie der Lehrlingsausbildung meine Visite ab. Und tatsächlich erhielt ich von allen Leitern tatkräftige Unterstützung bei der Werbung neuer Choristen.
Eines Tages besuchte ich die Graugußabteilung, in der mehrere Lehrlinge ausgebildet wurden. Grauguß wird zu massiven Formen für den weißglühenden Stahl verarbeitet. Aber im Anfangsstadium ist er erst mal eine dickbreiige Masse, und als ich auf meiner Werbetour die Lehrlinge der Formerei besuchte, klebte dieses Zeug dick an ihren Händen. Die erwartungsvollen Augen der Jungen sehe ich noch heute: Alle glaubten, daß ich mir nach der Begrüßung angeekelt die Hand abwischen würde. Aber ich zuckte nicht mit der Wimper und begann ein freundliches Gespräch. Das machte Eindruck, und ich konnte danach einige der jungen Burschen für unseren Chor und die vorgesehene Tanzgruppe werben. Übrigens war einer dieser Lehrlinge Günter Neumann, der später am Hans-Otto-Theater Potsdam eine hervorragende Karriere als Gesangssolist begann und diese Tätigkeit noch heute im Berliner Metropoltheater ausübt.
Danach erhielt der Chor von Probe zu Probe neue Mitglieder, und schließlich bestand er aus 60 Choristen. Manfred Roost, damals Student an der Humboldt-Universität, gewann außerdem auch Hannes Fischer für die Leitung der Instrumentalgruppe sowie Margitta Wicke als Stimmbildnerin und Solistin.
Der Aufbau unserer Instrumentalgruppe gestaltete sich zunächst schwierig, denn jeder mußte natürlich ein Instrument beherrschen. Schließlich entdeckten wir eine Reihe ehemaliger Berufsmusiker, die nach dem Krieg keine andere Arbeit gefunden hatten und im Stahlwerk größtenteils als Schichtarbeiter tätig waren. Deshalb setzte ich meine Werbung sogar in der Nachtschicht fort und hatte Erfolg.
Natürlich brauchte unser Ensemble auch eine Tanzgruppe. Allerdings wollten die meisten jungen Männer vom „Volkstanzhüpfen“ nichts wissen. Trotz aller Mühe fanden wir nur acht Tänzer, während die Mädchen schneller zu begeistern und deshalb in der Überzahl waren. Unser Tanzgruppenpädagoge Günter Napiwotzki erwies sich als ausgesprochener Glücksfall. Er vermittelte den Jungen und Mädchen nicht nur technische Kenntnisse, sondern konnte auch sehr gute Choreographien aufbauen und kümmerte sich darüber hinaus mit ebensoviel Sachverstand wie Engagement um die Kostüme. Diese mußten zu den Tänzen passen, d. h. landschaftstypisch sein. Fertig gab es sie sowieso nicht, und selbst die Beschaffung der farbigen Stoffe, Blumenmuster, Pailletten usw. war damals mit riesigem Aufwand verbunden. Aber Günter packte es irgendwie und gab dann den Kolleginnen der betriebseigenen Schneiderstube sachkundige Hinweise für die Anfertigung der Kostüme. Die Originalhauben der Mädchen mußte er allerdings selbst Stich für Stich mit der Hand nähen und tat dies, wie er sagte, sogar mit großer Freude.
Quelle:
Privatarchiv H. Kosczol
Die Tanzgruppe des Hennigsdorfer Volkskunstensembles
Bereits nach drei bis vier Monaten war der Aufbau des Ensembles abgeschlossen, und nun begann die Zeit der Wettbewerbe von den Kreis- bis zu den Republikausscheiden.
Bald hatte unser Ensemble einen guten Namen und behauptete sich unter den Spitzengruppen der DDR. Von den vielen Veranstaltungen sind mir besonders zwei in Erinnerung geblieben, denn sie gehören noch heute zu meinen eindrucksvollsten Erlebnissen überhaupt.
Eines Tages schlug mir Manfred Roost vor, die Bauernkantate von J. S. Bach in unser neues Programm aufzunehmen. Nun gehörte Bach zwar zu meinen Lieblingskomponisten, aber die Stahlwerker waren eigentlich mehr für die heitere Muse sowie Volks- oder Kampflieder zu haben. Ob sie sich tatsächlich auch für eine halbstündige Bachkantate erwärmen würden? Aber ich überwand meine Bedenken, und wir begannen mit der Arbeit.
Die Einstudierung der Kantate erforderte ein ganz neues Herangehen, eine höhere Stufe der Ensemblearbeit: Chor und Tanzgruppe mußten gleichzeitig auf der Bühne agieren, die Tanzgruppe teilweise singen, der Chor sich tänzerisch bewegen und die Solisten desgleichen. Schließlich brauchten der Chor historische Bauernkleidung und die Bühne eine Landschaftskulisse. Erstaunlicherweise besorgten sich die Choristen selbst die nötigen Kleidungsstücke, und für die Kulisse gewannen wir einen Kollegen der Werbeabteilung. Er war ganz froh, mal keine Losungen malen zu müssen. Auch die gemeinsamen Proben verliefen reibungslos - selbst für die Instrumentalgruppe mit ihrem extra angefertigten Notensatz. Die Aufführung fand statt und wurde ein voller Erfolg. Der Beifall war kaum zu überbieten, und die Stahlwerker sagten stolz: Hier stehen unsere Kumpel auf der Bühne!
Meine zweite Erinnerung verbindet sich mit einem Ensembleauftritt in Westdeutschland, um den KPD-Genossen aus Hagen/Westfalen unsere BGL gebeten hatten. Dort fand eine große Konferenz statt, und wir sollten den kulturellen Schlußpunkt setzen. Der Bitte wurde zur Freude unserer Ensemblemitglieder stattgegeben. Die Reise begann pünktlich in drei betriebseigenen Bussen, aber an der Grenze wurden wir von BRD-Organen aufgehalten. Vier Stunden mußten wir hoffen und bangen, bevor die Genehmigung zur Weiterfahrt eintraf. Durch diesen unvorhergesehenen Aufenthalt war unser Zeitplan durcheinandergeraten, und wir trafen mit entsprechender Verspätung in Hagen ein. Allerdings war die Konferenz noch nicht beendet, und wir sollten sogar erst mal in einem Nebenraum das Abendbrot einnehmen. Doch als wir uns eben über die belegten Brötchen hermachten, kam urplötzlich die Weisung: Alles auf die Bühne! Uns blieben die Bissen im Halse stecken, wir rannten los und hinterließen einige erschreckte Küchenfrauen, von denen eine sagte: „Die mögen ja nicht einmal Brötchen mit Butter und Wurst.“
Im Saal befanden sich 600 oder 700 Menschen, darunter auch Ehefrauen der Genossen. Unser Programm begann mit Volksliedern und Volkstänzen. Doch dann erklang, gesungen vom Chor und dem Solisten Günter Neumann, die Warschawianka, ein mitreißendes polnisches Arbeiterlied. Es hat mehrere Strophen, die jeweils aus Vorstrophe sowie Refrain bestehen. Die Vorstrophen wurden von Günter Neumann vorgetragen, die anschließenden Kehrreime vom Chor. Günter Neumann begann also: „Feindliche Stürme durch toben die Lüfte ...“ Danach der Chor; nach gemessenem Anfang „Auf, auf nun zum heiligen Freiheitskampfe ...“ immer kraftvoller, unaufhaltsamer bis zum abschließenden „Auf die Barrikaden, auf die Barrikaden! Erstürme die Welt, du Arbeitervolk!“ Wir spürten schon nach der ersten Strophe, wie die Atmosphäre im Saal förmlich zu knistern begann. Das steigerte sich danach immer mehr und übertrug sich auch auf die Mitwirkenden. Denn nur so ist die Reaktion unseres Trompeters zu erklären, der sein Signal eigentlich nur jeweils zwischen Vorstrophe und Refrain zu blasen hatte, sich aber unmittelbar nach der dritten Strophe nochmals lautstark damit meldete. Der verdutzte Manfred Roost ließ den Refrain wiederholen - doch schon blies der Trompeter erneut und auch noch ein weiteres Mal sein aufrüttelndes Signal. Die Stimmung war spannungsgeladen wie vor einem Gewitter – und plötzlich begann man unten im Saal aus Tischen und Stühlen eine Barrikade zu errichten ... Die anwesenden Ehefrauen hatten Mühe, ihre Männer wieder einigermaßen zu beruhigen. Dieser Abend war ein unvergeßliches Erlebnis für uns alle.
Leider bekam ich - aber das soll ja überall vorkommen - nach etwa dreijähriger Tätigkeit ziemliche Meinungsverschiedenheiten mit dem stellvertretenden BGL-Vorsitzenden, kündigte deshalb und wurde danach als Musiker beim zentralen Ensemble der Deutschen Volkspolizei angestellt. Später arbeitete ich als Lehrer an der Musikschule Potsdam und nahm ein achtjähriges Fernstudium auf. Das war eine harte und arbeitsreiche Zeit, zumal ich nebenbei ein Akkordeonorchester leitete. Aber ich schaffte es und schloß als „Diplomlehrer für Musik“ ab.
Selbstverständlich stelle ich mir heute viele Fragen. Eine davon lautet: Was bedeutete die DDR für mich? Hier meine Antwort:
Als erstes viel, viel Arbeit; aber als zweites viele schöne Erfolge; und als drittes auch die Meisterung vieler Schwierigkeiten. Ein persönliches Fazit bleibt vor allem: Sie war mir nicht zuletzt deshalb Heimat, weil sie meine gesamte berufliche Entwicklung ermöglichte. Denn sie gab mir als ungelerntem Arbeiter die Möglichkeit, ein Hochschulstudium erfolgreich abzuschließen.
War deshalb nun alles gut in der DDR? Selbstverständlich nicht, denn sonst wäre dieser Staat ja nicht untergegangen. Aber Fehler hin - Fehler her, kann man denn überhaupt die Fehler der DDR mit denen der Bundesrepublik Deutschland vergleichen? Ich sage nein. Denn für die DDR war die Erhaltung des Friedens das Wichtigste. Und nun, während ich das schreibe, befindet sich Deutschland im Kriegszustand mit Jugoslawien.
Harry Kosczol
1 Später übernahm Manfred Roost für Jahrzehnte den Kinderchor des Deutschlandsenders.
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