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Für
die beste Sache der Welt
Im Mai 1913 wurde ich als Sohn einer Verkäuferin und eines Werkzeugmachers in Berlin-Neukölln geboren. Mein Vater arbeitete in einer Wildauer Waffenfabrik und wurde deshalb bei Ausbruch des von Deutschland begonnenen I. Weltkrieges nicht als Soldat eingezogen. Aus den Kämpfen der Novemberrevolution kam Vater mit zwei Karabinern nach Hause. Zu vor hatte er einen LKW voller Gewehre aus der Waffenfabrik entführt und den revolutionären Arbeitern und Matrosen übergeben. Beim Sturm auf die „Maikäferkaserne“ war sein bester Freund von einem MG-Schützen erschossen worden, dem er danach mit einem Kolbenhieb den Schädel zertrümmerte.
Das
Ehepaar Gertrud und Gerhard Zeidler im Dezember 1977
Vater war Freidenker, Mutter dagegen stockkatholisch. Ihre Ehe wurde geschieden, als ich sieben Jahre alt war. Da Mutter keinen Unterhalt erhielt, mußte sie danach arbeiten gehen. Sie träumte davon, daß ich einmal Priester werden sollte und brachte mich nun in das Franziskaner Kloster Berlin-Moabit. Dort erklärte sie, mein Vater sei gefallen.
Im Kloster wurden 250 Waisenkinder erzogen. Wir mußten wochentags drei- und sonntags sogar viermal in die Kirche gehen - das erste Mal schon vor dem Frühstück -und hatten stets kniend zu beten. Für den Schulbesuch durften wir das Kloster verlassen und ein trockenes Brötchen mitnehmen. Damit es größer wurde, hielten wir es unter die Wasserleitung. Da war es dann auch nicht so trocken. Die Lehrerin wußte um unseren Hunger und brachte den vier Waisenkindern ihrer Klasse jeden Morgen einige Plinsen mit. In der großen Pause bekamen wir dann noch Quäkerspeisung - meistens Reisbrei oder ähnliches, aus Amerika importiert.
In der Bibel wird gesagt: „Wen Gott lieb hat, den züchtigt er“. Die Mönche müssen uns sehr lieb gehabt haben, denn wir kriegten mehr Prügel als zu essen. Als ich einmal mit einer Kellertür „Karussell fuhr“, ohrfeigte mich ein Mönch derart, daß meine Nase zu bluten anfing. Danach sann ich darauf, dieses gastliche Haus bald zu verlassen. Bei Nacht und Nebel, im wahrsten Sinne des Wortes, glückte mir die Flucht über einen hohen Zaun. Mit der Straßenbahn gelangte ich nach Oberschöneweide zu Onkel und Tante, bei denen ich einmal wunderschöne Ferien verlebt hatte. Nette Berliner hatten für mich das Fahrgeld bezahlt und mir auch Auskunft gegeben, wie ich am besten nach Oberschöneweide käme.
Als erstes verständigte die Tante meinen Vater, der inzwischen in Leipzig wieder verheiratet war. Danach begann sie mich herauszufüttern. Eine ihrer Schwestern leitete ein Backwarengeschäft, wo jeden Tag Kuchenränder abfielen. Diese wurden mir früh in die Suppe gebrockt. Es war ein richtiges Mastfutter. Außerdem bearbeitete die Tante meine Knie jeden Tag mit einer Bürste, damit die vom vielen Beten entstandene Hornhaut wieder verschwände.
Eines Tages holte mich Vater nach Leipzig. In Berlin war er bei der Mitropa beschäftigt gewesen. Vermutlich hatte er sich an der Leitung eines Streiks beteiligt und war deshalb entlassen worden. Er verlor nicht nur seine Klage gegen die Firma, sondern durch den Prozeß auch sein ganzes Vermögen in Höhe von 12.000 Mark. Es war das Erbe seiner Mutter, die sich das Geld als Garderobiere der Berliner Philharmonie in Jahrzehnten mühsam zusammengespart hatte. In Leipzig war er Reisender und verkaufte Kopfhörer, weil damals die ersten Radioapparate Einzug in die Haushalte hielten. Allerdings reichte sein Geld hinten und vorne nicht. Deshalb verlegte sich meine Stiefmutter - früher mit Süßwaren auf Märkten unterwegs - auf den Handel mit Eiern und Butter. Natürlich mußte ich ihr nun kräftig helfen. Da karrten wir dann in aller Herrgottsfrühe gemeinsam zwei Eierkisten - jede etwa 1,80 m lang und 60 cm breit - auf einem großen Handwagen von der nahegelegenen Markthalle nach Hause. Dort wurden sie durchleuchtet und bekamen, wenn sie einwandfrei waren, einen Stempel „Frische Trinkeier“. Dazu wurde ein Zentnerfaß Butter gekauft, in welche meine Stiefmutter - eine überaus kräftige Frau - in körperlicher Schwerstarbeit einige Kilo Salz einknetete.
Von der großen Siebenzimmerwohnung waren vier Zimmer an Studenten vermietet. Wenn ich mittags aus der Schule kam, hatte ich erst dort aufzuräumen, frisches Wasser in die Karaffen zu gießen, das alte Waschwasser hinauszuschaffen und die Betten zu machen. Ich selbst schlief in einem fensterlosen Verschlag, wo mich die Wanzen fast auffraßen. Jeden Nachmittag mußte ich Eier und Butter ins Leipziger Südviertel bringen. Zu meinen Schularbeiten kam ich selten, war am späten Nachmittag viel zu müde.
Damals wurden die ersten Radiogeräte entwickelt - ca. 20 cm lange Spulen mit Schieber. Dazu gehörte jeweils ein Detektor mit einem Kristall, auf dem man mit einer feinen Nadel suchen mußte, bis sich ein Sender meldete. Für den Empfang benötigte man außerdem eine ca. 50 m lange Antenne aus Kupferdraht. Wir Jungen nutzten jede Gelegenheit, uns so ein Radiogerät zu bauen. Um mir das Material zu beschaffen, verkaufte ich jedes Ei einen Pfennig teurer, als von der Stiefmutter festgelegt. Nachdem der Apparat fertig war, spannte ich die Antenne über den großen Korridor. Als erste Sendung hörte ich „Rotkäppchen und der Wolf“. Ich war mächtig stolz, aber das dicke Ende kam: Mutter wollte wissen, woher ich das ganze Geld hätte. Nun mußte ich gestehen und bekam erst einmal eine tüchtige Tracht Prügel. Sicher hatte sie Angst, Kunden zu verlieren. Einmal schnappte mich die Kriminalpolizei bei meiner Hausierertätigkeit. Da Kinderarbeit offiziell verboten war, mußte meine Stiefmutter eine Geldstrafe zahlen und schärfte mir ein, in Zukunft vorsichtiger zu sein. Nach einem Streit mit ihr, der in Prügelei ausartete, verließ mein Vater die gemeinsame Wohnung.
Bald danach tauchte mein Onkel Louis auf und holte mich als Pflegesohn nach Falkenstein im Vogtland. Da ich dort bereits wunderschöne Ferien verlebt hatte, war ich hellauf begeistert. Das war im Jahre 1924. Danach nahm mein Leben eine entscheidende Wendung. Von meiner leiblichen Mutter streng katholisch erzogen, war ich jetzt zu Freidenkern geraten. Mein Pflegevater war kommunistischer Stadtrat und galt als der belesenste Marxist im ganzen Vogtland. Jeden Sonnabendabend trafen sich in der Wohnküche alte und junge Genossen und diskutierten bis in die Nacht hinein. In den zwanziger Jahren war mein Onkel einer der engsten Mitkämpfer von Max Hoelz gewesen, der inzwischen im Zuchthaus saß. Nachdem er endlich freigekämpft war, kam er auch nach Falkenstein, wo ich den von mir sehr verehrten Revolutionär persönlich kennenlernte. Als er einige Tage bei uns wohnte, schlief er in meiner Dachkammer und ich in der Wohnküche auf dem Sofa.
Wie viele kommunistische Funktionäre mußte auch mein Pflegevater öfters Gefängnisstrafen absitzen. An eine Begebenheit erinnere ich mich noch genau. Im Rathaus behandelte ein Angestellter ein altes Mütterchen im Beisein von Louis so, daß der sich darüber empörte und dem Kerl zwei Backpfeifen verabreichte. Der Geohrfeigte sagte: „Machen Sie das noch mal“, und mein Pflegevater reagierte prompt. Damit hatte er sich fünf Wochen Gefängnis eingehandelt. Als der „Einzugsbefehl“ kam, ging Louis an den Bücherschrank, suchte sich einen Stapel Bücher heraus, band sie mit einem Lederriemen zusammen, setzte seinen Waldhut auf und sagte zu seiner Frau: „So Frieda, ich mache 'nüber zur Universität.“ Und dann studierte er fünf Wochen eifrig.
Immer wenn die Familie ohne Arbeit war, gingen wir schon in aller Herrgottsfrühe in den Wald, Pilze und Beeren suchen oder auch Wild beobachten. Louis erkannte alle Vögel am Gesang und konnte auch viele nachahmen. Sicher war es für ihn nicht leicht, all den Unsinn aus meinem Kopf herauszubringen, den meine katholische Mutter und die Mönche hineingebracht hatten. Aber in langen Gesprächen - beim Pilzesuchen und Beerenpflücken, auf Waldspaziergängen und an freien Abenden bis weit in die Nacht hinein - erklärte mir Louis überzeugend, daß nicht Gott die Menschen geschaffen hat, sondern daß die Menschen sich ihre Götter nach dem eigenen Ebenbild schaffen. Er verstand es meisterhaft, schon uns Kindern die Gedanken von Marx, Engels und Lenin verständlich zu machen. Wenn man mich heute manchmal fragt, wie ich Kommunist geworden bin, dann sage ich, daß solch alte Genossen wie Louis Müller, Max Rölz und andere unsere Lehrer waren und an den Sonnabendabenden die Wohnküchen unsere Schulstuben. Später machte uns Louis auch mit Goethe, Schiller und seinem Lieblingsdichter Heinrich Heine bekannt.
Inzwischen war ich längst dem Jung-Spartakus-Bund - der Kinderorganisation der KPD - beigetreten. Wir trafen uns jede Woche einmal mit unseren Pionierleitern auf einer Wiese oder in einer Arbeitergaststätte. Und jeden Sonntag wanderten wir mit dem KJVD1 nach Theuma in die Schieferbrüche, wo auch ein großer Teich war. Dort wurden Kartoffeln am offenen Feuer geröstet, Erbsensuppe gekocht, im See geplanscht und rumgetobt. Manchmal machten wir auch Landpropaganda und verkauften an die Bauern Broschüren oder sammelten für die „Rote Hilfe“. Manche gaben uns ein Stück Speck oder eine Wurst aus der Räucherkammer, andere jagten uns aber auch vom Hof. An eines dieser Wochenenden erinnere ich mich besonders gut. Zu der Zeit hatten meine Pflegeeltern Arbeit. Louis war Gardinensticker, und Frieda mußte fänneln, d. h. bei laufender Maschine gerissene Fäden wieder einfädeln und Hunderte von Schiffchen auswechseln. Da ich auf der Bahn nur den halben Fahrpreis zu zahlen hatte, war es meine Sache, sonnabends nach Plauen zu fahren, die fertige Arbeit abzuliefern und das Geld dafür in Empfang zu nehmen. Eines Sonnabends komme ich nach Hause. Louis fragt nach dem Geld. Ich erschrecke und finde es in keiner Tasche - etwa 140 Mark, Louis’ und Friedas hart erarbeiteter Wochenlohn! Wir suchen überall, sogar im Gully vor dem Haus, aber vergeblich. Ich bin todunglücklich, kann nachts nicht schlafen und will am nächsten Morgen nicht zum Wandertag gehen. Aber Louis meint, das ändert an der Sache auch nichts mehr, geh nur mit. Unterwegs greife ich zufällig in meine Hemdentasche - und habe das Geld in der Hand. Am liebsten wäre ich gleich umgekehrt, aber meine Pionierleiterin wollte die Verantwortung dafür nicht übernehmen. Lieber nähte sie mir die Tasche zu. Als ich diese am Abend zu Hause auftrennte und das Geld auf den Tisch legte, war die Freude natürlich groß.
Wenn abends mit der Stickerei Schluß war, setzte sich meine Tante noch bis 22 Uhr an die Nähmaschine und besserte Fehler in den Gardinen aus. Als Kind und Jugendlicher machte ich mir wenig Gedanken darüber, welche Opfer Louis und Frieda Müller für mich brachten. Die meiste Zeit waren sie arbeitslos. Und obwohl mein Vater als Geschäftsführer der Leipziger Bahnhofsgaststätte gut verdiente, bezahlte er für meinen Unterhalt monatlich ganze 35 Mark. Das reichte nicht einmal, mich satt zu bekommen. Um mir ab und zu ein Paar neue Schuhe oder eine Hose kaufen zu können, trug ich jeden Nachmittag den „Kämpfer“ - eine Arbeiterzeitung - aus. Alles in allem habe ich bei meinen Pflegeeltern eine wunderbare Kindheit verlebt und sie immer als meine wirklichen Eltern geachtet und verehrt.
Ostern 1927 erhielt ich die Jugendweihe. Da mein leiblicher Vater mir im Weinrestaurant des Leipziger Hauptbahnhofs eine Lehrstelle als Kellner besorgt hatte, wurde der Jugendweiheanzug danach vorläufig meine Berufskleidung. Im dritten Lehrjahr durfte ich dann mit Frack bedienen. Mein Chef, Erich Naumann, gehörte zu den reichsten Leuten der Messestadt Leipzig, und das Weinrestaurant war sein Paradepferd. In ihm verkehrten neben Reisenden die Honoratioren der Stadt. Da Essen und Weine preiswert waren, ging es ihm dort wahrscheinlich vor allem um den Kontakt zu einflußreichen Leuten. Um so mehr verdiente er an den mit Ausnahme von Heiligabend rund um die Uhr geöffneten Wartesälen erster, zweiter, dritter und vierter Klasse sowie dem Speisesaal. Jeden Tag und jede Nacht wurde hektoliterweise Fleischbrühe verkauft. An sämtlichen Zügen boten Bahnsteigverkäufer außerdem auch Würstchen und belegte Brote an. Insgesamt beschäftigte Herr Naumann 400 Angestellte, darunter allein 40 Köche. Auf der ganzen Länge des riesigen Bahnhofsgebäudes waren Keller mit Lebensmitteln sowie Weinkeller, Speisefischbassins und eine Fleischerei untergebracht. Einhundert Weinsorten wurden gelagert - von 4,50 Mark die Flasche bis zum „Schloß Johannisberger“, der 120 Mark kostete. Wenn jemand ihn verlangte - und das kam höchstens einmal im Jahr vor - lief eine feierliche Zeremonie ab. Der Direktor ging persönlich mit in den Keller, und der Staub wurde erst vor den Augen des Gastes von der Flasche gewischt. Servieren durfte sie nur der Oberkellner. Ihm unterstanden sechs Kellner und sechs Commis de Rang. Da er dem „Genfer Verband“ angehörte - einer reaktionären Gewerkschaft der Gaststättenangestellten - mußte auch ich dort eintreten. Ich hätte viel lieber einen anderen Beruf erlernt, beispielsweise Autoschlosser oder Förster. Aber der letztgenannte war nur den Söhnen der Reichen vorbehalten. Für die Ausbildung hätte mein Vater 12.000 Mark bezahlen müssen. Und nach einer handwerklichen Lehre wäre man sowieso arbeitslos gewesen. In Deutschland gab es damals 7 Millionen Arbeitslose. Deshalb meinte Vater nicht zu Unrecht, daß ich nach der Lehrzeit in einem so renommierten Gaststättenbetrieb jederzeit auch im Ausland - beispielsweise in der Schweiz - arbeiten könnte.
In Leipzig lernte ich sehr anschaulich kennen, was arm und reich bedeutet. Während mein Pflegevater in Falkenstein für seine vierköpfige Familie wöchentlich 12,30 Mark Arbeitslosenunterstützung bekam, verjubelte mancher Gast bei uns an einem Abend das Zigfache. Jeden Mittwochabend mußte ich in der Wohnung von Herrn Naumann das Abendessen servieren. Da traf er sich mit seinem Sohn und dem Generaldirektor der Maggiwerke zum Skat. Der junge Naumann fuhr das damals teuerste Auto - einen Bugatti - und mußte für seine Raserei laufend Strafgelder bezahlen. Aber er konnte sich sogar problemlos die Teilnahme am ersten Zeppelinflug leisten. Dagegen mußten wir in den ersten beiden Lehrjahren die im Weinrestaurant bestellten Gerichte etwa 60 m weit auf großen Tabletts vom zentralen Speiseaufzug der Wartesäle heranschleppen. Dieser Schinderei habe ich meine spätere Rückgratverkrümmung zu verdanken. Aber einen Fahrstuhl direkt ins Weinrestaurant bauen zu lassen, war einem der reichsten Männer Leipzigs zu teuer. Die Lehrlinge machten das billiger. Die Ausstellung „DiDeGa“ (Die Deutsche Gaststätte) im Messegelände brachte Naumann alljährlich die goldene und silberne sächsische Staatsmedaille ein. Während dieser Zeit mußte ich mit dem Chef täglich zur Ausstellung fahren, um dort eine Hochzeitstafel - mit allem Zubehör einschließlich Blumen - zu decken und den Besuchern während des ganzen Tages zu erklären. Dafür bekam ich dann zehn Mark. Einmal amüsierte ich mich aber heimlich auf Kosten meines Chefs, der sich täglich ein Horoskop stellen ließ. Als er trotz angeblich günstiger Konstellationen beim New Yorker Börsenkrach eine halbe Million verlor, schimpfte er am nächsten Morgen fürchterlich auf seinen Astrologen.
Im Jahre 1929 wurde ich vom KJVD zu einer Versammlung mit Ernst Thälmann eingeladen, der von einer langen Reise durch die Sowjetunion zurückgekehrt war. Ich ließ mir unter irgendeinem Vorwand vorzeitig freigeben, denn nicht einmal mein Vater durfte wissen, daß ich dem KJVD angehörte. Als ich in Arbeitskleidung - also Frack mit steifem weißen Oberhemd und weißer Fliege - im Versammlungslokal erschien, begannen einige über meinen Aufzug zu lästern. Ernst Thälmann, der sich bereits mit ein paar Jugendlichen unterhielt, wurde aufmerksam und sagte: „Der junge Genosse kommt sicher aus einem der Hotels oder Restaurants, wo die Leute verkehren, die Schuld an eurem Elend sind.“ Er schaute auf die Uhr. „Wir haben noch eine Viertelstunde Zeit, vielleicht kann uns der junge Genosse mal erzählen, wie diese Leute so leben, die er da bedienen muß.“ Da ich Speisekarten sammelte, hatte ich eine vom Abend zuvor einstecken. Da war 40 Schwerindustriellen aus dem Ruhrgebiet ein Gedeck mit 18 Gängen serviert worden, welches allein schon 80 Mark kostete. Das war damals so viel, wie zwei qualifizierte Metallarbeiter in der Woche verdienen konnten - vorausgesetzt, daß sie überhaupt Arbeit hatten. Zum Gedeck kamen aber noch diverse Weine, so daß jeder Gast in vier Stunden rund 200 Mark verpraßt hatte. Daran anknüpfend, sagte Ernst Thälmann ungefähr folgendes: „Seht, liebe Genossen, während ihr euch nicht eine Hose auf den Hintern kaufen könnt, leben diese Parasiten wie die Made im Speck. Das allein würde uns berechtigen, dieses Gesindel zum Teufel zu jagen. Aber das ist nicht der Hauptgrund, weshalb wir es unseren sowjetischen Brüdern und Schwestern nachtun wollen. Diese Leute, die da leben wie Gott in Frankreich, sind nämlich die Organisatoren der Kriege, um am Blute von Millionen Menschen Milliarden zu verdienen. Deshalb sind sie unsere Hauptfeinde.“ Und damit hatte er auch gleich einen Übergang zu seinem Reisebericht. Er sprach über die Erfolge, aber auch über die unvorstellbaren Schwierigkeiten, die noch vor den Sowjetmenschen lagen. An diesem Tage waren wir sieben Stunden mit „Teddy“ zusammen, wie er liebevoll von den Arbeitern genannt wurde.
Gegen den Willen meines Vaters bewarb ich mich im Jahre 1930, nach Abschluß der Lehre, im „Hotel Frankfurter Hof“ in Frankfurt/Main. Es gehörte zu einem in vielen Ländern vertretenen Hotelkonzern und konnte für mich beispielsweise zum Sprungbrett in einen der Schweizer Kurorte werden. Als ich nach Frankfurt reiste, enthielt mein großer Überseekoffer zwei neue Frackanzüge, zwölf dazugehörige Oberhemden und alles, was sonst noch gebraucht wurde. Im Hotel „Frankfurter Hof“ konnten in vier Etagen 250 Gäste untergebracht werden. Die meisten von ihnen waren Amerikaner. An Prominenten habe ich dort den indischen Weisen Rabindranath Tagore, viele Filmschauspieler - darunter Lilian Harvey, Willi Fritsch und Max Pallenberg - sowie Staatsmänner, Kirchenfürsten und andere interessante Menschen kennengelernt.
Die Hotelküche lag damals noch im Keller, und wir fünfzehn jungen Kellner mußten sämtliche Speisen auf großen Tabletts achtundzwanzig Stufen hinauf ins Restaurant oder auf die Terrasse schleppen. An manchen Tagen legten wir auf diese Weise bis zu 60 Kilometer zurück und sanken abends todmüde ins Bett. In unseren Dachkammern war es im Sommer so heiß, daß wir die Betten mit Wasser übergossen, um überhaupt schlafen zu können. Im Winter kauften wir von unserem geringen Lohn zusätzlich Decken, weil wir sonst erfroren wären. Unser Dienst begann früh 6 Uhr auf der Etage. Da für Amerikaner das Frühstück die Hauptmahlzeit ist, bedeutete das schwere Arbeit. Nach 10 Uhr hatten wir das gebrauchte Besteck zu waschen und anschließend bis 14 Uhr im Restaurant Dienst zu tun. Dann war für uns Pause bis zum 5-Uhr-Tee in der Halle oder auf der Terrasse, und danach wieder ununterbrochen Dienst im Restaurant oder auf der Etage bis 24 Uhr. Der Oberkellner bestätigte uns die während der Sommersaison geleisteten Überstunden, damit wir sie im Winter abbummeln könnten. Einen freien Tag hatten wir nur ein- oder zweimal monatlich.
Als Etagenkellner sammelte ich Butter, die in den Gästezimmern übrigblieb, Honig, Hörnchen und abgepackten Zwieback. Diesen Vorrat nahm ich gelegentlich mit hinauf zu einem Naturfreundehaus am Feldberg, wo man für 20 Pfennig übernachten konnte. Dort gab es dann jedesmal ein großes Hallo. Wir schrieben 1930/31, und die meisten Freunde waren arbeitslos. Da einer meiner Onkel als Portier am Personalausgang des Hotels arbeitete, wurde mein Rucksack nie kontrolliert. Dank dieses günstigen Umstandes konnte ich das Naturfreundehaus sogar mit allerhand Geschirr ausstatten.
Inzwischen hatten die insgesamt unzumutbaren Arbeits- und Lebensbedingungen bei einigen meiner Leidensgefährten zur Schwindsucht geführt. Deshalb schrieb ich einen Artikel über die schamlose Ausbeutung junger Menschen im noblen Hotel „Frankfurter Hof“, und eine Arbeiterzeitung druckte ihn ab. Die Hotelleitung verklagte das Blatt, es kam zu einem Prozeß, und ich wurde vom Gericht als Zeuge geladen. Das Hotel erhielt 400 Mark Geldstrafe und außerdem einige Auflagen zur Verbesserung der Personalquartiere. Dafür wurde ich wenige Wochen später unter irgendeinem Vorwand entlassen. Als man meine nachfolgenden Bewerbungen überall abschlägig beschied, war klar, daß ich auf einer „schwarzen Liste“ stand und kaum noch Arbeit in der höheren Hotelkategorie bekommen würde. Auf diese Art schützten sich die Hotelkonzerne gemeinsam gegen unbequeme Arbeitnehmer. Das war sozusagen meine erste „revolutionäre“ Tat.
Da meine leibliche Mutter inzwischen wieder Sehnsucht nach mir hatte, packte ich meine Siebensachen und fuhr nach Berlin. Mutter hätte gern ein zweites Mal geheiratet, aber das gestattet die katholische Kirche bekanntlich nicht ohne weiteres. Deshalb faßten sie und ihr Auserwählter den Entschluß, zu Fuß nach Rom zu pilgern und den Papst um Erlaubnis zu bitten. Ich hatte viel Mühe, Mutter diesen Blödsinn auszureden und empfahl ihr, statt dessen lieber aus der Kirche auszutreten. Hernach könne sie ja wieder eintreten. So hat sie es dann auch getan. Aber wieder eingetreten ist sie wohl erst nach dem Tode ihres zweiten Mannes.
Nach meiner Ankunft in Berlin bewarb ich mich bei der Mitropa und wurde für die Saison als Speisewagenkellner eingestellt. Diese Arbeit war als elende Schinderei bekannt. Beispielsweise wurden die 42 Plätze des Speisewagens auf der Strecke Berlin-Westerland dreimal besetzt. Zum Gedeck gehörten Suppe, Fisch, Fleisch und Nachtisch. Danach war noch eine Stunde à la carte-Geschäft, und später servierten wir in der Regel noch einige hundert Portionen Kaffee. Nur der Oberkellner kassierte. Wenn er anständig war, bekam jeder andere Kellner am Ende der Fahrt 3 Mark von seinem meist beträchtlichen Trinkgeld ab. In Westerland angelangt, mußten wir während unserer „Freizeit“ für die Rückreise Kartoffeln schälen und Gemüse putzen. Die vordem dafür eingestellten Westerländer Frauen waren „eingespart“ worden. Unser Monatsverdienst betrug 140 Mark. Trotzdem waren alle froh, Arbeit zu haben. Für mich gab es einen weiteren Vorteil. Während meiner damaligen Mitropazeit war unsere Zeitung „Die Rote Fahne“ oft verboten, wurde aber illegal gedruckt. Einige Exemplare nahm ich dann mit nach Westerland, Karlsbad, Bremen, Hamburg oder wo ich sonst noch hinkam.
Als die Saison zu Ende war, wollte ich nicht mehr bei meiner Mutter in Berlin bleiben, sondern fuhr wieder nach Falkenstein zu den Pflegeeltern. Das mußte ich auch deshalb, weil mich die Berliner Polizei suchte, denn ich hatte mich an nächtlichem Paroleschreiben und Ankleben von Plakaten der KPD beteiligt. Die Kalkfarbe hatten wir in der Badewanne unserer Wohnung angerührt. Glücklicherweise konnte ich gerade noch verschwinden, als die Polizei zur Hausdurchsuchung anrückte. Für uns Jungkommunisten war es aber ein ungeschriebenes Gesetz, keinerlei belastendes Material im Hause zu haben. Dafür gab es besondere Verstecke, die öfters gewechselt wurden. Die Polizei fand deshalb nur eine Bibel und Gebetbücher in der Wohnung und entschuldigte sich bei meiner Mutter. Für diese war der ganze Vorgang allerdings trotzdem völlig ungewohnt und erschütternd.
Dagegen besaßen wir inzwischen bereits eine gewisse Routine. Um möglichst rasch Losungen schreiben zu können, trainierten wir vorher in wenig belebten Straßen. Jeder trug am Gürtel ein Kochgeschirr mit Farbe und Pinsel und hatte nur einen Buchstaben zu malen. Später hielten wir uns in Haustüren oder anderen Verstecken bereit. Sobald die Polizeistreifen vorüber waren, ertönte ein Pfiff- alle kamen heraus, stellten sich nebeneinander auf - und Sekunden später stand eine aktuelle Losung auf dem Pflaster. An einer der belebtesten Ecken Neuköllns - gegenüber dem Kaufhaus Josef -stiegen wir auf das Dach eines vierstöckigen Wohnhauses und warfen nach einem Trompetensignal einige Hundert Flugblätter auf die aufmerksam gewordenen Menschen hinab. Natürlich kamen schon kurz danach die Tschakos der Polizisten aus den Dachfenstern. Ich erinnere mich noch, welche Überwindung es mich kostete, von einem Dach auf ein etwas tiefer gelegenes zu springen, denn es lagen etwa eineinhalb Meter Leere dazwischen. Die uns verfolgenden Polizisten trauten sich jedenfalls nicht zu springen. Manchmal wurden nachts auf gut sichtbare Dächer Losungen geschrieben. Das war eine halsbrecherische Arbeit, selbst für die Genossen am anderen Ende der Halteseile.
Im Berliner Arbeitsamt meldete ich mich „auf Wanderschaft“ ab. Dadurch hatte es die Polizei schwer, den neuen Aufenthaltsort herauszufinden. Arbeitslosenunterstützung bekam ich auch in Falkenstein und an Wochenenden gelegentlich Arbeit als Aushilfskellner bei Tanzvergnügen oder ähnlichem. Auch hier war der KJVD sehr aktiv, vor allem nachts. Als einmal alle Litfaßsäulen mit riesigen Naziplakaten beklebt waren, die den Kopf Hitlers zeigten - darüber stand nur „Hitler“ - fertigten wir Papierstreifen und klebten sie an den unteren Rand. Am nächsten Morgen lachte ganz Falkenstein. Denn da war zu lesen: „sucht eine Frau“. Und jeder wußte, daß Hitler mit Frauen nichts im Sinn hatte. Die Nazis schäumten vor Wut.
Falkenstein liegt an der Göltsch, und dahinter steigt der Mühlberg steil empor, der damals nur mit Heidekraut bewachsen war. Dort hinein steckten wir erst mit Holzstäbchen „Wählt Thälmann - Liste 3“, rührten dann an der Göltsch Kalkbrühe an und gossen die Losung mit Gießkannen nach. In der Nähe bemerkte man von ihr kaum etwas, aber von der Stadt aus sah man sie viele Monate lang leuchten. Dieselbe Losung schütteten wir nachts in die große Wiese eines Nazibauern. Dort sahen sie alle Sonntagsspaziergänger, wenn sie zur gut besuchten Gaststätte „Göltschtalmühle“ pilgerten. Später wiederholten wir das mit schwarzem Grus. Da auf diesem kein Gras wuchs, blieb die Losung lange Zeit sichtbar. Die Nazis glaubten, daß ich der Initiator dieser Aktionen sei und die Methoden aus Berlin mitgebracht hätte. Dem war aber nicht so. Denn unter den jungen Falkensteiner Genossen gab es viele pfiffige und schlagfertige Leute. Als einer von uns auf der Straße Flugblätter verteilte, kam ein SA-Mann, dem er auch eins anbot. „Damit kannst du dir den A... wischen“, meinte der SA-Mann. „Das würde ich dir raten“, parierte unser Genosse, „dann wird dein A... gescheiter als dein Kopf!“ Schallendes Gelächter ringsum. Und in einer Kleinstadt macht so etwas schnell die Runde.
Trotzdem mußte ich oft um mein Leben rennen, wenn mich die Faschisten mit ihren langen Taschenlampen verfolgten, die sie auch zum Zuschlagen benützten. Als die SA einmal nachts das Arbeiterviertel überfallen wollte, schickte man mich und einen anderen Genossen zur Erkundung nach Ellefeld, wo sich eine Kaserne der Nazis befand. Aber unterwegs wurden wir von Motorradfahrern entdeckt und gejagt. Inzwischen hatten die Nazis schon die Straße zum Arbeiterviertel abgeriegelt. Mir gelang der Durchbruch, indem ich mit einer Skibindung um mich schlug, die zufällig in meiner Tasche war. Dann rannte ich nach Hause, blies auf meinem Signalhorn Alarm - und im Handumdrehen waren 400 Männer der Arbeiterwehr auf der Straße, die alle Nazis vertrieben. Am nächsten Tag suchte mich die Polizei, da ich wegen nächtlicher Ruhestörung zur Verantwortung gezogen werden sollte.
Übrigens führten wir bereits damals heiße Diskussionen über die historisch notwendige Vereinigung von KPD und SPD. Mein Pflegevater wandte sich energisch gegen die These, daß diese nur unter Führung der KPD stattfinden könne. Denn darauf hätten sich die Genossen der SPD zu Recht nicht eingelassen. In der Praxis begann die Aktionseinheit bereits zu funktionieren. Wir führten die ersten gemeinsamen Demonstrationen durch, bei denen der Schalmeienzug des Roten Frontkämpferbundes sowie die Kapelle des Reichsbanners spielten. Und wir jungen Genossen vom Kommunistischen Jugendverband trafen uns mit den Mitgliedern der Sozialistischen Arbeiterjugend zu gemeinsamen Diskussionen im Arbeitersportheim.
In der Falkensteiner Gruppe des KJVD lernte ich damals meine spätere Frau kennen. Ihr Vater war Jugoslawe und als Steinbrucharbeiter nach Deutschland gekommen. Da er nur die jugoslawische Staatsangehörigkeit besaß, galten auch seine in Deutschland geborenen Kinder als Jugoslawen, obwohl sie dieses Land nie gesehen hatten. Als ich im Sommer 1932 wieder Arbeit bei der Mitropa bekam, holte ich meine Freundin nach Berlin, wo ich ihr eine Stellung als Dienstmädchen besorgte. Ich selbst wohnte mit meinem ehemaligen Falkensteiner Pionierleiter in der Laube des antifaschistischen Schrifstellers Ludwig Renn, die sich in Ruhleben befand. Als die Saisonarbeit zu Ende war, besohlte ich dort Schuhe für andere Arbeitslose, das Paar für 1,25 Mark. Selbstverständlich arbeitete ich inzwischen auch wieder im KJVD mit.
Im November 1932 hatte ich eine weitere Begegnung mit Ernst Thälmann. Den Höhepunkt der sogenannten „Herbststreikwelle“ gegen die von der preußischen Papen-Regierung erlassene „Notverordnung“ zur Aushebelung sozialer Rechte bildete der Streik der Berliner Verkehrsarbeiter. Ich war Vertreter der KJVD im Streikkomitee Elsenstraße. Plötzlich tauchte Ernst Thälmann dort auf. Es war durchgesickert, daß die Busfahrer vom nahegelegenen Depot Boucheestraße am nächsten Morgen den Streik brechen wollten. Das mußte verhindert werden. Ernst Thälmann fragte: „Wer von euch hat Mantel, Hut und Aktentasche?“ Durch meinen Beruf besaß ich das alles. Teddy sagte: „Du mußt morgen früh noch vor fünf Uhr an der ersten Haltestelle nach dem Depot stehen und den Bus anhalten. Dort im Gebüsch warten die Genossen vom KJVD mit Eisenbahnschwellen.“ Gesagt - getan. Ich stand pünktlich an der Haltestelle. Der Bus kam, ich stieg ein, zeigte dem Schaffner eine Gaspistole und zwang ihn zum Aussteigen. Als Streikbrecher wurde er draußen mit ein paar kräftigen Ohrfeigen empfangen. Inzwischen stand ich schon hinter dem Fahrer und drückte ihm meine „Pistole“ ins Kreuz: „Halt an, oder es knallt!“ Er hielt an und stieg aus. Dann stürmten unsere jungen Genossen mit Eisenbahnschwellen vom benachbarten Streckenbau aus dem Gebüsch, setzten sie als Hebel an, und auf „Hau Ruck“ fiel der Doppelstockbus um. Allerdings hörten wir nun auch schon die Polizei anrücken und wußten, daß sie Schießbefehl hatte. Als ich über die nahegelegene Eisenbahnbrücke ausrücken wollte, liefen von drüben ebenfalls Polizisten heran. Mir blieb nichts übrig, als etwa 4 m tief hinunterzuspringen. Glücklicherweise blieben meine Knochen heil, und ich konnte mich unter der Brücke verstecken, bis die Luft wieder rein war. An diesem Tag fuhr kein Bus mehr aus dem Depot. Und als dies am nächsten Tag mit einer Straßenbahn in Begleitung eines Überfallkommandos von 40 Mann versucht wurde, fand man die Schienen blockiert und die Weichen mit Zement ausgegossen. Es ist übrigens ein Kuriosum, daß neben unseren Genossen auch SA-Leute aus wahltaktischen Gründen als Streikposten vor den Einfahrten zum Depot standen. Trotzdem verlor die NSDAP bei den während dieser Herbststreiktage stattfindenden Reichstagswahlen 2 Millionen Stimmen gegenüber dem Sommer, und jeder sechste Wahlberechtigte wählte die KPD.
Am „Goldenen Sonntag“ vor Weihnachten organisierten wir bei Karstadt auf dem Neuköllner Hermannsplatz eine „Demonstration“. Ein Genosse hielt im überfüllten Warenhaus eine Ansprache, und dann regnete es Flugblätter in die Lichthöfe. Da wir wußten, daß die Überfallkommandos auch hier nicht lange auf sich warten lassen würden, hatten wir zum Schutz unserer Genossen ein Ablenkungsmanöver organisiert. Es bestand darin, daß wir beim Anrücken der Polizei einige Hundert Flugblätter vom Dach des gegenüberliegenden Hauses hinunterstießen. Tatsächlich stürmte die Besatzung zweier Überfallwagen nicht ins Warenhaus, sondern in die Häuser gegenüber. Die dort befindliche Wohnung einer Genossin verließ danach ein „Pärchen“, das den Polizisten leider keine Auskunft über irgendwelche Dachbesteiger geben konnte. Da ich berufsbedingt gepflegte Garderobe besaß, erschien der junge Mann den Knüppelträgern offenbar unverdächtig. Deshalb hatten mir die Genossen diese Aufgabe auch übertragen. Unsere Demonstration ging danach weiter bis zum Cottbuser Tor, obwohl sich die berittene Polizei prügelnderweise hervortat. Ich konnte gerade noch verhindern, daß einer meiner Freunde einen Schlag abbekam, indem ich den Arm des Polizisten ergriff und ihn beinahe vom Pferd gezerrt hätte. Polizeiknüppel hinterließen meist sehr schmerzhafte Platzwunden, die lange nicht abheilten.
Ende Januar 1933 hatte ich mir in der Ruhlebener Gartenlaube Ludwig Renns wieder einen Radioapparat zusammengebastelt und schloß das Gerät gerade an mein eisernes Bettgestell an, das als Antenne dienen sollte. Da hörte ich: „Sieg Heil unserem Führer, er lebe hoch!“ usw. Ich glaubte zuerst an ein Hörspiel, aber mein Kumpel löschte das Licht, ging nach draußen und horchte in Richtung einer SA-Siedlung, die ungefähr 300 Meter von uns entfernt lag. Auch von dort hörten wir Gegröle und Sieg-Heil-Schreie. Es war die Nacht der Machtergreifung Hitlers. Da anzunehmen war, daß die SA über die Gartenlaube des ihr verhaßten Ludwig Renn Bescheid wußte, bereiteten wir uns auf eine eventuelle Flucht vor. Doch zunächst blieb alles ruhig. An einem der nächsten Tage tauchte dann Ludwig Renn bei uns auf. Am Abend wollte er weiter zu Genossen nach Charlottenburg. Wir kochten Pudding und rieten ihm, unterzutauchen. Ludwig ließ sich nicht von seinem Plan abbringen, wollte aber am folgenden Tag wieder zu uns kommen. Als er am Abend noch nicht erschienen war, machte sich mein Kumpel zu einigen Charlottenburger Genossen auf und erfuhr, daß man Renn geschnappt hatte. Der gesamte Häuserblock war von SA umstellt, weil man vor allem Ernst Thälmann dort suchte. Die Nazis unternahmen danach alles mögliche, um Ludwig Renn - der ja eigentlich Arnold Vieth von Golzenau hieß - für sich zu gewinnen. Dazu brachten sie ihn bei einem ihrer Rechtsanwälte unter, der nach einem Vierteljahr folgendes sagte: „Herr Renn, Sie werden inzwischen erkannt haben, welche Aufgabe mir zugedacht war. Aber mir ist längst klar geworden, daß alle Bemühungen in dieser Richtung vergeblich sind. Sie werden nie im Leben Nationalsozialist. Wenn Sie aber noch ein Vierteljahr hierbleiben, bin ich sicher ein Kommunist.“
Im Spanienkrieg war Ludwig Renn Stabschef der Internationalen Brigade. Als ich mich nach fast einem Vierteljahrhundert schriftlich bei ihm meldete, konnte er sich verständlicherweise nicht mehr an meinen Namen erinnern. Aber sein Antwortbrief endete doch mit der Frage: „Sage mal, bist vielleicht der lange Genosse mit der großen Nase, der bei der Mitropa war?“ Danach besuchte ich ihn öfters mal. Er war ein fabelhafter Mensch von großem Fleiß und unvorstellbarer Bescheidenheit. Zu Hause lebte er in spartanischer Einfachheit. Den größten Teil seiner Buchhonorare überwies er der KPD - und das waren einige Millionen.
Der zweite Ehemann meiner leiblichen Mutter war Korrektor bei einer Berliner Arbeiterzeitung und wurde nach der Machtergreifung Hitlers sofort arbeitslos. Das konnte er nur schwer verwinden. Da die beiden danach ihre Wohnungsmiete nicht mehr bezahlen konnten, zogen sie in eine Laube nach Neukölln. Damals wohnten Hunderttausende Berliner in mehr oder weniger selbstgebauten Lauben. Auch ich hatte von einem alten Genossen in Baumschulenweg am Teltowkanal eine Laube für 500 Mark auf Abzahlung gekauft. Meine Jahrespacht in der Kolonie „Arbeitergärten vom Roten Kreuz“ betrug acht Mark. Im Laufe eines Jahres baute ich für 2.000 Mark über der kleinen, windschiefen Laube eine größere Wohnlaube - zwei Räume je vier mal vier Meter, Plumpsklo am Ende des Korridors und eine Pumpe in der Küche. Licht kam von einer Spiritusglühlichtlampe. Auf Elektrizität und Wasserleitung mußten meine Frau und ich - denn ich machte meine „Jugoslawin“ nun zu einer deutschen Ehefrau - verzichten. Um den Speisezettel etwas aufzubessern, hielten wir Hühner, Enten und Karnickel. In dieser Wohnlaube erblickten auch unsere beiden Töchter das Licht der Welt - geholt von einer Tante, die als Hebamme in Neukölln arbeitete.
In den ersten Jahren nach der faschistischen Machtergreifung war ich meist arbeitslos. Man mußte täglich zum Berliner Arbeitsamt fahren, um sich einen Stempel geben zu lassen. Denn wer den nicht hatte, bekam für diesen Tag keine Unterstützung. Allmorgendlich trafen sich auf diese Weise etwa 400 arbeitslose Kellner. Wenn irgendwo eine große Fete stattfand, z. B. im „Roten Rathaus“, wurden einige von ihnen dorthin vermittelt. Die meisten Arbeitslosen warteten bis Mittag auf solche Gelegenheiten und verschwanden danach.
Eines Tages traf ich erst gegen 14 Uhr zum Stempeln ein. Der Arbeitsvermittler hatte den Telefonhörer am Ohr und sagte zum Teilnehmer: „Moment mal, da kommt gerade ein Weinkellner!“ Mich fragte er, ob ich mal im Golfklub arbeiten wollte. Selbstverständlich sagte ich sofort zu. Der Golfklub war eine der exklusivsten Einrichtungen Berlins und lag in Nähe des Wannsees. Später merkte ich, daß dort fast alle in Deutschland akkreditierten Botschafter verkehrten. An meinem ersten Abend war ein Presseball angesagt, der erst fünf Uhr früh endete. Danach gingen die Kellner - sie wurden dort „Diener“ genannt - in die Personalquartiere. Am gleichen Morgen ließ mich der Ökonom ins Büro rufen: Er sei mit meiner Arbeit sehr zufrieden gewesen - ob ich die Saison über im Klub arbeiten möchte? Es gebe anständiges Gehalt, freies Quartier, Essen und Dienstkleidung. Ich wußte gar nicht, wie mir geschah. Auch mein „Chef de rang“, bei dem ich die Nacht über gearbeitet hatte, überraschte mich angenehm - nämlich mit der glatten Hälfte seines nicht unbeträchtlichen Trinkgeldes. So etwas hatte ich bisher nicht erlebt. Der Mann war auch sonst ein Pfundskerl und gab mir danach manchen guten Tip zum zusätzlichen Geldverdienen.
Im Golfklub lernte ich Prominente wie den Kunstflieger Udet und eine Menge schwerreicher Leute kennen - u. a. den amerikanischen Zeitungskönig Hearst. Am liebsten bediente ich die Angehörigen der französischen Botschaft, weil mir ihre Sprache so gut gefiel. Dagegen schickte ich nach Möglichkeit immer einen anderen Kollegen zur Bedienung, wenn „Seine Kaiserliche Hoheit“ in der Uniform eines Standartenführers zum Nachmittagskaffee erschien - obwohl er stets 3 Mark Trinkgeld gab. Er bewohnte auf dem Golfgelände einen Bungalow und holte sich dorthin oft eines der hübschen Mädchen, die den Golfspielern die Schläger hinterhertrugen. Interessant war, daß deutsche Großindustrielle damals zu vermögenden Juden noch ein freundschaftliches Verhältnis hatten, z. B. zum Besitzer des Neuköllner Warenhauses Josef.
Als die Golfsaison zu Ende war, vermittelte mich der Ökonom in den ehemaligen „Kaiserlichen Automobilklub“, der inzwischen „Deutscher Auslandsklub“ hieß und am Leipziger Platz lag. Dort verkehrten im Winter die gleichen Gäste wie am Wannsee. Ich konnte zwar nur als Aushilfskellner beschäftigt werden, aber drei- bis viermal in der Woche hatte ich doch Arbeit. Nun erlebte ich auch einige ehemalige ostafrikanische Kolonialherren wie Herrn von Monteton, Herrn von Zitzewitz, Herrn von Engelbrechten und andere. Sogar den verarmten Herzog von Mecklenburg-Vorpommern durfte ich bedienen. Er erzählte mir, daß er durch das massenhafte Auftreten der Kohlmade um sein gesamtes Vermögen gekommen sei. Ich bedauerte ihn sehr! Als ich später während der Olympiade als erster Diener in einer kleinen Wannsee-Villa arbeitete, bat er mich, seine menschenscheu gewordene Frau mal mit dem Motorboot zur Pfaueninsel zu fahren, um sie abzulenken. In dieser Villa erlebte ich auch den Ozeanüberquerer Lindbergh.
Im Klub am Leipziger Platz konnte ich sogar unerwartet einmal meiner Partei als Kundschafter dienlich sein. Da ich selbst weder rauchte noch trank, war ich bald der einzige Diener, der Konferenzgästen Getränke nachschenken sowie Zigarren und Zigaretten anbieten durfte. Bei den anderen Dienern waren zuvor immer viele Getränke und Tabakwaren verschwunden. An einer dieser Konferenzen nahmen hohe Nazifunktionäre sowie der ehemalige Reichswehrgeneral von Seeckt teil. Es wurde beraten, wie Franco im Spanienkrieg zu unterstützen sei - daß beispielsweise die deutschen Soldaten nicht in Uniformen, sondern in KdF2-Anzügen auf KdF-Schiffen nach Spanien gebracht werden sollten; wo und wie die zerlegten Flugzeuge in Hamburg verladen würden usw. Bis ich die große Tafelrunde bedient hatte, vergingen 15 bis 20 Minuten. Alles, was ich dabei aufschnappen konnte, merkte ich mir und fuhr am nächsten Tag zu einem meiner Genossen nach Neukölln. Dieser organisierte ein Treffen mit einem mir Unbekannten, und einige Nächte später hörte ich meine eigenen Informationen in deutscher Sprache über den Londoner Rundfunk. Mir war danach ein paar Tage nicht ganz wohl in meiner Haut.
Etwa in dieser Zeit besuchte ich meine Pflegeeltern in Falkenstein. Louis Müller war am Tag der faschistischen Machtübernahme verhaftet und 1935 das erste Mal freigelassen worden. (Seitdem stand er unter ständiger Polizeiaufsicht und war auch später wiederholt in Gefängnis und KZ inhaftiert. Er starb am 20. November 1944 als aufrechter Kommunist im KZ Sachsenhausen.) Damals trafen wir uns in seinem Garten mit weiteren Genossen. Louis berichtete von den Grausamkeiten und Mißhandlungen im KZ, durch die täglich 50 bis 60 Todesopfer zu beklagen waren.
Allen war klar, daß es in absehbarer Zeit zum Krieg kommen würde. Die meisten Betriebe waren bereits auf Rüstung umgestellt, und Hunderttausende Arbeiter wurden in kriegswichtige Berufe, vor allem zu Metallarbeitern, umgeschult. Mir wurde geraten, ebenfalls einen Metallberuf zu erlernen. Es war wichtig, mehr Aufklärungsarbeit in den Betrieben zu leisten. Immerhin mußten wir uns darauf vorbereiten, dem bevorstehenden faschistischen Eroberungsfeldzug durch Störung der kriegswichtigen Produktion entgegenzuwirken. Und es schien absehbar, daß man hochqualifizierte Arbeiter nicht bevorzugt zum Wehrdienst einberufen würde, zumal in den Personalabteilungen mancher Betriebe noch unsere Genossen saßen. Nach Berlin zurückgekehrt, befolgte ich diesen Ratschlag. Durch den Vater eines meiner Freunde aus dem KJVD kam ich in eine Weißenseer Maschinenfabrik. In diesem Betrieb arbeiteten eine ganze Reihe Genossen. Einige waren schon im KZ gewesen. Ich bemühte mich, so viel wie möglich von der Kunst des Metalldrehens zu erlernen. Nach einem Jahr wurde mir nahegelegt, in die Askaniawerke überzuwechseln. Als ich dort das erste Mal in die Werkhalle kam und die hochmodernen Maschinen sah, fiel mir das Herz in die Hosentasche. Tatsächlich kapitulierte mancher Anlernling nach kurzer Zeit. Aber meine Meister und die Kollegen halfen mir, so daß ich mich allmählich als Pittlerdreher einarbeitete. Ich mußte ja auch Geld verdienen!
Nachdem ich schon im Jahr 1938 eine dreimonatige Ausbildung bei einer Flakbatterie hatte mitmachen müssen, wurde ich Ende August 1939 plötzlich zur Wehrmacht eingezogen. Mein Meister war der Meinung, daß es sich nur um eine Übung handele. Doch ich wußte: das ist der Krieg. Als er wenige Tage danach begann, wurde unsere 10,5 Batterie in den Warthebruch transportiert. Dort versanken die schweren Kanonen im Schlamm. Das bewahrte uns vor dem Einmarsch in Polen. Danach ging die Fahrt zurück nach Hamburg, wo wir in Nähe der Reemtsma-Zigarettenfabrik den Luftraum schützen sollten. Aus diesen Wochen blieb mir ein schreckliches Erlebnis in Erinnerung, das zeigt, mit welchen Methoden in der faschistischen Wehrmacht operiert wurde. Ein Gefreiter hatte irgend eine Dummheit begangen und kam dafür in Arrest. Als einer der Bewacher seine Zellentür aufschloß, trat der Gefangene einen Schritt heraus, um Feuer für eine Zigarette zu erbitten. Daraufhin zog der Wachhabende seine Pistole und erschoß den Gefreiten. Später sagte er, der Arrestant habe ihn bedroht. Ich hatte diesen Vorfall aus unmittelbarer Nähe miterlebt und wurde vom Batteriechef sofort zum Schweigen vergattert. Die Eltern des Gefreiten erhielten die Mitteilung, daß ihr Sohn „auf dem Felde der Ehre“ für das Vaterland gefallen sei.
Kurz vor Weihnachten 1939 ließ der Batteriechef antreten und verlas einen von Udet unterschriebenen Befehl, wonach ich sofort in die Berliner Askaniawerke zurückzukehren hatte. Dort war ich dann bis Ende 1943 UK-gestellt, d. h. „unabkömmlich“. Während dieser Zeit arbeiteten im Betrieb Tausende Fremdarbeiter aus Frankreich, Holland und Belgien sowie 5.000 Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion. Die meisten von diesen stammten aus der Ukraine. Bevor sie an die Maschinen verteilt wurden, fanden wir in der Lohntüte folgendes Flugblatt:
„Unbedingt zu beachten!
Unter den ausländischen Hilfskräften, die wir im Kriege beschäftigen, befinden sich neuerdings auch sowjetrussische Arbeiter. Für unser Verhalten diesen sowjetischen Zivilisten gegenüber, die an ihrem Arbeitsanzug die Bezeichnung „Ost“ tragen, sind besondere Weisungen erlassen worden:
Danach ist es strengstens untersagt, irgendwelche Gespräche mit den sowjetrussischen Arbeitern zu führen oder sonst mit ihnen auf irgendeine Art und Weise in Verbindung zu treten. Werden dienstliche Gespräche erforderlich, so dürfen sie nur von den damit besonders Beauftragten geführt werden. Die Überschreitung dieser so selbstverständlichen Forderungen ist unter hohe Strafen gestellt. Auch allen übrigen ausländischen Arbeitskräften ist jeder Verkehr mit den sowjetrussischen Arbeitern verboten; auch sie setzen sich schwerster Bestrafung aus, wenn sie die behördliche Anordnung übertreten.
Die erlassenen Verfügungen verpflichten weiter dazu, jeden namhaft zu machen, der gegen das Verbot verstößt.
Arbeitskameraden! Seid vorbildlich in Eurer Haltung! Habt auch die Augen offen. Es darf nichts vorkommen, was die Wehrkraft unseres Volkes irgendwie beeinträchtigen könnte.
Der Betriebsführer“
Wir waren darauf vorbereitet und hatten schon eine halbe Stunde nach Eintreffen der sowjetischen Zwangsarbeiter die ersten Kontakte mit ihnen. Sie wurden geschlossen zur Toilette geführt und mußten an unseren Maschinen vorbei. Vorher hatten wir den jungen Männern eine Schachtel Zigaretten gezeigt. Danach redete ich angeregt mit einem anderen Dreher, während ich sie in einem Putzlappen auf dem Rücken hielt. Und schwupp war die Schachtel weg, als die Kolonne hinter uns vorbeiging. Offenbar hatten sie auf der Toilette brüderlich geteilt. Aber sie besaßen nicht einmal Streichhölzer, die wir danach auch hinüberlancierten. Später wurde es üblich, daß wir etwas Brot oder Obst in unsere Putzlappen wickelten, die in Drahtkörbe gelegt und von den Zwangsarbeitern anschließend zur Reinigung ihrer Maschinen benutzt wurden. Natürlich wußten wir, daß ihr Hunger damit nicht zu stillen war. Besonders die Mädchen fielen oft vor Entkräftung an der Maschine um. Aber diese Menschen sollten wissen, daß es in Deutschland nicht nur Faschisten gab. Einem zehnjährigen Jungen, der den Saal kehren mußte, legte ich jeden Tag eine Tüte mit einem kleinen Stück Brot oder etwas Obst, auch mal ein Bonbon dabei, hinter eine Kellertür. Wenn er an meiner Maschine vorbeiging, zwinkerte er mir zu. Eine vogtländische Genossin gab mir einmal einen Koffer voller Würfelzucker für die Zwangsarbeiter mit. Das war damals eine große Kostbarkeit. Nach einigen Wochen beachtete kaum noch jemand die von der Direktion ausgesprochenen Warnungen. Wir veranlaßten die sowjetischen Zwangsarbeiter sogar zu einem geschlossenen Streik, um sich besseres Essen zu erzwingen. Tatsächlich blieb den Verantwortlichen nichts übrig, als nachzugeben. Mit Ausnahme der bekannten Nazis legten viele Arbeiter von dem wenigen, was sie auf Lebensmittelkarten erhielten, noch etwas in die Körbe. Aus unserem Garten wanderte fast die gesamte Obsternte mit in den Betrieb. Einige der Zwangsarbeiter konnten wir auch mit Unterwäsche und besserer Kleidung versorgen.
Die Askaniawerke Berlin waren für die faschistische Kriegführung von besonderer Bedeutung. Hier wurden sämtliche Navigationsgeräte für Kampfflugzeuge bzw. U-Boote und später auch Teile zur Fernsteuerung der V1- und V2-Raketen gefertigt. Obwohl angeblich nur 25 % dieser modernen Vernichtungswaffen ihr Ziel erreicht haben, fielen ihnen vor allem in London etwa 50.000 unschuldige Menschen zum Opfer. Daß es nicht noch mehr waren, ist vor allem einer geschickten Sabotage in der Endfertigung zu verdanken, die von Zwangsarbeitern aus dem KZ Dora bei Nordhausen durchgeführt wurde. Aber einen Anteil haben zweifellos auch die in den Askaniawerken Berlin aktiven Widerstandsgruppen. Da wir in ständiger Lebensgefahr und deshalb streng konspirativ arbeiten mußten, wußten wir voneinander nichts oder wenig. Viele Zusammenhänge habe auch ich erst nach dem Krieg erfahren.
Nach dem ersten alliierten Luftangriff auf Hamburg schien klar, daß nun bald Berlin an der Reihe sein würde. Deshalb schickte ich Frau und Kinder nach Falkenstein. Kurz danach erlebte die Hauptstadt tatsächlich den ersten verheerenden Bombenhagel, von dem auch die Askaniawerke zu etwa einem Drittel zerstört wurden. Es war eine grauenhafte Nacht, in der wir förmlich in Blut waten mußten. Eine Bombe war auch in den Bunker der Zwangsarbeiter eingeschlagen, unter denen es tragischerweise viele Todesopfer gab. Da wir bei den Löscharbeiten Gasmasken tragen mußten, gelang es mir, im Konstruktionsbüro unerkannt Zeichnungen, Karteien und Einzelteile zu verbrennen. Mich trieb eine wahnsinnige Wut auf jene, die den Krieg vom Zaune gebrochen und derartige Vergeltungsschläge heraufbeschworen hatten. Danach wurde Berlin fast täglich aus der Luft angegriffen.
Ich gehörte zur Widerstandsgruppe um Paul Junius, mit dem ich seit 1938 in einer Abteilung des Askaniawerkes arbeitete. Zur Absprache unseres Vorgehens trafen sich einige Genossen aus der Dreherei meist nach der Arbeit in einem kleinen Getränke-Pavillon außerhalb des Betriebes. Außerdem hörten wir nachts oft gemeinsam Radio Moskau oder BBC London. In der Praxis erwies sich beispielsweise eine Tüte mit Diamantsplittern als besonders wirksam. Nachdem wir sie in den zentralen Schmierölkanister geschüttet hatten, standen viele Maschinen wochenlang still. Keiner der Reparaturschlosser kam den Ursachen auf die Spur. Einer unserer Genossen war zeitweilig in der Spedition tätig und schickte manche für Japan bestimmte Sendung nach Italien oder umgekehrt.
Durch Teilnahme an einem Kursus für technisches Rechnen hatte ich einen Ingenieur kennengelernt. Nach einiger Zeit faßten wir Vertrauen zueinander. Er gab mir Hinweise, wie man Werkstücke so bearbeitet, daß sie am Ende nicht funktionieren, aber einem niemand etwas nachweisen kann. Etwa Anfang 1943 wurde ich an eine Spezialmaschine - ein Feinstbohrwerk - gestellt, mit dem ich Gehäuse für die Rudermaschine der V1-Rakete bis auf Tausendstel Millimeter genau bearbeiten mußte. Das Öl für diese hydraulisch betriebene Maschine war offenbar sehr schwer zu beschaffen. Der Ingenieur riet mir, bei Fliegeralarm eine bestimmte Schraube zu lösen - und tatsächlich stand mein Feinstbohrwerk danach in einer großen Öllache. Nach dem Krieg sollte es Jahrzehnte dauern, bis ich diesen Genossen als Handelsattaché der DDR in Moskau wiedertraf. Dabei stellte sich sogar heraus, daß ich ihm bereits 1936 begegnet war: Es handelte sich bei ihm auch um den Unbekannten, an den ich meine damals im „Deutschen Auslandsklub“ aufgeschnappten Informationen über die Unterstützung Francos weitergeleitet hatte. Sein Äußeres war mir nach dieser kurzen Begegnung nicht mehr erinnerlich gewesen. Er bestätigte mir auch, daß es bei Askania mehrere Widerstandsgruppen gegeben hat.
Der Krieg fraß massenhaft Menschen, und die „Wunderwaffe“ des Führers funktionierte immer noch nicht. Inzwischen arbeiteten wir werktags zwölf und sonntags acht Stunden. Eines Tages kam einer der Direktoren kurz vor Arbeitsschluß an meine Maschine und verlangte - in Vorbereitung eines hohen Besuchs aus Görings Luftfahrtministerium - die Fertigstellung einiger hochkomplizierter Gehäuse noch am gleichen Tag. Da ich dies wegen Ermüdung und mangelnder Konzentrationsfähigkeit ablehnte, beauftragte der Direktor damit trotz meiner Warnung einen Meister, der für seine nazistische Überzeugung und fachliche Unzulänglichkeit gleichermaßen bekannt war. Es kam, wie es kommen mußte: Die Teile landeten im Ausschuß, und die Arbeit eines halben Jahres war unbrauchbar. Nach dem Krieg erklärte mir jener Direktor, daß dieses riskante Ergebnis von ihm beabsichtigt worden sei. Schließlich habe dem Nazimeister niemand Sabotageabsichten zugetraut. Ich kann nicht beurteilen, inwieweit seine Darstellung der Wahrheit entspricht.
Natürlich wurde auch propagandistisch gegen die Nazis gearbeitet. So stand eines Morgens in der Männertoilette folgender Spruch: „Unter der Fahne schwarz-weiß-rot hatten wir alle Arbeit und Brot, unter der Fahne schwarz-rot-gold ist der Rubel auch noch gerollt, unter der Hakenkreuzfahne der stolzen, gehn wir zur Arbeit mit kahlen Bolzen!“ Die Gestapo war sofort vor Ort und machte Verhöre unter den Arbeitern. Noch wilder wurde sie aber während der Volkstrauertage zum Fall von Stalingrad im Februar 1943. Nachdem die Halle wegen Fliegeralarm verdunkelt war und sich die Arbeiter in den Luftschutzkellern befanden, klebten wir einen „Völkischen Beobachter“ aus der Zeit an, als die Deutschen vor Moskau standen. In großen roten Buchstaben prangte die Überschrift: „Der Krieg im Osten ist entschieden!“ Als die Arbeiter nach dem Alarm aus den Kellern kamen, glaubten manche, daß der Führer nun endlich seine „Wunderwaffe“ eingesetzt habe. Bis ein heller Berliner sagte: „Kiekt mal uffs Datum!“ Anschließend spielte die Gestapo umsonst verrückt. Denn wir hatten die angeklebte Zeitung mit Kleister bepinselt, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Am Haupteingang gab es große Abfallbehälter mit Aufschriften wie „Eisen“, „Messing“ oder „Blech“. Im Behälter, wo „Blech“ dranstand, legten wir alte Nazizeitungen so aus, daß man die Überschriften lesen konnte.
Ende 1942 oder Anfang 1943 erhielt ich Post von einem Falkensteiner Schulfreund, der inzwischen in Berlin-Charlottenburg wohnte. In seinem Brief kündigte er den Besuch eines Bekannten an, der mich unbedingt kennenlernen wollte. Da ich einer antifaschistischen Widerstandsgruppe in den Askaniawerken angehörte, war ich sofort alarmiert und lehnte den Vorschlag meines Freundes entschieden ab. Es war bekannt, daß die Faschisten derartige illegale Treffs selbst zu organisieren versuchten, um die Teilnehmer bei dieser Gelegenheit zu verhaften. Trotzdem erschienen nacheinander zwei Männer - Franz Streit und Gustav Wegener - in meiner Laube, die sich auf meine angebliche kommunistische Gesinnung beriefen und mich für die Mitarbeit in einer Widerstandsgruppe zu gewinnen versuchten. Besonders Gustav Wegener wußte sehr viel über meine Arbeit in den Askaniawerken. Als ich dies Paul Junius mitteilte, wollte er vor allem wissen, welchen Eindruck der Mann auf mich gemacht hatte. Nun, einen schlechten eigentlich nicht. Beide waren wir davon überzeugt, daß er wiederkommen würde. Tatsächlich dauerte es nicht lange, und Wegener besuchte mich ein zweites Mal. Er brachte die Beschlüsse der Brüsseler Parteikonferenz der KPD mit, und wir wurden uns einig. Von diesem Zeitpunkt an holte ich mir Flugblätter aus seiner Wohnung ab, die wir über Feldpostbriefe vor allem an Nachrichtensoldaten verschickten. Später erfuhr ich, daß Gustav Wegener zur Leitung der Widerstandsgruppe um Anton Saefkow gehörte. In den Flugblättern wurden die Soldaten aufgefordert, zu bestimmten Zeiten bestimmte Sender zu hören, z. B.
„Der kommandierende General des 51. Armeekorps General der Artillerie Walter v. Seydlitz und andere Offiziere des ‚Bundes deutscher Offiziere’ sowie Soldaten aller Mannschaftsgrade und Unterführerchargen sprechen, neben bekannten Persönlichkeiten aller Schichten des deutschen Volkes, abwechselnd täglich in den Sendungen des Senders ‚Freies Deutschland’ über das Thema:
FORT MIT HITLER - SCHLUSS
MIT DEM KRIEG!
Hört die Morgensendungen um 9.30 und um 10.30 Uhr oder die Abendsendungen um 18.30, 19.40 und um 21.15 Uhr
auf den Kurzwellen im 37,41, 50 und 51 mtr. Band
oder auf Mittelwelle 309 und 492 mtr.
Lesen, merken und an andere Antifaschisten weitersenden.
Berliner Nationalkomitee
‚Freies Deutschland’“
Ende 1943 kam auch für mich der Einberufungsbefehl. Aber nachdem wir 14 Tage in einer Kaserne herumgegammelt hatten, wurden wir wieder in die Betriebe geschickt. Wir sollten nur wiederkommen, wenn man uns dort nicht gebrauchen konnte. Ich überlegte mir die Sache und sagte dann meinem Meister, einem alten SPD-Mann, daß ich lieber zur Wehrmacht gehen würde. Erstens mußte man zu Hause mächtig Kohldampf schieben, während sich die Soldaten eher satt essen konnten. Aber vor allem hatte ich im Betrieb jede Nacht auf einem 26-Meter-Turm bei der Heimatflak Dienst zu tun und sozusagen darauf zu warten, daß mich eine Luftmine von dort oben wegpustete. Viel lieber wollte ich mich bei solchen Gelegenheiten in der Erde verkrauchen. Deshalb meldete ich mich mit Zustimmung meines Meisters bei der Wehrmacht zurück und wurde zunächst zu einem Lehrgang für Waffenwarte nach Halle abkommandiert. Dort ging es vor allem um das sogenannte „Kappa-Gerät“ - ein in den Berliner Askaniawerken hergestelltes Feuerleitgerät für Flakbatterien. Ich teilte das Zimmer mit einem Ingenieur, der ebenfalls nichts für die Faschisten übrig hatte und mir deshalb bald einen guten Rat gab: „Sieh zu, daß Du hier wegkommst. Dieses Gerät hat noch nie funktioniert und wird auch nie funktionieren. Aber wenn du das Monstrum in der Feuerstellung nicht einsatzfähig halten kannst, wird man in deiner Vergangenheit herumschnüffeln, und das kann gefährlich für dich werden.“ Daran zweifelte ich ebenfalls nicht und brachte deshalb den unterrichtenden Unteroffizier mit meiner unglaublichen Vergeßlichkeit allmählich zur Verzweiflung. Meinen desolaten Zustand deklarierte ich als Folge der vorangegangenen Überlastung durch werktags 12 sowie sonntags 8 Stunden Präzisionsarbeit und die allnächtlichen Einsätze bei der Heimatflak. Meine Taktik hatte Erfolg: Eine Woche vor Lehrgangsende wurde ich nach Magdeburg entlassen, wo ich in einer großen Werkstatt für Flak-Kanonen arbeiten sollte.
Die Stadt hatte kurz zuvor einen furchtbaren Luftangriff erlebt. Es gab viele Opfer unter der Bevölkerung, und die Stimmung war gereizt. Als ich in der Werkhalle nach meiner Gewohnheit flott zu arbeiten begann, wurde ich von einem Kumpel zu weniger Hast aufgefordert. Grundsätzlich gehe jede Kanone frühestens nach acht Tagen zurück an die Front, auch wenn sie nur umgefettet werden müsse. Selbstverständlich hielt auch ich mich danach an diese Regel. Von den Kumpeln war nichts zu befürchten. Nur vor dem Inspektor mußte man sich in acht nehmen. Das war ein gefährlicher Nazi.
Anfang Juni 1944 wurde ich aus der Werkstatt zu einer Flakbatterie abgezogen, die nach Landung der westlichen Alliierten in der Normandie auf Güterwagen die Fahrt dorthin antrat. In Frankreich gab es öfters Aufenthalte, weil die Schienen gesprengt waren. Dann mußten wir ausschwärmen, um Partisanen zu suchen - natürlich immer vergeblich. Im Wald von Compiegne wurde der Zug bombardiert, aber nur wenig zerstört. Später passierten wir Güterbahnhöfe, die von Bombenteppichen förmlich umgepflügt worden waren und begannen zu ahnen, was uns erwartete. Nach vielen Tagen erreichten wir das Ziel.
Unsere Aufgabe bestand darin, Abschußrampen für die V1-Raketen zu schützen. Manche von diesen flogen erst einige Kilometer in Richtung England, bogen dann plötzlich im rechten Winkel ab oder kamen auch in unsere Richtung zurück. Dann mußten wir sofort in die Schützenlöcher springen. In der Nähe unserer Feuerstellung befand sich ein Bauerngut, in dem wir gelegentlich eine Flasche Cidre, d. h. Apfelwein, gegen altbackenes Brot eintauschten. Bald merkte ich, daß der Bauer die Nazis aus tiefster Seele haßte. Er versuchte sich mit unseren „Hiwis“ - das waren Gefangene der Sowjetarmee, die bei uns Hilfsdienste leisten mußten - zu verständigen. Das war natürlich strengstens verboten. Einmal überraschte ich sie in seinem Haus beim gemeinsamen Studium eines Lexikons. Er bekam einen tüchtigen Schreck, aber die „Hiwis“ beruhigten ihn. Sie wußten schon, daß ich kein Nazi war. Übrigens verweigerten sie während eines Luftangriffes sogar das Laden unserer Kanone. „Gegen unsere Verbündeten führen wir keinen Krieg“, sagten sie. Zum Glück war der Hauptfeldwebel recht vernünftig und der Batteriechef - ein Oberleutnant - schon längst nicht mehr vom deutschen Endsieg überzeugt. Das ließ ihn wohl über manches hinwegsehen.
Die Mehrzahl meiner Kameraden war bereits älter als 30 Jahre und hatte vom Krieg die Schnauze gestrichen voll. Deshalb versuchten wir, über den Bauern Verbindung zur französischen Widerstandsbewegung zu erlangen und bereiteten gemeinsam mit dem Hauptfeldwebel unsere planmäßige Gefangennahme durch die rasch näherrückenden Amerikaner vor. Die Verwirklichung dieses Planes erlebte ich nicht mehr, da man mich im August 1944 verhaftete. Die Gestapo hatte mich erst auf Umwegen ausfindig machen können, während die Berliner Paul Junius, Franz Streit sowie einige andere mir bekannte Genossen bereits eher verhaftet und noch im gleichen Jahr hingerichtet wurden. Während des Transportes nach Berlin hätte ich mehrfach fliehen können. Aber es war bekannt - und man hatte auch mir damit gedroht - daß sich die Nazis in solchen Fällen an den Familien rächten.
Zunächst brachte man mich zum Gestapo-Hauptquartier in die Prinz-Albrecht-Straße. Wer diesen Namen hörte, den überlief es eiskalt. Denn die meisten Gefangenen kamen dort nicht mehr lebend heraus. Deshalb war ich froh, daß man den Wehrmachtstransport zuständigkeitshalber nach Moabit überwies, von wo ich ins Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis Tegel kam. Unterbringung und hygienische Verhältnisse waren entsetzlich und sind fast nicht zu beschreiben. Wir vegetierten zu dritt in einer stinkenden Zelle von sechs Quadratmetern, und bereits in der ersten Nacht fielen mir vom Oberbett Wanzen in den Mund. Ich habe mich furchtbar geekelt, ganz zu schweigen davon, wie uns diese Blutsauger quälten. Es gab nur winzige Verpflegungsrationen, die unausweichlich zu starkem Gewichtsverlust und Kräfteverfall führten. Außerdem bekamen wir zu dritt jeden Tag nur zwei Liter Wasser. Deshalb durfte sich nur einer am Tage von oben bis unten waschen. Mit demselben Wasser wurde dann auch der Zellenfußboden aufgewischt. Wer sich beim Wachpersonal unbeliebt machte, kam in den „Bunker“. Das war eine Zelle im Erdgeschoß, hinten und vorne eine Tür aus Gitterstäben, wie ein großer Vogelkäfig, ohne Pritsche oder Stuhl, kalter Zementfußboden, kein Kübel für die Notdurft. Jeden Morgen wurde der Bunker mit einem scharfen Strahl Wasser ausgespritzt, und oft bekam dabei auch der Gefangene eine Dusche ab. Im Winter endete das mit einer Lungenentzündung oder mit dem Tod.
Wie barbarisch man mit Kranken umging, habe ich erlebt, als nach einiger Zeit mein Oberkiefer vereiterte. Ich hatte unerträgliche Schmerzen und mußte trotzdem viele Tage warten, ehe ich zum Zahnarzt gebracht wurde. Seine Praxis befand sich in einer Zelle. Zuerst mußte man sagen, weshalb man inhaftiert war. Als ich meldete: „Vorbereitung zum Hochverrat“, meinte der Arzt: „Ach, da ist die Kohlrübe ja sowieso bald ab!“ Dann mußte ich mich auf den OP-Stuhl setzen, und der Kerl riß mir ohne Betäubung vier Zähne heraus. Offenbar bin ich ohnmächtig vom Stuhl gekippt. Als ich wach wurde, lag ich in einer Wasserlache und bekam gerade noch einen Schwapp Wasser über den Kopf. Danach wurde ich wieder in meine Zelle geschafft.
Zuvor war ich eines Morgens von der Gestapo in das Polizeipräsidium am Alexanderplatz gebracht und dort verhört worden. Es ging um die Materialien der Brüsseler Konferenz sowie um Flugblätter, die wir von der Saefkowgruppe erhalten und an die Front geschickt hatten. Über meine Arbeit in einer Widerstandsgruppe des Askaniawerkes wußte man offenbar nichts. Da man mich im Verlaufe des mehrstündigen Verhörs nicht kirre machen konnte, teilte man mir am Ende mit, daß ich mit der dreifachen Todesstrafe zu rechnen habe. Auf meine Bemerkung, man könne nur einmal sterben, wurde erwidert, daß bei einfacher Todesstrafe ein Gnadengesuch möglich, bei dreifacher aber aussichtslos sei. Danach kam ich in Tegel auf die schwerste Abteilung: Spionage, Hochverrat. In meiner Haftzeit erlebte ich elfmal, daß zwei Mitgefangene aus meiner Zelle geholt und - mit Handschellen gefesselt - in die Todeszellen gesperrt wurden. Von dort wurden sie am anderen Morgen zur Erschießung nach Torgau gebracht.
Wenn es ums Leben geht, beobachtet man seine Umgebung sehr genau. Bald wußte ich, welche Wärter Schweinehunde waren, die ihre Gefangenen mit Genuß quälten, und welche sich in dieser schrecklichen Umgebung ihre Menschlichkeit bewahrt hatten. Zu letzteren gehörte offenbar der Unteroffizier Heinrich Kilger3. Wie ich nach dem Krieg erfuhr, war er nach einer schweren Verwundung als „nicht mehr frontverwendungsfähig“ nach Tegel abkommandiert worden. Hier gehörte er bald zu einer kleinen Widerstandsgruppe des Gefängnispersonals, die mehreren Gefangenen - meist bei der Überführung zum Gericht - zur Flucht verhalf. Natürlich ahnten die meisten Häftlinge nichts davon. Doch als ich eines Abends allein war, weil man erneut zwei Todeskandidaten aus der Zelle geholt hatte, hörte ich Unteroffizier Kilger vor meiner Tür mit einem Wachsoldaten über den Krieg sprechen. Es war faszinierend, wie geschickt er den jungen Menschen zu der scheinbar selbständigen Schlußfolgerung brachte, daß Deutschland den Krieg längst verloren hatte. Offenkundig war Kilger ein sehr kluger Mensch und möglicherweise sogar durch die Schule der KPD gegangen. Ich mußte unbedingt mit ihm ins Gespräch kommen. Die Gelegenheit ergab sich durch einen Kurzschluß. Wahrscheinlich hatte ein Gefangener versucht, sich dadurch Feuer für die Zigarette zu beschaffen. Der Unteroffizier mußte den Missetäter suchen und schloß auch meine Zellentür auf. Ich war wieder einmal allein. Nach wenigen Sätzen - ich hatte eben seine Frage nach dem Grund meiner Inhaftierung beantwortet - setzte ich alles auf eine Karte und sagte: „Herr Unteroffizier, Sie sind doch auch kein Nazi!“ Er „Wie kommen Sie denn darauf?“ „Wer so diskutiert wie Sie neulich vor meiner Zelle, der muß durch unsere Schule gegangen sein!“ „Durch was denn für eine Schule?“ „Durch die Schule der KPD?“ Ich hatte ganz leise gesprochen, aber Kilger legte erschrocken den Finger an den Mund. „Das darf hier kein Mensch auch nur ahnen.“ Danach verabredeten wir, daß ich ihn nach Bekanntwerden meines Gerichtstermins sofort informieren würde. Es müsse versucht werden, mich „prozessunfähig“ zu machen. Das sei die einzige Möglichkeit, mir das Leben zu retten.
Anfang 1945 teilte man mir den Prozeßtermin mit, und ich gab Heinrich Kilger das verabredete Zeichen. Meine beiden Mitgefangenen wurden verlegt, und am nächsten Morgen kam der Leiter der Sanitätsstelle, Leutnant Schmidt, in meine Zelle. Er war deutschnational orientiert, haßte aber die Nazis ebenfalls. Sein künftiger Schwiegervater war nach dem 20. Juli 1944 verhaftet worden, und die Braut befand sich mit ihrer Mutter in Sippenhaft. Bevor mir dieser Leutnant eine Spritze gab, meinte er, daß ich erst in Buch wieder aufwachen werde und mich dort so lange als möglich halten solle. „Es wird ein kleiner Herzfehler zurückbleiben, aber das ist immer noch besser, als wenn du morgens aufwachst und hast keinen Kopf mehr!“ Tatsächlich konnte ich mich im Krankenhaus einige Wochen halten, aber dann mußte ich wieder nach Tegel. Inzwischen hörte man von der Oder her schon den Donner der sowjetischen Artillerie. Wahrscheinlich veranlaßte dies den Volksgerichtshof und das Kriegsgericht, sich aus Berlin nach Süddeutschland abzusetzen. Dabei nahm man aus Tegel noch 300 Gefangene mit, um sie dort mit deutscher Gründlichkeit abzuurteilen. Auf der Liste soll auch mein Name gestanden haben. Aber Abteilungsleiter Linke hatte dahintergeschrieben: „Nicht prozessfähig“.
Am 25. April 1945 kämpfte die Sowjetarmee bereits in der Nähe unseres Gefängnisses. Deshalb wurden wir Gefangenen durch den Tegeler Forst ins Zuchthaus Spandau überführt. Unterwegs informierten uns Kilger und Linke darüber, daß man dort Kampfgruppen zusammenstelle und gegen die Rote Armee einsetze. Wir sollten keinesfalls den wahren Grund unserer Inhaftierung, sondern leichtere Delikte wie „unerlaubte Entfernung von der Truppe“ angeben. Damit könnten wir der Erschießung entgehen. Nach einer furchtbaren Nacht - das Zuchthaus lag unter ständigem Beschuß - wurden wir aus den Zellen herausgeholt. Ein SS-Major verkündete uns, daß wir nun gutmachen könnten, was wir verbockt hätten. Gemeinsam mit den aus dem Westen anrückenden Amerikanern würden wir die Bolschewiken wieder aus Deutschland hinausjagen. Im gleichen Moment wurde der Hof des Zuchthauses unter Artilleriebeschuß genommen. Wir flüchteten sicherheitshalber zurück in die Zellen, und der Major lag in Deckung hinter einer Eisentreppe. Als es wieder still wurde, rannte er zu seinem Motorrad - und weg war er. Zunächst waren wir ziemlich verdutzt. Aber da offenbar auch die Wachmannschaft bereits getürmt war, verließen wir truppweise das Zuchthaus.
Einige Tage lang versteckten wir uns zu dritt in Kellern oder auf Dachböden. Zuletzt war ich nur noch allein, wurde aber von den Bewohnern eines Hauses im Keller entdeckt und wollte sicherheitshalber das Weite suchen. Allerdings kamen mir draußen auf der Straße gleich zwei „Kettenhunde“ - so wurde die Feldgendarmerie von uns genannt - entgegen. Sie waren ebenso gefürchtet wie die SS, weil jeder angebliche Deserteur oder Verräter von ihnen sofort erschossen bzw. aufgehängt wurde. In den zurückliegenden Tagen hatte ich selbst mit ansehen müssen, wie ein etwa vierzehnjähriger Hitlerjunge, der sich aus Angst in einer Nische verkrochen hatte, erschossen wurde. An der letzten intakten Havelbrücke hatte man einen Soldaten erhängt, mit einem Schild um den Hals: „Ich bin ein Verräter!“ Als sich ein sowjetischer Panzer an der Brücke blicken ließ, wurde in einem nahegelegenen Haus die weiße Fahne gezeigt. Nachdem der Panzer abdrehte, holte man den Mann aus dem Haus, erschoß ihn und warf seine Leiche in die Havel.
Ich war noch immer in Uniform und hielt es deshalb für das Beste, auf die „Kettenhunde“ zuzugehen und sie anzusprechen: „Kameraden, wo kann ich mich melden, daß ich wieder zu einer Truppe komme?“ „Wo kommst du denn her?“ fragten sie. „Ich war beim Iwan in Gefangenschaft, aber ich konnte wieder türmen!“ „Mensch, sei froh!“ „Ja schon, aber die haben mir alle Papiere abgenommen.“ „Schiet auf die Papiere! Melde dich dort drüben!“ Sie zeigten auf ein gegenüberliegendes Haus und beobachteten danach, daß ich ihren Befehl befolgte. Im Haus wurde ich einer Gruppe von neun erfahrenen Frontsoldaten zugeteilt, die alle schon im Osten gekämpft hatten. Ich versuchte ihnen zwar vorsichtig klarzumachen, daß weiterer Widerstand nach Lage der Dinge sinnlos sei. Aber sie wollten lieber verrecken, als in russische Gefangenschaft geraten. Nach einiger Zeit tauchte ein Polizeihauptmann auf, offenkundig ein fanatischer Nazi. Wir mußten uns Waffen von Gefallenen aussuchen, und er postierte uns in einem Bunkerausgang am Spandauer Südpark. Er selbst legte sich mit einem leichten Maschinengewehr oben auf den Bunker. Nach kurzer Zeit beobachteten wir, daß Rotarmisten in die Häuser der nahegelegenen Wohnsiedlung stürmten. Das MG des Hauptmanns hatte Ladehemmung, und von uns schoß auch niemand. Der Kommandeur fluchte und kam zu uns herunter. Als er sah, daß ich meinen italienischen Karabiner vergeblich mit deutscher Munition zu laden versuchte, wollte er wissen, wie lange ich schon Soldat sei. „Ich bin erst vor acht Tagen eingezogen worden“, antwortete ich. „Um Gottes Willen, solche Leute schickt man mir!“
Kurz danach sahen wir eine Frau mit ihrem Kind auf dem Arm und einer kleinen weißen Fahne kommen. Die Russen hatten sie geschickt. Der Krieg sei zu Ende, und man wolle kein unnötiges Blutvergießen. Wir sollten den Bunker ohne Waffen verlassen, und sie würden nicht schießen. Man gab uns eine Viertelstunde Bedenkzeit. Doch die Antwort des Hauptmanns lautete: „Wir kämpfen bis zur letzten Patrone!“ Weinend ging die Frau zurück, und es begann eine der schlimmsten Viertelstunden meines Lebens. Aber danach kam ein zweiter Parlamentär - diesmal war es ein Mann. Dasselbe Ultimatum, dieselbe Antwort des Hauptmanns, und auch nach der folgenden Viertelstunde kein Angriff von drüben. Statt dessen wurden wir vom Balkon des Wohnhauses mit Megaphon angesprochen und erhielten die allerletzte Bedenkzeit. Nun schien es unserem Kommandeur doch mulmig zu werden, denn er befahl die Truppe zum Hinterausgang. Ich blieb trotz mehrfachen Anrufs zunächst vorn und dachte an das weiße Tuch in meinem Stiefelschaft, das ich zum Überlaufen benutzen wollte. Aber als ich einmal nach hinten schaute, hatte ich neun Gewehrläufe im Rücken. Zweifellos hätten die „Kameraden“ auf mich geschossen. Also meldete ich mich beim Hauptmann und erhielt den Befehl, beim nahegelegenen Stab Verstärkung anzufordern. Zum Schießen war ich ja nicht zu gebrauchen! Dieser Befehl rettete mir das Leben. Ich rannte in den Park und verschwand in einem Schützenloch. Dort wollte ich warten, bis die Rote Armee das Gelände überrollt hätte. Denn deren Geduld war nun erschöpft, und der Bunker wurde unter Granatwerferbeschuß genommen. Im Schutz dieser Feuerwalze arbeiteten sich die Rotarmisten im Straßengraben an den Bunker heran. Als dann die ersten deutschen Soldaten herausstürmten, traten die furchtbaren Flammenwerfer in Aktion. Die Männer wurden zu lebenden Fackeln und verbrannten unter fürchterlichen Schreien.
Bis zur Dunkelheit blieb ich in meinem Loch. Da das Gelände noch nicht überrollt war, zog ich mich danach von der Frontlinie zurück und fand in einer Laubenkolonie Unterschlupf sowie Zivilkleidung, die ich über die Uniform zog. Eigentlich wollte ich dort in einem offenbar selbstgebauten kleinen Bunker den nächsten Morgen abwarten, denn das Gelände lag unter Artilleriebeschuß und die nahegelegenen Häuser brannten bereits. Doch plötzlich hörte ich gellende Hilferufe. Nach anfänglichem Zögern kroch ich aus meinem Unterstand. Unweit davon bot sich mir ein grauenhaftes Bild: Vier Jungen in Werwolfuniform lagen tot übereinander, ein fünfter auf ihnen. Ihm hatte es beide Beine abgerissen. Dem sechsten war wie durch ein Wunder nichts passiert. Er hatte um Hilfe gerufen. Danach nahmen wir den Jungen ohne Beine und trugen ihn in ein Wohnhaus. Dort trommelte ich die Leute aus dem Keller und verlangte Verbandszeug. Aber es gab nichts mehr, was man zum Verbinden hätte nehmen können. Die letzten Worte des Jungen werde ich nie vergessen: „Warum seid ihr so grausam zu mir, helft mir doch, ich will zu meiner Mutti!“ Dieses furchtbare Erlebnis weckte in mir den Wunsch, Lehrer zu werden, falls ich mit dem Leben davonkam. Nie wieder sollten junge Menschen für grauenhafte Kriege mißbraucht werden können.
Am nächsten Morgen, es war der 1. Mai, lief ich zur Sowjetarmee über und wurde nach einem kurzen Verhör - da ich meinen im Uniformfutter eingenähten Gefangenenschein der Gestapo vorzeigen konnte - nach Hause entlassen. Damit begann für mich ein zweites Leben. Im Jahre 1946 wurde ich Lehrer und hatte danach das große Glück, viele junge Menschen heranwachsen zu sehen und bilden zu helfen, die sich unserem antifaschistischen Kampf sowie den sozialistischen Idealen zutiefst verpflichtet fühlten und denen in der DDR alle Entwicklungsmöglichkeiten offenstanden. Allen zeitweiligen historischen Rückschlägen zum Trotz stehe ich auch am Ende meines Lebens zu dem, was Erwin Geschoneck einmal so ausdrückte: „... Man muß unserer Sache treu bleiben, denn es ist die beste Sache der Welt. Manchmal muß man für sie reden, manchmal schweigen, mit zusammengebissenen Zähnen, mit geballter Faust, wie der Kampfes erfordert. Immer aber muß man für sie kämpfen - mit Herz, Hirn und Kraft, mit dem Besten, was man hat.“
Gerhard Zeidler
1 KJVD - Kommunistischer Jugendverband Deutschlands
2 27 KdF - „Kraft durch Freude", nationalsozialistischen Propagandazwecken dienende Urlaubs- und Freizeitprojekte
3 Die nachfolgenden Angaben über die Widerstandsgruppe um Heinrich Kilger und Helmuth Linke wurden von anderen Häftlingen bestätigt. Sie rettete mehrere Antifaschisten vor dem sicheren Tod. Heinrich Kilger wurde später Bühnenbildner des Deutschen Theaters und erhielt im Jahre 1970 den Nationalpreis der DDR.
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