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Mein Vater fuhr den Panzern entgegen

 Im Januar 1944 hatten die Luftangriffe der Alliierten auf das „Großdeutsche Reich“ beträchtliche Ausmaße angenommen, und die Naziführung bekam Angst um ihren militärischen Nachwuchs. Deshalb wurde auch unsere Schulklasse aus Magdeburg in die Altmark evakuiert. Das Ganze nannte sich „Kinderlandverschickung“ und die Einrichtungen hießen „KLV-Lager“. Unser Lehrer fuhr mit, und die Hitlerjugend fügte einen Lagermannschaftsführer hinzu. So war für Unterricht und Jungvolkdienst gleichermaßen gesorgt; und außerdem mußten wir in der Landwirtschaft helfen.

Wir waren privat bei den Dorfbewohnern untergebracht und hatten sehr unterschiedliche Bedingungen. Diese hingen vom Wohlwollen, dem Berufsstand und der politischen Einstellung unserer Pflegeeltern ab. Ich hatte es ganz gut getroffen, denn „meine Leute“ waren Handwerker und Gewerbetreibende. Umstellen mußte sich aber jeder von uns: In der Altmark grüßte man noch stramm mit „Heil Hitler“. Wer das in der Schule oder beim Kaufmann vergaß, mußte anschließend den Eintritt noch mal versuchen.

Die Monate vergingen. Wir hatten uns eingewöhnt und fanden das Leben auf dem Lande inzwischen interessanter als in der Stadt. Unser Verhältnis zu den einfachen Leuten im Dorf, aber auch zu den Evakuierten, zu Kriegsgefangenen und ausländischen Arbeitern vieler Nationen war gut. Lehrer und HJ-Führer kritisierten uns deshalb oft.

Der kleine Ort hieß Hindenburg und lag in der friedlichen Landschaft des Kreises Osterburg, nicht sehr weit von der Elbe und von Stendal entfernt. Aber - ob wir wollten oder nicht - der Krieg schlug immer mehr auf unser Dorf zurück. Da kamen Urlauber von der Front, auch Verwundete; und das Trauergeläut der Kirchenglocken verkündete immer öfter den nächsten Gefallenen. Im täglichen Leben begannen die Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter mehr Selbstbewußtsein zu zeigen. Und über unsere Köpfe hinweg zogen riesige Bombergeschwader, ungestört durch deutsche Jäger und zunehmend auch am Tage, mit ihrer todbringenden Last in Richtung Berlin und anderer Städte. Nach der alliierten Invasion in Westeuropa kamen immer öfter und stets unerwartet die Jagdbomber hinzu. Den Luftkrieg hatten Amerikaner und Engländer also schon gewonnen, als Ende März 1945 die Front der Naziwehrmacht im Osten wie im Westen zusammenbrach. Ihre schweren Bombenangriffe richteten sich vor allem gegen zivile Ziele. Auch Magdeburg erlitt schwere Schäden, und am 16. Januar 1945 wurde die Innenstadt völlig zerstört.

Danach entwickelte sich mein neuer Wohnort zum Sammelpunkt der Familie. Zuerst kamen meine Mutter, mein Bruder und eine total ausgebombte Tante. Sie erhielten eine behelfsmäßige Unterkunft, in die auch ich einzog. Wenig später stieß meine eigentlich für die Nordhäuser Junkerswerke dienstverpflichtete Cousine zu uns. Als beim weiteren Vordringen der Alliierten Feindalarm für Magdeburg ausgelöst wurde, machte sich mein 15jähriger Cousin auf die Beine. Er war als Flakhelfer an den Magdeburger Eisenbahnbrücken stationiert gewesen. Kurze Zeit später erschien auch mein Vater, der bis dahin als Stahlschmelzer bei Schäffer und Budenberg gearbeitet hatte und nun seiner Einberufung zum Volkssturm entgehen wollte. Ihn und meinen Cousin hielten wir versteckt, denn noch waren die Nazis an der Macht.

Mittlerweile wurde in den Dörfern die „Verteidigung der Heimat“ organisiert. Dafür mußten auch in Hindenburg Panzersperren gebaut werden, der Volkssturm führte Übungen durch und eine aus etwa 30 älteren Soldaten bestehende Luftwaffeneinheit - ehemaliges Bodenpersonal von Flugplätzen - wurde umstrukturiert. Das Kommando übernahmen gediente SS-Offiziere bzw. SS-Unterführer, und die Soldaten erklärte man ebenfalls zu SS-Angehörigen.

Im Dorf herrschten zu diesem Zeitpunkt bereits geteilte Auffassungen. Während einige noch von Verteidigung und Endsieg mittels der „Wunderwaffen“ des Führers redeten, schätzten andere die Lage zunehmend realistischer ein. Die einfachen Menschen hielten den Krieg der Nazis für verloren und sorgten sich nun hauptsächlich darum, wie die Sieger mit uns umgehen würden. Aber selbst die ausländischen Arbeiter und Gefangenen wagten angesichts der SS-Einheit keine Aktionen gegen den Krieg.

Am Vormittag des 13. April 1945 wurde plötzlich Feindalarm gegeben. Es hieß, daß nördlich amerikanische Panzerspitzen aufgetaucht seien und sich dem Dorf aus Richtung Busch und Iden näherten. Daraufhin zog ihnen jene SS-Einheit über Feldwege und Wiesen entgegen. Vorher forderte ein Großbauer die Einheit und ihren Kommandeur zum Rückzug auf und wurde daraufhin mit der Schußwaffe bedroht. Dieser Mann hatte bisher selbst zu den Nazis gehört, erwies sich aber nun als ziemlicher Realist.

Meinen Vater hielt es inzwischen nicht länger in seinem Versteck. Unmittelbar nach dem Feindalarm hatte er Kontakte zu den einfachen Dorfbewohnern und den ausländischen Arbeitern aufgenommen. Nach dem vergeblichen Versuch des Großbauern nahm er nun sein Fahrrad und fuhr den amerikanischen Truppen entgegen. Unterwegs stellte er fest, daß die SS-Einheit einen Hinterhalt aufgebaut hatte und die US-Truppen offenbar überraschend mit Panzerbüchsen sowie Maschinengewehren angreifen wollte. Mein Vater umging die Stellung weiträumig und erreichte bald die Panzerspitze. Hier machte er den US-Soldaten die Situation deutlich. Gleichzeitig erklärte er ihnen aber auch, daß in Hindenburg selbst keine Gefahr zu erwarten sei. danach stieg er mit auf einen Panzer - und los ging die Fahrt, die darüber entschied, ob ein Dorf bestehen blieb oder viele Menschen noch kurz vor Kriegsende würden sterben müssen. Etwa in Höhe des Hinterhalts schwenkten die Panzer und Panzerspähwagen ihre Waffen in dessen Richtung. Daraufhin verließen die zur SS gepressten Luftwaffensoldaten fluchtartig die Stellung und suchten das Weite oder begaben sich in Gefangenschaft.

Währenddessen hatte der Hindenburger Pfarrer für die vernünftigste Tat seiner Gemeinde in diesem Krieg gesorgt, indem er weiße Tücher an den weithin sichtbaren Turm der alten Wehrkirche hängte. Das Dorf blieb, weil es friedlich war, unzerstört. Von den Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern wurden die US-Truppen begrüßt, aber auch allen anderen war klar: Hitler hatte den Krieg verloren.

Auf Befehl der Amerikaner mußten sämtliche Dorfbürgermeister wenige Tage später nach Gardelegen fahren, um dort die grausigen Spuren eines Verbrechens der SS zu besichtigen, die kurz vor Kriegsende zahlreiche Menschen auf bestialische Weise erschossen oder verbrannt hatte. Aber als unser Bürgermeister in einer Gemeindeversammlung darüber berichten mußte, glaubten viele Bürger seinen Worten nicht. Sie konnten sich nicht vorstellen, daß deutsche Menschen unter dem Faschismus derart verkommen waren.

Ganz sicher hätte in den letzten Kriegstagen mit etwas mehr Mut und Tatkraft mancherorts in Deutschland noch viel Elend und Tod vermieden werden können. Aber das über Jahrhunderte eingedrillte Obrigkeitsdenken, verbunden mit Resten militaristischer und faschistischer Ideologie, wirkt selbst bis in die heutige Zeit hinein.

Mein Vater brüstete sich nie mit seiner Tat. Ich erfuhr auch erst später, daß er seit 1923 Mitglied der KAPD1 und schon lange vor Hitlers Machtergreifung ein konsequenter Antifaschist gewesen war. Seine Mutter, Spartakistin und begeisterte Anhängerin Rosa Luxemburgs, hatte ihn zum Humanisten erzogen. Er ging auch danach unbeirrt diesen Weg, erwarb sich zunächst große Verdienste bei der Herstellung der Einheit der Arbeiterklasse in Sachsen-Anhalt und war von 1948 bis 1950 SED-Parteiseketär im Krupp-Gruson-Werk Magdeburg, dem späteren Flaggschiff des VEB Schwermaschinenbau „Ernst Thälmann“. Vaters offene, proletarische Art verschaffte ihm zwar die Sympathien der einfachen Menschen, jedoch nicht die der bürokratischen Stalinisten seiner Partei. Aufgrund falscher Anschuldigungen mußte er sogar eine Zuchthausstrafe verbüßen, blieb aber auch danach stets ein engagierter DDR-Bürger. Inzwischen wurde er rehabilitiert und ist heute noch - als Neunzigjähriger - Mitglied der PDS. Er ist stolz darauf, nun bereits im achten Jahrzehnt einer Partei seiner Klasse anzugehören, die ihre Arbeit im Sinne von Karl Marx organisiert und den Menschen einen Weg für das Leben weist. 

Jonny Haegebarth


1 KAPD - Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands


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