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Durch Erfahrung kuriert

 Ich wurde 1932 geboren und bin als Arbeiterkind in Leipzig-Lößnig (einem Vorort im Süden Leipzigs) aufgewachsen. Mein Vater war Feinmechaniker, und Mutter verdiente als „Aufwartung“ bei fremden Leuten etwas Geld dazu. Beide waren während der Weimarer Republik Sozialdemokraten gewesen und versuchten später durch allerlei Tricks, mich auf unauffällige Art nicht allzu sehr dem faschistischen Einfluß auszusetzen. Mutter schaffte es auch, mir die harten Geländespiele und brutalen Umgangsformen des Jungvolks zu ersparen. Ich sang im Schulchor der höheren Schule; also riet sie mir, in der „Bannsingschar Leipzig“ der Hitlerjugend mitzumachen. Trotzdem wurde natürlich mein Weltbild - genau wie das meiner Altersgefährten - durch die faschistische Ideologie geprägt

Allerdings nahm ich in dieser Zeit auch Erlebnisse in mich auf, die mir den späteren Erkenntnisprozeß erleichterten und meine daraus abgeleiteten Entscheidungen steuerten. So war ich in den ersten Kriegsjahren häufig mit meiner Mutter „auf dem Lande“ zur Erntehilfe bei Verwandten meines Vaters. Besonders gern strolchte ich mit meiner älteren Cousine durch die Wälder in der Nähe von Rochsburg/Sa. Im Jahre 1942 arbeiteten in dieser Gegend junge Ostarbeiterinnen aus der Sowjetunion. Sie waren in einem Wirtschaftsgebäude neben dem Wohnhaus meines Onkels untergebracht, der als Prokurist in der Peniger Papierfabrik angestellt war. Wenn diese jungen Mädchen zur Arbeit gefahren wurden, sangen sie mit schrillen Oberstimmen mir fremd anmutende Lieder. Das hörte sich zum Fürchten an, vor allem wenn wir durch den Wald streiften. Meine Cousine Eva trug zu ihrer Sicherheit immer ein Fahrtenmesser bei sich. Beim Spielen hatte ich jedoch ab und zu Kontakt mit diesen jungen Frauen, obwohl das eigentlich verboten war.

Während der Ferien im nächsten Jahr wunderte ich mich, daß ein Teil dieses Wirtschaftsgebäudes ausgebrannt war. Ich erfuhr zu meinem Entsetzen, daß der Brand durch Fahrlässigkeit der Wachleute ausgebrochen war. Sie hatten in der Wachstube den Ofen überheizt, wodurch das Gebäude Feuer fing. Die Soldaten selbst konnten ihre eigene Haut retten. Die Fenster der Schlaf- und Aufenthaltsräume der Ostarbeiterinnen im 1. Stock waren jedoch vergittert, und so verbrannten die gerade dort anwesenden Frauen bei lebendigem Leibe. Als ich das erfuhr, ergriff mich tiefes Mitleid, obwohl die Nazi-Propaganda alle Russen als „Untermenschen“ darstellte und entsprechend behandelte. In Leipzig beobachtete ich häufig, wie die „Fremdarbeiter“ vom nahegelegenen Rittergut Dölitz zur Arbeit auf die Felder getrieben wurden. Da machte ich mir über die Grobheiten der die Kolonnen begleitenden Wachleute keine Gedanken weiter, während mir die Schilderung der Brandkatastrophe in Rochsburg doch unter die Haut ging, kannte ich doch einige der umgekommenen Mädchen persönlich.

Wenig später erlebte ich, daß auch ein Nazifunktionär zum menschlichen Umgang mit Fremdarbeitern in der Lage war. Nach dem schweren anglo-amerikanischen Bombenangriff am 4. Dezember 1943 auf Leipzig schickten mich die Eltern mit einem meiner Freunde zu dessen Onkel aufs Land. Dieser war im hessischen Dorf Böhne nahe Kassel Ortsbauernführer der NSDAP (eine Art Bürgermeister). Auf seinem Hof arbeiteten, wie das damals üblich war, Fremdarbeiter aus mehreren Ländern, u. a. auch Polen und Ukrainerinnen. Hier saßen die Knechte und Mägde - einschließlich der „Ostarbeiter“ - mit dem Bauern am selben Tisch und waren ordentlich untergebracht. Uns Jungen wurde keinerlei Kontaktverbot auferlegt. Ich freundete mich mit einer Ukrainerin an, die Schura (Aleksandra) hieß. Sie erzählte hin und wieder von ihrer Heimat und brachte mir meine ersten russischen Buchstaben bei. Sie zeigte mir beispielsweise, wie man den Namen Fedja mit kyrillischen Buchstaben schreibt. Fedja muß ihr Bruder gewesen sein, den sie sehr vermißte. Für die menschliche Haltung des Onkels meines Freundes war auch bezeichnend, daß er Schura wegen ihrer Beziehungen zu einem jungen Polen keine Vorwürfe machte. Trotz meiner Sympathien zu Schura erschreckte mich nach meiner Heimkehr das Verhalten meiner Mutter, die den durch unsere Straße zur Feldarbeit ziehenden Fremdarbeitern vom Rittergut hin und wieder etwas Brot zusteckte. War mir doch mittlerweile bewußt, daß so etwas für eine deutsche Frau schlimme Folgen haben konnte.

Mein Vater war nicht zur Wehrmacht eingezogen worden, obwohl es in unserer Wohngegend immer mehr Familienväter „traf“. Seine UK-Stellung hatte er dem Umstand zu verdanken, daß er bei Körting-Radio, einem kriegswichtigen Betrieb, der Funkstationen für Kriegsflugzeuge herstellte, in der Arbeitsvorbereitung als Technologe arbeitete. Ich erinnere mich, daß er von Soldatenfrauen öfter als „Drückeberger“ beschimpft wurde. Andererseits hatte er häufig Auseinandersetzungen mit dem Blockwart (einer Art Wohnblockbeauftragter der NSDAP), der es selbst mit der Verdunkelung seiner Fenster bei Fliegeralarm nicht allzu ernst nahm, dem jedoch mein Vater, der als Luftschutzwart eingesetzt war, „zu human“ war (d. h., die Bewohner nicht unnötig in die Luftschutzkeller trieb, eine Art Brandwache organisiert hatte, um gemeinsam Brandbomben unschädlich zu machen u. a. m.).

Hier ist es sicher angezeigt, kurz zu erwähnen, ob und wie es meinen Eltern gelungen ist, sich als Regimegegner im Dritten Reich in einer Nische einzurichten, ohne ihre Überzeugungen aufzugeben. Meine Mutter hatte es am schwersten. In meinem Geburtsjahr 1932 zogen meine Eltern innerhalb von Leipzig um, weil die Anfeindungen und Übergriffe der SA und von gewaltbereiten Kommunisten unerträglich geworden waren und meine Mutter fast den Freitod gewählt hätte. Da sie auch später nervlich labil blieb, sollte sie 1939 während der Euthanasiemaßnahmen der NSDAP „sonderbehandelt“ werden. Unser Kinderarzt - selbst NSDAP-Mitglied - riet meinem Vater, sich noch ein Kind anzuschaffen, dann könne er das Schlimmste verhindern. So wurde 1940 mein jüngster Bruder geboren, der übrigens auch den Arztberuf ergriffen hat. Das Schizophrene an der damaligen Situation war, daß daraufhin meine Mutter mit dem Mutterkreuz ausgezeichnet wurde, was nach dem vierten Kind üblich war. Das Kriegsende erlebte sie nur, weil ihr der Freundeskreis ehemaliger Sozialdemokraten den notwendigen Halt gab.

Meinen Vater retteten seine „kriegswichtige“ Qualifikation, die er sich durch ständige Weiterbildung in der Freizeit angeeignet hatte, und der Schachzug, seine Nichtmitgliedschaft in der NSDAP durch Eintritt in die evangelisch-reformierte Kirche bis zu einem gewissen Grad zu kompensieren. Da war er nicht auch noch konfessionslos!

Eltern wollen zu allen Zeiten, daß ihre Kinder einen leichteren Weg zur für den weiteren Lebensweg notwendigen Bildung haben als sie selbst. Und so drängte mich mein Vater, ab 1942 die höhere Schule - diese schloß an vier Jahre Volksschule an und führte zum Abitur - zu besuchen. Ich erwies mich aber als nur durchschnittlicher Schüler. Nicht einmal Fremdsprachen lagen mir sonderlich (nie wäre mir eingefallen, daß ich später professioneller Dolmetscher und Übersetzer werden sollte). Zuwider waren mir insbesondere die Methoden unseres Englischlehrers, der uns die Vokabeln durch Linealschläge auf die Fingerkuppen einzupauken versuchte. Auch Latein blieb für mich trotz Nachhilfeunterricht eine tote Sprache. Noch heute habe ich zur Medizinterminologie wegen ihrer Abstraktheit ein gestörtes Verhältnis. Außerdem nervte mich der Geschichtsunterricht mit seiner ausschließlichen Konzentration auf das Auswendiglernen und Herbeten von Daten, Herrschern, Kriegen. (Erst nach dem Krieg hatten wir einen Geschichtslehrer, der uns durch das Darstellen innerer Zusammenhänge einzelner Zeitperioden zu fesseln wußte.) Auch im sozialen Umfeld - meine Mitschüler waren Kinder von Beamten, Handwerkern und NSDAP-Funktionären - fühlte ich mich fremd.

Im April 1945 näherten sich amerikanische Truppen meiner Heimatstadt Leipzig. Die nachfolgenden Ereignisse lösten bei mir grundlegende Erschütterungen aus, bewirkten allerdings nicht sofort ein anderes Denken und Handeln, als mir in Schule und Hitlerjugend eingeimpft worden war.

Ein besonders einschneidendes Erlebnis war die schwere Verwundung meiner Mutter während einer spontanen Demonstration von Einwohnern unseres Stadtteils, als NSDAP-Kreisleiter Krebs sich bei Nacht und Nebel in den Westen absetzen wollte. (Diese „Funktionsträger“ wußten genau, wo sie sicher waren und ohne gerechte Abstrafung in Ruhe weiterleben konnten.) Die Anwohner bemächtigten sich in ihrer Empörung der Anlaßkurbel des abfahrbereiten LKW des Herrn Kreisleiters und warfen sie über irgendeinen Zaun, wo sie im Finstern nicht zu finden war. Daraufhin beorderte Herr Krebs eine Gruppe von SS-Leuten heran, die in die Menge schoß. Meine Mutter erhielt dabei einen Oberschenkeldurchschuß. Sie konnte der Krankenhauseinlieferung und unweigerlichen Verhaftung nur dadurch entgegen, daß sie von einer in unserem Haus wohnenden Krankenschwester notversorgt wurde und die übrigen Nachbarn sie nicht verrieten. Der damals unter Arbeitern übliche Zusammenhalt erwies sich selbst bei politischer Gegnerschaft stärker als die Gesinnung. Die Krankenschwester, der meine Mutter ihre Rettung zu verdanken hatte, war nämlich mit einem Wachmann des Wehrmachtsgefängnisses Torgau verheiratet. Nicht einmal die NS-Frauenschaftsführerin von nebenan denunzierte meine Mutter, sondern half durch ihr Schweigen, deren Leben zu retten. Übrigens wurde diese Haltung - unter umgekehrtem Vorzeichen - auch nach Kriegsende spürbar: Die kleinen Nazis aus unserer Gegend bekamen wenig ab.

Bei mir wirkte die faschistische Ideologie vorerst noch weiter. Als beim Einmarsch der US-Amerikaner weiße Bettlaken aus den Fenstern gehängt wurden, wollte ich mich nicht von Hakenkreuzfahne und Hitlerbüste trennen. Erst eine resolute Frau aus unserem Aufgang konnte mich unter Androhung von Prügel zur Vernunft bringen. Später erfuhr ich, daß sie Kommunistin war. Danach spielte ich gemeinsam mit meinem Freund Dieter Rehse - dem Sohn jener NS-Frauenschaftsführerin und Neffe des Ortsbauernführers aus Hessen - gegenüber den Amis eine Art Werwolf, indem wir deren Fernmeldekabel auf den nahegelegenen Feldern durchschnitten. Aktuelle Anlässe für diesen Haß sahen wir nicht nur darin, daß die Besatzer wiederholt einige Frauen aus der Nachbarschaft „besuchten“, sondern vor allem in ihrem Verhalten uns Kindern gegenüber. Sie wußten, daß wir gräßlichen Hunger hatten und hielten uns Weißbrot hin. Aber wenn wir zugreifen wollten, ließen sie es auf die Erde fallen und zertrampelten es. Mein damaliger Freund ist übrigens irgendwann in den fünfziger Jahren nach dem Westen verschwunden und hat den Hof seines Onkels übernommen.

Meine Haltung änderte sich erst nach dem Einmarsch der Roten Armee im Sommer 1945. Diese Soldaten hatten keine schicken Jeeps, sondern rückten mit Panjewagen an (einfache Pferdefuhrwerke mit MG darauf). Aber sie verteilten Brot und Suppe und gewannen damit unsere Kinderherzen. Die deutschen Erwachsenen - auch meine Eltern - machten plötzlich den Mund auf und begannen Farbe zu bekennen. Politische Gruppierungen schossen wie Pilze aus dem Boden. Der Freundeskreis meines sozialdemokratischen Vaters bemühte sich um die Wiederbelebung der „FALKEN“ und der Sozialdemokratischen Arbeiterjugend (SAJ). Diese Veranstaltungen waren auch für mich interessant. Allerdings trafen sich dort vorwiegend etwas ältere Jahrgänge, die in den Traditionen der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung von vor 1933 standen, während die Antifajugend (der im Sommer 1945 gebildete antifaschistische Jugendauschuß) vor allem Jugendliche zwischen 14 und 21 Jahren anzog, die meistens aus kommunistischen oder linksgerichteten sozialdemokratischen Elternhäusern stammten. Dadurch war ein besonders enger Zusammenhalt zwischen diesen Halbwüchsigen selbstverständlich. Deshalb schloß ich mich diesem Jugendausschuß an und begann danach eine folgerichtige politische Entwicklung, die mich im März 1946 in die FDJ und im Oktober 1947 (als Fünfzehnjährigen) in die SED führen sollte.

An die Vorbereitungsphase der Vereinigung von SPD und KPD Anfang 1946 erinnere ich mich gut, obwohl ich zusammen mit meinen Jugendfreunden nur als Gast an den Versammlungen teilnahm. Erstaunt stellte ich fest, daß viele aus der Väter- und Müttergeneration - sowohl Sozialdemokraten als auch Kommunisten - energisch für den Zusammenschluß eintraten. Auch meine Eltern waren froh, daß nicht mehr wie vor 1933 die Frage: „Getrennt oder vereint marschieren?“ im Vordergrund stand. Sie meinten, gemeinsam hätten das Reichsbanner (die Kampforganisation der SPD) und der Rote Frontkämpferbund von der KPD die Machtergreifung Hitlers verhindern können. Am meisten Vorbehalte gab es bei den Fünfundzwanzig- bis Fünfunddreißigjährigen, gerade so, als wollten sie das Getrenntmarschieren unbedingt noch einmal probieren.

Der Schulbetrieb war kurz vor dem Jahresende 1945 wieder aufgenommen worden. Es fehlten zwar einige Schüler, deren Familien sich nach dem Westen abgesetzt hatten, aber sonst blieb vorläufig alles beim alten. Und da ich mit meiner politischen Meinung nicht hinter dem Berg hielt, war ich im Kreis der Bürgersöhnchen bald das schwarze (oder eigentlich rote) Schaf. Trotzdem begann mir das Lernen allmählich mehr Spaß zu machen, dank solcher Lehrer, wie es unser Geschichtslehrer war.

Ein schlimmer Einschnitt war es aber, als meine Mutter im Jahr 1946 an den Spätfolgen ihrer Verwundung starb. Vater brachte mich danach in verschiedenen Internaten unter, um mir weiterhin den Besuch der höheren Schule ohne Hunger und Entbehrungen zu ermöglichen. Auch dort traf ich aber auf konservative Schüler, die mir als einem „Roten“ das Leben zur Hölle machten, und so ging ich 1949 entnervt ohne Abitur aus der 11. Klasse ab, sehr zum Leidwesen meines Vaters, der das auch als sein Versagen ansah. Er hatte im Oktober 1947 noch einmal geheiratet, und ich konnte mich in diese familiären Veränderungen ebensowenig wie mein damals siebenjähriger Bruder hineinfinden, so daß ich als Siebzehnjähriger zu Hause auszog.

Zwischenzeitlich hatte ich einen politischen Lern- und Erkenntnisprozeß durchlaufen, der mich lebenslang prägen sollte. In der SED mußte ich beobachten, daß die Vermischung der sozialdemokratischen und der kommunistischen Strömung alles andere als einfach war. Mein Vater traf sich nach wie vor mit seinem sozialdemokratischen Freundeskreis. Dort wurde der „Telegraph“ aus Westberlin gelesen, den auch ich in die Finger bekam. Vermutlich hatte die Pressepolitik der vier Besatzungsmächte dazu geführt, daß (außer in Berlin) nicht alle Presseerzeugnisse wechselseitig frei in sämtlichen Besatzungszonen zugänglich waren. Und obwohl die meisten sozialdemokratischen Genossen in der sowjetischen Besatzungszone für die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien waren, ebenso wie in Hessen und anderen Ländern der Westzonen, bestand doch ein gewisses Informationsdefizit. Allerdings bewirkte der von Kurt Schumacher u. a. zwecks Verhinderung der Arbeitereinheit gesteuerte und betriebene „Telegraph“ durch seine unsägliche antikommunistische Hetze meist das Gegenteil von dem Beabsichtigten. So war mein Vater gerade infolge der Faktenverzerrungen über das Leben in der sowjetischen Besatzungszone ein überzeugter Verfechter der Einheitsidee, und auch mir als Vierzehn- bis Sechzehnjährigen stießen Schilderungen von Vorgängen, die ich ganz anders erlebte, übel auf. Dies führte letztendlich dazu, daß ich dem sozialdemokratischen Gedankengut - oder dem, was als solches durch den „Telegraph“ vermittelt wurde - extrem negativ begegnete. Mit der westlichen Währungsunion 1948 in Trizonalien und Westberlin war dieser Hetzkanal ja dann auch schon aus währungstechnischen Gründen verstopft.

Es neigten allerdings auch relativ viele Kommunisten nach wie vor dazu, strittige Probleme - wie vor 1933 - nicht auszudiskutieren, sondern mit Fäusten oder Knüppeln zu lösen. Diese Erfahrung hatte mein Vater in jungen Jahren zur Genüge machen müssen. Als junger Soldat war er 1918 während der Novemberrevolution Mitglied des Soldatenrates gewesen, erst Sozialdemokrat geworden, danach in die ihm konsequenter links erscheinende USPD eingetreten, 1922 jedoch wieder zur SPD zurückgekehrt, nicht zuletzt wegen des Revoluzzertums nicht weniger Kommunisten und USPD-Anhänger. Aber als mehrfach gemaßregelter linker Betriebsrat hatte er zu jenen Sozialdemokraten gehört, die sich im Kampf gegen den drohenden Hitlerfaschismus für das Zusammengehen von Reichsbanner und Rotem Frontkämpferbund einsetzten. Die Tatsache, daß er 1932 sowohl von den SA-Leuten als „Roter“ gejagt, als auch von radikalen Kommunisten als „Sozialfaschist“ beschimpft und verfolgt wurde, war eine der schlimmsten Enttäuschungen in seinem Leben.

Für mich bestand das politische Vermächtnis meines Vaters im unbedingten Zusammenhalt der Genossen aus beiden Parteien und der Arbeiterjugend gegen Krieg und Faschismus und für den sozialistischen Aufbau. So war mir später auch das Verhalten eines meiner Cousins völlig unverständlich, der mit weiteren Komplizen versuchte, eine Förderbrücke im Braunkohlenwerk Böhlen - dem Betrieb, in dem mein Vater die Maschinen mit bloßen Händen mit aus den Trümmern geborgen hatte - in die Luft zu sprengen. Ich hatte volles Verständnis, daß er dafür 1950 zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Wes Geistes Kind er war, bewies er endgültig nach seiner Haftentlassung. Er beging Republikflucht und verleitete seine Frau dazu, von Westberlin aus als Residentin eines westlichen Geheimdienstes gegen die DDR zu agieren.

Nach dem vorzeitigem Abgang von der höheren Schule im Jahre 1949, versuchte ich mich zunächst als hauptamtlicher Pionierleiter, allerdings ohne großen Erfolg. Der FDJ-Sekretär des Patenbetriebs unserer Schule (des Lehrbetriebs des VEB Land-, Bau- und Holzverarbeitungsmaschinen) schlug mir daher im Herbst 1949 vor, eine Lehre als Werkzeugmacher bzw. Maschinenschlosser aufzunehmen. Er hatte wohl erkannt, daß Arbeit mit Kindern nicht unbedingt mein Fall ist, ich ihn aber im Betrieb gut in der FDJ-Arbeit unterstützen konnte. Während meiner Lehrzeit 1949-1952 war ich anfangs FDJ-Gruppensekretär in meinem Lernkollektiv und später Mitglied der FDJ-Schulgruppenleitung. Ich trat in meinen Funktionen energisch gegen „Radikalinskis“ aller Schattierungen auf und versuchte auch nicht, christlich denkende Lehrlinge in die FDJ hineinzuzwingen. Statt dessen nahm ich an Veranstaltungen der Jungen Gemeinde teil, um die Jugendlichen durch Diskussion der aktuellen Problem für unseren Weg zu gewinnen. Gemeinsam fuhren wir 1950 zum Deutschlandtreffen nach Berlin, und auch die Teilnahme an den III. Weltfestspielen der Jugend und Studenten im August 1951 stärkte unseren Zusammenhalt.

Für mich waren diese Weltfestspiele Tage, an denen ich eigene „körperliche“ Erfahrungen der Systemkonfrontation sammelte und - nach dem Telegraph-Lesen 1946/ 1948 - eine weitere Lektion in Sachen Meinungsmanipulation erhielt. Während des regulären Durchgangs, an dem ich mit den FDJlern aus meinem Leipziger Betrieb teilnahm, erfuhr ich erstmals unmittelbar die mit einer schamlosen Verlockung durch das „Schaufenster Westberlin“ verbundene Abwerbung junger Menschen in die BRD. Dies und die beabsichtigte Teilnahme an einer Kundgebung vor dem Rathaus Schöneberg - auf Einladung des damaligen Regierenden Bürgermeisters Ernst Reuter - am 15. August 1951 prägten nachhaltig meine Einstellung zu dem uns heute erneut übergestülpten Kapitalismus. Wir FDJ-Funktionäre hatten erfahren, daß in den Tagen davor FDJler beim Gang nach Westberlin sich soweit erniedrigt hatten, sich nach Zigaretten und Kaugummis, die von Einzelhändlern auf die Straße geworfen wurden, zu bücken und sogar um solche Genußmittel zu betteln. Dieses Publikum erwartete der „Sozialdemokrat“ Reuter auch auf seiner Kundgebung. Da wir ihm aber an diesem Tag den Gefallen nicht taten und die „Gastgeschenke“ unbeachtet liegen ließen, bekamen wir die Wasserwerfer und Knüppel der Stummpolizei (nach dem damaligen Polizeipräsidenten Stumm benannt) mit einer Brutalität zu spüren, die ihresgleichen suchte. Infolge der rücksichtslosen Knüppeleinsätze erlitten zahlreiche Jugendfreunde Verletzungen und wurden zum Teil zu Krüppeln geschlagen. Beim Schreiben dieser Zeilen ziehe ich unwillkürlich Parallelen zum Vorgehen des jetzigen Berliner Innensenators - Schutz für Rechts, immer drauf auf Links! Das Strickmuster ist halt beim Umgang mit den „falschen“ Demonstranten über Jahrzehnte gleich geblieben.

Im Jahre 1952 schloß ich erfolgreich meine Lehre als Maschinenschlosser ab, meldete mich im Rahmen des „Wilhelm-Pieck-Aufgebots“ zu den bewaffneten Kräften der DDR und wurde danach an die Dolmetscherschule der Volkspolizei in Holzdorf bei Weimar delegiert, wo ich mir während eines einjährigen Studiums Grundkenntnisse der russischen Sprache sowie der Militärterminologie aneignen konnte.

Übrigens fand anläßlich des ersten Jahrestages der Berliner Weltfestspiele ein Treffen der Demonstranten vom 15. August 1951 statt. Es war schon ein erhebendes Gefühl, daß in Halle im August 1952 die meisten Jungen in der Uniform der bewaffneten Kräfte zum Fahnenappell antraten.

Dr. Hans Lindemann 


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