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Weshalb ich meine zweite Heimat Oberbayern wieder verließ
Im Jahr 1944 war ich einundzwanzig Jahre jung, aber mein Leben war bis dahin nur von der Lehre sowie Arbeitsdienst, Kriegshilfsdienst und der Arbeit in einer Rüstungsfabrik bestimmt worden. Frauen konnten der endlosen Kette „kriegswichtiger“ Dienstverpflichtungen damals nur durch eine Schwangerschaft entkommen.
Mein Verlobter und ich hatten mit viel Mühe den für jede Eheschließung geforderten „Ariernachweis“ erbracht und danach geheiratet. Ich wurde schwanger, durfte der Strausberger Munitionsfabrik den Rücken kehren und zu Hause auf den Nachwuchs für „Führer und Volk“ warten. Aber es war Krieg, und die anglo-amerikanischen Bomben auf Großstädte, Kulturstätten sowie dichtbesiedelte Arbeiterviertel gehörten zu unserem Alltag. Jeder mußte mit dem Gedanken leben, vielleicht die Sonne des nächsten Morgens nicht mehr zu sehen.
Anfang April 1945 konnte ich meinem Mann die Geburt von Zwillingen telegrafieren, doch danach geriet er in englische Gefangenschaft. Immerhin war mein Telegramm für ihn ein wichtiges Dokument, denn als Vater von Zwillingen wurde er bereits Weihnachten 1945 in seine Heimat entlassen. Er stammte aus dem Kreis Aichach in Oberbayern, während ich in Berlin wohnte. Dort erreichte mich Ostern 1946 sein Brief mit der Bitte, zu ihm nach Bayern zu kommen. Also packte ich meine Siebensachen und fuhr zu dem mir angetrauten Mann. Seine beiden Kinder konnte ich ihm nicht bringen, denn sie hatten inmitten der Not unseres vom Krieg zerstörten Landes nicht lange überlebt.
Mein Mann und seine Familie empfingen mich freundlich. Allerdings blieb das nicht lange so, denn für die Eltern war ich eine „Preußin“ mit anderer Sitte, Gewohnheit und Konfession. Trotzdem empfand ich für sie tiefes Mitgefühl, denn der verbrecherische Hitlerkrieg hatte ihnen zwei ihrer drei Söhne genommen.
Der Älteste war auf den Schlachtfeldern der Sowjetunion geblieben.
Der Zweite hatte sich kurz vor Kriegsende von seinem Truppenteil abgesetzt und war auf dem Heimweg nahe Schrobberhausen von einer Frau an die „Kettenhunde“ der Feldgendarmerie verraten worden. Von diesen wurde er in einen kleinen Ort in der Nähe von München gebracht, dort an einen Baum gebunden und erschossen. Die armen Eltern hätten ohne einen zufälligen Augenzeugen nie von diesem Mord erfahren. Aber ein mutiger alter Bayer riskierte sein eigenes Leben und fragte die Feldgendarmen nach dem Namen des jungen Mannes, der da an den Baum gebunden war. Zunächst erhielt er die schroffe Antwort: „Mach, daß du weiter kommst, sonst biste auch dran!“ Aber als er nochmals fragte, flüsterte ihm einer den Namen zu. Nach Kriegsende hatte dieser alte Herr das Nötige in die Wege geleitet, und schließlich wurden die Eltern an die Mordstätte geführt. Sie fanden die Leiche ihres Sohnes in einer viel zu kleinen Erdgrube verscharrt und identifizierten sie anhand der Haare und Stoffreste. Aber auch danach wurde mein Schwager sang- und klanglos beerdigt. Seine Frau blieb ohne jede Unterstützung, und über alles wurde der Mantel des Schweigens gebreitet. Im Unterschied dazu machte man sich in der Zeitung bereits Sorgen über das Wohlergehen der ehemaligen Offiziere des Nazireiches.
Meine eigenen Kriegserfahrungen und das Leid der Familie meines Mannes führten dazu, daß ich die Entwicklung in den vier Besatzungszonen Deutschlands sehr kritisch beobachtete. Zunächst hatte ich gehofft, daß alle Deutschen aus diesem furchtbaren Krieg, aus fünfzig Millionen Toten und einem zerstörten Europa, die richtigen Schlußfolgerungen ziehen würden. Das wäre auch eine Brücke für das friedliche Miteinander in den Familien und in der Gesellschaft gewesen. Vor allem aber wartete ich darauf, daß die Verantwortlichen für die Naziverbrechen zur Rechenschaft gezogen würden - immerhin waren die Grundlagen dafür in Jalta, Teheran und Potsdam von allen Alliierten gemeinsam beschlossen worden. Doch dann wurden nach dem Nürnberger Prozeß zwar einige Nazigrößen hingerichtet, aber wer nur zu „lebenslanger Haft“ verurteilt war, führte in Landsberg am Lech und Berlin-Spandau ein Leben wie im Luxushotel, wurde in der Regel bald begnadigt und erhielt sogar noch eine Entschädigung. Während meine Schwägerin als Witwe eines nicht rehabilitierten „Deserteurs“ unter der Mißachtung von Staat und Gesellschaft litt und sich allein durchs Leben schlagen mußte, kassierte die Witwe des Kriegsverbrechers Hermann Göring monatlich eine traumhafte Rente und besaß auch den „angemessenen“ Wohnsitz dazu. Die westdeutschen Behörden ließen schwerbelastete Nazi- und Kriegsverbrecher wohlwollend ins Ausland „entkommen“. Und man konnte zusehen, wie sich die Herren Heusinger, Globke nebst vielen anderen Nazis in hohen und höchsten Ämtern breitmachten. In Reden der Politiker und in den Medien lebte die aus der Nazizeit bekannte antikommunistische und antisowjetische Hetze wieder auf. Ich hatte sogar den Eindruck, daß sie verstärkt weitergeführt wurde. Und da ich im Land jenseits der Oder geboren war, erhielt ich Einladungen vom „Verband der Heimatvertriebenen“ mit Bildern aus der alten Heimat.
Diese ganze Entwicklung ließ in mir kein Heimatgefühl aufkommen. Leider blieb ich auch in der Familie eine Fremde. Man ließ es mich spüren. Wir lebten in einer Art Naturalwirtschaft. Meine Schwiegereltern besaßen ein Häuschen mit einem kleinen dörflichen Friseurgeschäft. Wir verdienten unseren Lebensunterhalt mit Rasieren, Haareschneiden und Zähne ziehen. Letzteres besorgte der Schwiegervater. Für diese Leistungen gab es dann oft landwirtschaftliche Produkte wie Brot und Fleischwaren. Den Bauern ging es gut, denn es gab in der Landwirtschaft kaum Kriegsschäden. Wir hungerten dadurch nicht und verwendeten das eingehende Bargeld zur Bezahlung der Nahrungsmittel, die wir auf Lebensmittelkarten erhielten. Dies waren allerdings Hungerrationen.
Da ich „vom Fach“ war, arbeitete ich, wenn ich konnte, ebenso wie mein Mann, im Geschäft der Schwiegereltern mit. Auch lief ich mit meinem Schwiegervater in andere Ortschaften oder Bauerngehöfte zu Kunden, um dort fachlich tätig zu sein und meinen Beitrag für den Lebensunterhalt der Familie zu leisten. Denn für diese Mühen gab es dann auch Naturalien. Unseren kleinen Sohn, der 1946 geboren wurde, nahm ich im Kinderwagen mit. Die Schwiegermutter verstand meine Anstrengungen allerdings so, daß wir sie aus dem Geschäft verdrängen wollten und gab mir ihre Abneigung immer aggressiver zu verstehen. Meinem Mann blieb unter den gegebenen Umständen nichts anderes übrig, als zu seinen Eltern und der Schwester zu halten. Dagegen reifte in mir allmählich der Entschluß, dieses Land mit meinem Kind zu verlassen. Unter den herrschenden gesellschaftlichen und familiären Verhältnissen hatte ich keine Perspektive. Es war nur eine Untertanenrolle, die man mir in der Familie zugestand. Ich hatte eine Gebärmaschine ohne eigenen, persönlichen Einfluß zu sein, denn hier sprach der Klerus das letzte Wort. Solch eine unwürdige Rolle wollte ich nicht weiter spielen müssen.
Das war nach der separaten Währungsreform in den Westzonen, mit der die Regierung Adenauer im Juni 1948 endgültig den Weg zur Spaltung Deutschlands beschritt. Vorher hatte man die Bevölkerung noch aufgefordert, alles verfügbare Kleingeld in die „Russenzone“ zu schicken. Weshalb, war für jeden denkenden Menschen offensichtlich.
Ich langte in dieser verfemten Zone im
Oktober 1948 an. Hier konnte ich in meinem Beruf arbeiten und mich ohne
finanzielle Not und andere Ängste mit meinem kleinen Sohn entwickeln und leben.
In dieser Besatzungszone, der späteren DDR, hatte man die richtigen Lehren aus
der Vergangenheit gezogen: Antifaschismus, Frieden und Völkerfreundschaft
wurden von der ersten Stunde an zur Regierungspolitik erhoben.
Ilse Wendler
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