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Kein leichter Weg, aber der richtige

 Wer Gelegenheit hatte, das Lausitzer Bergland auch auf der tschechischen Seite kennenzulernen, wird von der besonderen Schönheit dieser waldreichen Mittelgebirgslandschaft beeindruckt sein. Mein Heimatdorf, die „Klause“, bestand aus nur achtzehn Häusern und lag - auf halbem Wege zwischen zwei sauberen Städtchen - gegenüber einer sanft ansteigenden Höhe verträumt am Rande eines ausgedehnten, prächtigen Fichtenwaldes. Im Frühling war der Maiberg stellenweise mit Himmelschlüsseln übersät, als hätte jemand gelbe Teppiche in der Landschaft ausgebreitet.

Das gesamte Gebiet ist Teil der Sudeten, und zwischen den beiden Weltkriegen waren dort auch viele tschechoslowakische Staatsbürger deutscher Nationalität zu Hause. Unsere Familie gehörte zu diesen „Sudetendeutschen“.

Das bis dahin friedliche Zusammenleben von Tschechen und Deutschen wurde in den dreißiger Jahren durch die faschistische „Henlein-Partei“ unterminiert, die als „fünfte Kolonne“ Hitlerdeutschlands agierte. Denn die von ihr provozierten Unruhen wurden von der reichsdeutschen Nazipropaganda prompt als „Unterdrückung aufrechter Deutscher durch die Tschechen“ ausgegeben. Sie lieferten Hitler den Vorwand, mit Duldung der Westmächte zunächst die Randgebiete der tschechoslowakischen Republik zu annektieren und danach den gesamten tschechoslowakischen Staat zu liquidieren.

Es wird gesagt, daß man sich seine Eltern nicht aussuchen kann. Für die meinen kann ich dem Schicksal nur dankbar sein. Unser Leben war zwar ärmlich und bescheiden, aber wir fünf Kinder spürten die stete Fürsorge der Eltern. Darüber hinaus verhalfen sie uns zu Einsichten und Überzeugungen, die sich später als gutes Fundament für eigene Entscheidungen erwiesen.

In den dreißiger Jahren war Vater lange arbeitslos und konnte nur durch Gelegenheitsarbeiten zum Unterhalt der Familie beitragen. Mutter arbeitete zu Hause als Repassiererin für eine Strumpffabrik. Bei jedem Wetter holte sie - im Sommer mit einem ausgedienten Kinderwagen, im Winter mit dem Rodelschlitten - ihre „Ware“ nach Hause. Diese bestand aus oft hauchdünnen fabrikneuen Damenstrümpfen, bei denen Laufmaschen festgestellt worden waren. Das Repassieren strengte Mutter außerordentlich an und beanspruchte ihre Augen sehr stark. Bei trübem Wetter und im Winter wurde ihr diese Arbeit zur Qual, denn der Hausbesitzer verweigerte uns einen Elektroanschluß, und wir hatten nur eine Petroleumlampe im Zimmer. Mutter erhielt einen dürftigen Lohn. Aber sie war froh, überhaupt Arbeit zu haben.

Seit 1923 gehörten meine Eltern der KPČ1 an und beteiligten sich aktiv an deren Arbeit. Sie taten das sicher nicht auf Grund hochwissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern - im Hinblick auf die eigenen Erfahrungen mit den Ungerechtigkeiten der kapitalistischen Gesellschaft - vor allem für die Zukunft ihrer Kinder. So war es ganz natürlich, daß sie auch uns beizeiten über politische Probleme informierten. Ich erinnere mich beispielsweise an ein Gespräch mit meinem Vater, in dem er mir anschaulich von der sozialistischen Revolution in Rußland und den ersten Jahren der Sowjetmacht erzählte, obwohl ich eben erst zehn Jahre alt war. Diese Unterhaltung hat mich nachhaltig beeindruckt.

Auch später spitzte ich bei den Gesprächen der Erwachsenen die Ohren, und es ging dabei in unserer Wohnung zwischen Kommunisten, Sozialdemokraten, Parteilosen und auch Hitleranhängern oft heiß genug her. Unvergeßlich ist mir die Unterhaltung meines Vaters mit einem jungen Sozialdemokraten, den er sehr achtete. Das muß im Jahr 1938 gewesen sein, als die Henleinleute bereits die Veranstaltungen der Kommunisten, aber auch die der Sozialdemokraten provozierten. Es handelte sich um die bevorstehende Maidemonstration. Vater schlug vor, daß Kommunisten und Sozialdemokraten gemeinsam marschieren sollten und erhielt die Antwort, dies sei den SPD-Mitgliedern von ihrer übergeordneten Leitung untersagt. „Ja, dann wird wohl wieder unser Blut fließen, obwohl wir das verhindern könnten“, sagte mein Vater.

In unserem Gebiet flüchteten häufig Männer und Frauen, manche mit ihren Kindern, vor den Verfolgungen des „Dritten Reiches“ über die Grenze und wurden danach von fortschrittlichen Familien beherbergt. Auch wir hatten über Jahre solche Gäste, darunter Alfred Spitzer, Funktionär der KPD und des KJV aus Neugersdorf. Er ging danach zu den Internationalen Brigaden nach Spanien, geriet in französische Internierung und von dort in ein faschistisches Konzentrationslager. Als ich ihn nach dem Krieg wiedertraf, bekleidete er eine verantwortungsvolle Funktion im Staatsapparat der jungen Deutschen Demokratischen Republik.

Mit marxistischer Literatur hatte ich mich frühzeitig zu beschäftigen begonnen, und die deutschsprachige Tageszeitung der KPČ, die „Rote Fahne“, war bereits seit Schulbeginn mein zweites „Lesebuch“ gewesen. Durch sie erhielt ich auch später viele Denkanstöße zu den nationalen und sozialen Kämpfen in aller Welt sowie zur Vertretung der Arbeiterinteresssen durch die kommunistischen Parteien. Ich las von Lenin, Stalin, Woroschilow, Budjonny und Dimitroff; erfuhr vom Schicksal Ernst Thälmanns, von barbarischen Verfolgungen in Deutschland, denen außer Juden alle Hitlergegner und besonders Kommunisten ausgesetzt waren. Am Verteidigungskrieg Abessiniens gegen die italienischen Aggressoren beeindruckte mich besonders, daß sich die Afrikaner zum Teil noch mit Speeren gegen eine moderne Armee zu verteidigen suchten. Mit großer Anspannung verfolgte ich auch die Meldungen von den Schlachtfeldern des spanischen Bürgerkrieges. Jeder Sieg der republikanischen Truppen, an deren Seite die Internationalen Brigaden kämpften, löste in der ganzen Familie große Freude aus. Um so schmerzlicher empfanden wir dann die Niederlage der spanischen Republik.

Im Sommer 1939 - wenige Monate nach Annexion der Tschechoslowakei und Bildung des „Protektorats Böhmen und Mähren“ - erhielt ich von Vater drei Bücher mit dem Hinweis, mit niemand über sie zu sprechen und nur zu lesen, wenn kein Fremder in der Wohnung sei. Sonst werde er von der Gestapo abgeholt. Es handelte sich um die Geschichte der KPdSU (B) sowie um zwei Bände mit Reden und Artikeln Lenins. Wir versteckten sie in einer Truhe auf dem Dachboden und bewahrten sie auch während des Krieges dort auf. Ich las darin wie in Abenteuerromanen, so spannend und aufregend fand ich sie. Damals wurde die Sowjetunion zum Land meiner Hoffnung und Sehnsucht. Meine Freunde neckten mich gelegentlich mit meinem „Russendrall“ und gaben mir den Spitznamen „Antonowitsch“.

Als Hitlerdeutschland im Oktober 1938 das Sudetengebiet annektierte, floh unsere Familie in das Innere der Tschechoslowakei und war nun ebenfalls auf die Solidarität anderer angewiesen. Doch nachdem die tschechoslowakische Republik vollends zerschlagen worden war, kehrten wir nach Hause zurück. Die Gestapo hatte Vater vor die Wahl gestellt, entweder die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen oder für seine kommunistischen Aktivitäten hinter Stacheldraht zu wandern. Unsere Eltern entschieden sich für die Verantwortung gegenüber ihren fünf Kindern. So durfte auch ich noch einige Kinder- und Jugendjahre in der altvertrauten Umgebung verbringen, obwohl die Eltern nicht von weiteren Repressalien der Nazis verschont blieben und der Krieg bald seine Schatten auch über unser Dorf warf.

An einen Tag im Frühsommer 1941 erinnere ich mich besonders deutlich. Damals war ich 15 Jahre alt und arbeitete seit einiger Zeit mehrschichtig als Strumpfwirker. Am 22. Juni, einem Sonntag, kam ich todmüde von der Nachtschicht nach Hause und wollte mich eben für ein paar Stunden schlafen legen, als ich Mutter die knarrende Holztreppe zu meiner Bodenkammer heraufsteigen hörte. Unmittelbar danach stand sie blaß und verstört vor mir: Die Leute erzählten, daß die deutsche Wehrmacht in die Sowjetunion einmarschiert sei. Meine Müdigkeit war wie weggeblasen. Da wir kein Radio besaßen, rannte ich zu meinem Freund Erich. Bereits im Hausflur hörte ich erregte Stimmen und erhielt kurz danach die furchtbare Meldung bestätigt. Die deutschen Truppen standen schon 50 Kilometer im Landesinnern und hatten Zehntausende Soldaten der Roten Armee im Schlaf überrascht. Trotzdem behaupteten sie, mit dem Einmarsch nur einem „russischen“ Überfall auf das Deutsche Reich zuvorgekommen zu sein.

Als ich wieder nach Hause kam, hatten sich inzwischen einige unserer Freunde und Bekannten eingefunden. Bereits in den vorangegangenen Monaten war der zwischen Hitlerdeutschland und der Sowjetunion abgeschlossene Nichtangriffspakt heiß diskutiert worden. Es gab manchen, der ihn zunächst abgelehnt hatte, aber danach einsah, daß die Sowjetunion damit Zeit gewann, sich auf die Verteidigung des Landes vorzubereiten. Denn, daß die Faschisten den Pakt eines Tages brechen würden, hatten die meisten vorausgesehen. Und nun waren sich alle einig: Es wird viele Opfer kosten, aber Deutschland kann diesen Krieg nicht gewinnen. Hitler hat mit dem Überfall auf die Sowjetunion selbst den Untergang des „Dritten Reiches“ eingeleitet. Einer der Gesprächsteilnehmer sagte zu mir: „Du wirst den Krieg an der Front zum Glück nicht erleben müssen. Sei froh, daß Du noch so jung bist.“ Leider sollte er sich geirrt haben.

Unter den Dorfjungen war ich immer der Jüngste gewesen und hatte mich oft darüber geärgert. Nun durfte ich zwar noch zweieinhalb Jahre zu Hause bleiben, erlebte dafür aber voller Beklemmung, wie einer nach dem anderen aus unserem Freundeskreis herausgerissen wurde. Als erster fiel einer, der immer so etwas wie unser Anführer gewesen war. Wenig später traf die Meldung vom „Heldentod“ eines anderen ein, mit dem ich Seite an Seite im Maschinensaal der Strumpffabrik gearbeitet hatte. Mein Bruder Karl sowie ein weiterer meiner Jugendfreunde gerieten nach Versenkung ihres Transportschiffes in englische Gefangenschaft. Und so ging es Schlag auf Schlag. Kaum zwei Jahre später war von unserer Truppe außer mir nur noch einer zu Hause, der wegen beruflicher Spezialkenntnisse vorläufig nicht einberufen wurde.

Bei meiner Musterung stellte man auf Grund eines Herzfehlers - von dem ich nichts ahnte und der sich auch nie bemerkbar machte - eine „bedingte Tauglichkeit“ fest. Nach Einberufung zum RAD2 im November 1943 wurde ich dafür zu einer längeren als der üblichen Dienstzeit von 6 Monaten vergattert und mußte nach Absolvierung eines Kochlehrgangs im RAD-Lager als Hilfskoch arbeiten. Dort hatte ich die Möglichkeit, beim unbeaufsichtigten Aufräumen der Führermesse abends und nachts heimlich „Feindsender“ zu hören. Da sprachen auch ehemalige Angehörige der Hitlerwehrmacht, die in sowjetische Gefangenschaft geraten waren, nannten ihre militärischen Dienstgrade bzw. Einheiten und berichteten über eine korrekte Behandlung. In einer Meldung aus Moskau wurde über die Bildung eines „Nationalkomitees Freies Deutschland“ informiert, das sich die rasche Beendigung des Krieges durch den Sturz Hitlers zum Ziel gesetzt habe. Dieser Bewegung hätten sich bereits Hunderttausende deutsche Kriegsgefangene angeschlossen. Auch der Befehlshaber der 6. Armee, Feldmarschall Paulus, habe sich nach seiner Kapitulation bei Stalingrad vom Hitlerregime losgesagt. Und dann hörte ich eines Tages mit klopfendem Herzen, daß die Rote Armee vom hohen Norden bis zum Mittelabschnitt zu einer Großoffensive übergegangen war und die faschistische Armee zurückwich, während die deutschen Frontberichte von riesigen Verlusten der „Bolschewisten“ und geringen Frontbegradigungen faselten.

Das war unmittelbar bevor mich der Diensthabende beim Abhören eines Feindsenders erwischte. Am Tag darauf wurde ich zum Lagerleiter beordert, der mir in aller Kürze mitteilte: „Wenn wir die Angelegenheit weitermelden, hätte das für dich und deine Familie unangenehme Folgen. Wir werden das also nicht tun. Aber hierbleiben kannst du auch nicht.“ Was ihn zu dieser Haltung bewog, weiß ich nicht. Vielleicht befürchtete man, daß ich an anderer Stelle „auspacken“ könnte, was ich im Verlaufe meiner Tätigkeit in der Führermesse gesehen und gehört hatte. Wie dem auch sei, mein Gastspiel beim RAD war damit jedenfalls beendet und ich mit einem blauen Auge davongekommen.

Ich kehrte im Juni 1944 nach Hause zurück, aber wenige Tage später ereilte mich bereits der Einberufungsbefehl zur Infanterie. Der Zufall wollte es, daß mein bester Freund Erich nach einer halbjährigen Infanterieausbildung und vor seinem nachfolgenden Einsatz an der Ostfront Kurzurlaub hatte. Über dieses unverhoffte Wiedersehen freuten wir uns beide außerordentlich.

An einem herrlichen Frühsommertag stiegen wir zusammen zum Maiberg hinauf, legten uns ins frischgrüne Gras und tauschten anfangs etwas wehmütig Kindheits- und Jugenderinnerungen aus. Aber danach wandte sich unser Gespräch unausweichlich dem Thema zu, das in diesen Tagen alles andere verblassen ließ: dem Krieg und unserem Verhältnis zu ihm. Für mich stand damals bereits fest, daß ich die erste günstige Gelegenheit nutzen würde, der Wehrmacht den Rücken zu kehren und auf die andere Seite zu kommen. Denn dieser faschistische Raubkrieg hatte nicht das geringste mit meinen eigenen Zielen und Interessen zu tun. Mir lag ungeheuer viel daran, meinen Freund ebenfalls davon zu überzeugen, daß es sinnlos sei, sein Leben für eine ungerechte Sache aufs Spiel zu setzen. Andererseits war das „Wehrkraftzersetzung“ und selbst gegenüber Erich keineswegs ungefährlich, denn seine Eltern hatten es seit jeher mit den Nazis gehalten und ihn entsprechend beeinflußt. Aber er kannte meine antifaschistische Erziehung, hatte sie stets toleriert und wußte auch schon einiges über meine Beziehungen zu den in der Nähe untergebrachten russischen und ukrainischen Zwangsarbeitern. Er wollte da zwar nicht mit hineingezogen werden, aber er würde dichthalten.

An das nachfolgende lange Gespräch werde ich mich zeitlebens erinnern und könnte es nach inzwischen fünfundfünfzig Jahren noch fast wortwörtlich wiedergeben. Die Offenheit, mit der ich Erich meine eigenen Absichten erläuterte, schien ihn zu überraschen. Sicher gebe es niemanden, der gerne sein Leben lasse, antwortete er zögernd. Aber deshalb Fahnenflucht begehen und zum Verräter werden? Außerdem höre man doch immer, daß die Russen gar keine Gefangenen machten, sondern alle abknallten. Dazu, wer die eigentlichen Verräter am deutschen Volke waren - nämlich die Faschisten - hatte ich alle Argumente auf meiner Seite. Und hinsichtlich der Behandlung deutscher Kriegsgefangener durch die „Russen“ konnte ich ihm dank der Sendungen von Radio Moskau auch anderes berichten. Erich schien skeptisch zu bleiben und meldete jedesmal neue Zweifel an. Aber er fragte wenigstens und gab mir so die Gelegenheit, ihm immer mehr zu erläutern. Trotzdem überraschte es mich, als er am Ende plötzlich selbst an einem meiner geheimen Treffs mit den russischen und ukrainischen Zwangsarbeitern teilnehmen wollte. Leider kam es dann nicht mehr dazu, denn er mußte bereits kurz danach an die Ostfront. Dort löschte wenige Wochen später ein Granatsplitter sein junges Leben aus. Ich erfuhr davon erst nach meiner Rückkehr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft.

Ende Juni 1944 war ich mit der ersten Kompanie des „Feldausbildungsregiments Nordukraine“ nach einem strapaziösen Fußmarsch auf einem in der Nähe Bilgorajs (Südost-Polen) gelegenen Truppenübungsplatz eingetroffen. Bereits am nächsten Tag stand Scharfschießen mit „98-K“ auf dem Ausbildungsplan. Vorher wurden wir beim Morgenappell von einem NS-Führungsoffizier darüber informiert, daß es in den umliegenden riesigen Waldgebieten zwischen Tanew und San in der letzten Zeit immer häufiger zu Überfällen „kommunistischer Banden“ gekommen sei. „Geht niemals davon aus“, sprach der Nazioffizier, „daß diese Leute, die manchmal fälschlich als Partisanen bezeichnet werden, Menschen sind wie ihr. Es sind Banditen, Verbrecher, Heckenschützen, die mit ihrer bestialischen Kampfform asiatischer Untermenschen gegen jedes Völkerrecht verstoßen.“ Es fiel mir nicht leicht, ruhig zuzuhören, wenn derart alle Fakten auf den Kopf gestellt wurden. Aber ich freute mich über die Mitteilung, daß Partisanen in der Nähe seien. Danach wurde ich mit anderen zur Sicherung des Schießens eingeteilt und hatte aus meiner Schützenmulde einen bestimmten Geländeabschnitt zu überwachen. Ringsum lag eine wunderbare Waldlandschaft. Es roch nach Pilzen, an den Heidelbeersträuchern hingen große, reife Früchte. Aber ich hatte anderes im Sinn, und während ich halb im Unterbewußtsein die Umgebung beobachtete, wartete ich voller Anspannung auf die langersehnte Chance, in der sich meine von Kindheit an gewonnenen Überzeugungen bestätigen konnten. Ich hatte den deutschen sowie den als Zwangsarbeiter deportierten sowjetischen Genossen beim Abschied versprochen, diesen entscheidenden Schritt zu tun.

Vieles ging mir in jenen Minuten durch den Kopf. Unter anderem auch der Gedanke, welche Auswirkungen mein sofortiges Verschwinden auf meine Eltern und die ganze Familie haben könnte. Es schien vernünftiger, auf eine bessere Gelegenheit zu warten. Deshalb kehrte ich an diesem Tag nochmals mit der Kompanie in die Unterkunft zurück.

Tatsächlich ergab sich bald darauf eine günstigere Gelegenheit - die günstigste, die ich überhaupt erwarten konnte. Am 22. Juli 1944 - zwei Tage nach dem mißglückten Attentat Claus Graf von Stauffenbergs auf Hitler - verlas man einen Befehl, wonach der Hitlergruß ab sofort auch in der Wehrmacht als „Ehrenbezeugung“ galt. Unmittelbar danach wurde unser Regiment alarmiert. In einem Fußmarsch von 50 km mit voller Ausrüstung überquerten wir den San und erreichten die Stadt Lezajsk. Dort erhielten wir den Befehl, uns hinter einem Bahndamm einzugraben und auf weitere Weisungen zu warten. Bereits auf dem Marsch war in der Ferne starker Gefechtslärm vernehmbar, der näher zu kommen schien. Wir ahnten, was uns bevorstand. In den frühen Morgenstunden des 23. Juli wurden wir dann mit der Lage vertraut gemacht: Die Rote Armee war auf dem Vormarsch zum San, an dessen Westufer deutsche Truppen Stellung bezogen hatten. Unser Regiment befand sich ca. 4 km westwärts, hinter dem erwähnten Bahndamm.

In den Nachmittagsstunden des 23. Juli erhielt ich den Befehl, einen Munitionstransport zur vordersten Linie zu begleiten. Mit mir saßen ein Unteroffizier und der Kraftfahrer im SPW3. Unterwegs stieg ein Feldwebel zu, der am Straßenrand gestanden hatte und mit nach vorn wollte. Plötzlich liefen etwa 400 m vor uns einige Soldaten in sowjetischer Uniform über die abgeernteten Felder. Der Unteroffizier ließ halten, um mit seinem LMG4 das Feuer zu eröffnen. Doch da schrie der Feldwebel: „Nicht schießen, das sind unsere, ich weiß Bescheid!“ Nach kurzem Wortwechsel zwischen den beiden fuhren wir weiter. Der Feldwebel ließ sich kurz vor dem Ziel absetzen. Ich ahnte nicht, daß ich ihm bald wieder begegnen sollte und kehrte nach Erfüllung unseres Auftrags zur Kompanie zurück.

Im Morgengrauen des 24. Juli 1944 wurden Bombenexplosionen, Geschütz- und Kanonendonner so stark, daß wir uns schon fast im unmittelbaren Frontbereich glaubten. Alle hockten in den Schützenlöchern, während die „Stukas“5 über uns hinwegdröhnten. Aber dann ließ der entferntere Gefechtslärm plötzlich nach, während Motorengeräusche und starkes MPi6-Feuer rasch näherkamen. Offenbar hatten die sowjetischen Truppen trotz deutscher Gegenwehr den San überschritten und drangen weiter nach Westen vor.

Danach überschlugen sich die Ereignisse. Während mir alles mögliche durch den Kopf schwirrte, rannte ein Melder von einem Schützenloch zum anderen und übermittelte den Rückzugsbefehl. Nun wurde es ernst für mich. Ich schaute vorsichtig rundum und wartete, bis niemand mehr zu sehen war. Dann stieg auch ich aus meinem Schützenloch und spurtete zu einem etwa 100 m entfernten Getreidefeld, wo ich mich versteckte. Nach zwei oder drei Stunden passierten in geringer Entfernung von mir deutsche Panzerfahrzeuge und Fußtruppen das Gelände. Sie kamen vom San und wollten nach Westen. Ich schmiegte mich eng an den Boden, und meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Das schien kein Ende zu nehmen: immer wieder Motoren- und Kettengeräusche, die Stimmen deutscher Landser und zwischendurch Schüsse aus MG’s und MPi’s ...

Aber dann - es muß schon am frühen Nachmittag gewesen sein - hörte ich plötzlich Worte in russischer Sprache. Was sollte ich tun? War es richtig, sich jetzt bemerkbar zu machen, einfach aufzustehen, die Hände zu heben? Wie würden die sowjetischen Soldaten unmittelbar nach einem schweren Gefecht reagieren, in dem sie sicher manchen ihrer Kameraden verloren hatten? Noch vor wenigen Wochen hatte ich meinem Freund Erich zum Überlaufen geraten, denn „... die Rotarmisten erschießen keinen deutschen Soldaten, der sich ergibt“. Fern vom Schuß, theoretisch, ließ sich das leicht sagen. Aber nun stand bzw. lag ich selbst vor der Probe auf das Exempel, und ein unbestimmtes Gefühl hielt mich noch zurück. Die Sonne begann bereits unterzugehen, als ich außer einem Mann auch einige Frauen russisch sprechen hörte. Da band ich mein Taschentuch auf das Bajonett des Karabiners und hob es über die Ähren. Dazu rief ich auf Russisch, daß hier ein deutscher Antifaschist läge. Schon nach Sekunden erfolgte die Aufforderung, aufzustehen. Ich kam diesem Befehl mit einem unbeschreiblichen Gefühl nach. Denn mir war klar: Ich hatte es geschafft. Das sowjetische Frauenbataillon hatte den Auftrag zum Durchkämmen des Geländes gehabt und brachte mich nun in ein halbzerstörtes Bauernhaus.

Nach kurzer Wartezeit wurde ich von einem sowjetischen Oberstleutnant verhört. Auf den Dolmetscher konnten wir weitgehend verzichten, da ich gut Tschechisch sprach und durch meine jahrelangen Kontakte mit sowjetischen Zwangsarbeitern auch viele russische Worte kannte. Erstaunlicherweise interessierte sich der Oberstleutnant nicht nur für militärische Informationen, sondern fragte nach Eltern, Wohnort, Tätigkeit, Parteizugehörigkeit ... Thälmann, Liebknecht ... einem deutschen oder internationalen Arbeiterlied ... An unserem Gespräch beteiligten sich danach noch weitere Offiziere, und es muß befriedigend verlaufen sein. Denn der Tag endete für mich mit einem sehr schweren Kopf: Neben reichlichem Essen hatte ich auch viel guten sowjetischen Wodka zu mir nehmen müssen. Danach blieb ich ohne jegliche Bewachung zunächst bei einer Versorgungseinheit, die der 350. Division der 13. Armee angehörte und sich stets 10 bis 15 km hinter den in Richtung Weichsel vorrückenden sowjetischen Truppen befand. Diese drei Wochen gehören zu den erlebnis- und lehrreichsten meines Lebens.

Von dem, was in dieser Zeit auf mich einstürmte, nachfolgend nur das Wichtigste: Bereits am zweiten Tag wurde ich von einem Beauftragten des NKFD7 gefragt, ob ich bereit sei, antifaschistische Zeitungen und Flugblätter sowie Briefe deutscher Kriegsgefangenen an ihre Angehörigen hinter der deutschen Front „abzulegen“. Das war nicht einfach, denn die sowjetischen Truppen rückten zu dieser Zeit täglich etwa 3 bis 5 km in Richtung Weichsel vor. Ich erklärte trotzdem mein Einverständnis und wurde in der Abenddämmerung bis unmittelbar an die deutschen Linien gebracht. Alles weitere mußte ich selbst entscheiden. Ich konnte den Auftrag erfüllen und kehrte danach wohlbehalten auf die sowjetische Seite zurück. Wenige Tage später gelang mir eine ähnliche Aktion an anderer Stelle der Front. Das liest sich heute einfach, aber dieses Pendeln zwischen den Linien war kreuzgefährlich.

Nach Rückkehr von meinem zweiten Einsatz erklärte ich mich als ehemaliger Staatsbürger der ČSR damit einverstanden, in das an der Seite der Sowjetarmee kämpfende tschechoslowakische Korps unter General Ludvik Svoboda8 einzutreten. Allerdings konnte dieses Vorhaben dann nicht realisiert werden, da sich diese Einheit damals etwa 70 km von uns entfernt - im Verband der 38. Armee am linken Flügel der 1. Ukrainischen Front - kämpfend in Richtung ČSR-Grenze bewegte.

Inzwischen war unsere Versorgungseinheit zweimal kurz hintereinander von deutschen Stukas angegriffen worden. Das war ein entsetzliches Erlebnis. Denn jedesmal explodierten in einer furchtbaren Kettenreaktion außer den faschistischen Bomben auch massenhaft Munition, Granaten und Handgranaten auf den sowjetischen LKWs und „Panjewagen“. Die Einheit hatte mindestens zehn Tote und noch mehr Verletzte. Nachdem ich zusammen mit mehreren Soldaten stundenlang rote Ziegelsteine (für Sowjetsterne auf den Gräbern) zerkleinert hatte, wohnte ich der zu Herzen gehenden Begräbniszeremonie für die Gefallenen bei. Keiner der sowjetischen Soldaten und Offiziere nahm Anstoß daran, daß ein Deutscher neben ihnen stand ...

Einige Zeit danach erklärte mir der Kommandeur der Einheit, daß ich mit einigen deutschen Kriegsgefangenen aus dem Sammellager zur Frontschule des NKFD gebracht würde. Ich wurde herzlich verabschiedet und traf Mitte August 1944 in Rudnik ein. An der Frontschule, wo sich bereits „Alteingesessene“ befanden, blieben wir etwa eine Woche. Wir hörten Vorträge, führten Seminare durch, sangen Arbeiterlieder und machten uns miteinander bekannt. Hier traf ich nun auch jenen deutschen „Feldwebel“ wieder, der vor wenigen Wochen zu uns in den SPW gestiegen war und den Unteroffizier am Beschuß der sowjetischen Soldaten gehindert hatte, die sich als Spähtrupp mit ihm hinter den deutschen Linien bewegten.

Danach wurden fünf von uns ausgewählt - mit 18 Jahren war ich der Jüngste – und über Lwow nach Moskau transportiert. Dort verbrachten wir am Rande eines Datschengeländes mehrere Tage mit Lesen, Unterhaltungen, Spaziergängen, Essen und Schlafen. Danach erschien eines Morgens ein Deutscher in einer sowjetischen Uniform ohne Schulterstücke. Er stellte sich als Mitglied des NKFD vor und erklärte mir, daß die unserer Gruppe zugedachte Aufgabe für mich zu gefährlich und ich vor allem zu jung sei. Ich werde zunächst zur Frontschule Rudnik zurückkehren, später in Kriegsgefangenenlagern tätig sein und eine Antifaschule im Hinterland besuchen. So geschah es dann auch.

Nachfolgend nahm ich in mehreren Kriegsgefangenenlagern an der Arbeit von Antifakomitees sowie Gruppen der Bewegung „Freies Deutschland“ teil. Außerdem wurde ich Brigadier einer 30köpfigen Baubrigade, obwohl ich der Jüngste von allen war.

Im Verlauf ungezählter Gespräche gewann ich einen Einblick in die Gedankenwelt und die Probleme vieler deutscher Gefangener.

Leider war es so, daß die meisten von ihnen sogar am Ende des Krieges noch glaubten, eigentlich für eine gute Sache gekämpft zu haben. Hitler und einige seiner engsten Mitarbeiter hätten nur alles „versaut“. Wir Antifaschisten mußten komplizierte und harte Diskussionen führen und wurden nicht selten als „Verräter“ beschimpft.

Nach meiner späteren Entlassung wurde ich mit den besonders in Westdeutschland verbreiteten Greuelmärchen über das Leben und Sterben in sowjetischer Kriegsgefangenschaft konfrontiert. Dabei verschwieg man meist bewußt, daß

-         Hunderttausende deutsche Soldaten bereits mit schweren und schwersten Verwundungen, Erfrierungen und Seuchenerkrankungen in Gefangenschaft gerieten;

-         unglaublich viel für die medizinische Betreuung, Gesunderhaltung bzw. Genesung der Kriegsgefangenen getan wurde;

-         mancher Gefangene aber absichtlich „krank“ zu werden versuchte, um eher entlassen zu werden;

-         der Verpflegungssatz für Kriegsgefangene selbst während des Krieges höher war
als der durchschnittliche Verpflegungssatz der sowjetischen Bevölkerung

-         in den Lagern oft eine hervorragende kulturelle Betreuung erfolgte.

Mit anderen Worten: Die sowjetischen Behörden unternahmen das Bestmögliche, um in den Lagern für deutsche Kriegsgefangene menschliche Bedingungen zu schaffen. Dagegen mußten die sowjetischen Kriegsgefangenen in deutschen Lagern dahinvegetieren. Sie wurden gequält und zu Hunderttausenden auf grausamste Weise getötet. Es sollte auch nie vergessen werden, daß Hitlerdeutschland hinterhältig und unter Bruch des bestehenden Nichtangriffspaktes in die Sowjetunion eingefallen war und nicht umgekehrt.

Kriegsgefangene sind nur zu vermeiden, wenn Kriege samt ihren Wurzeln beseitigt werden. Über diese Grundaussage diskutierten wir bereits damals, und an ihrem Wahrheitsgehalt hat sich bis heute nichts geändert.

Im April 1949 konnte auch ich endlich zu meiner Familie zurückkehren, die 1946 in die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands umgesiedelt war. Ich wurde in ein Land entlassen, von dem der schrecklichste Krieg aller Zeiten ausgegangen und das nun in Besatzungszonen aufgeteilt war. Meine Vorstellungen von der deutschen Zukunft stimmten mit der außenpolitischen Linie der Sowjetunion überein, die sich stets gegen eine Zerstückelung Deutschlands gewandt hatte. Wie Millionen anderer hoffte ich auf ein entmilitarisiertes, neutrales, einheitliches Deutschland. Allerdings auch darauf, daß die deutschen Menschen nach den bitteren Erfahrungen von zwei imperialistischen Weltkriegen und Faschismus über kurz oder lang dem Kapitalismus eine Absage erteilen und die neue, sozialistische Gesellschaftsordnung aufbauen würden. Leider mußte ich nun feststellen, daß ein Großteil der alten Faschisten in den Westzonen bereits wieder fest im Sattel saß und der Remilitarisierungsprozeß dort bereits in vollem Gange war. Alles deutete darauf hin, daß Adenauers Devise „lieber das halbe Deutschland ganz, als das ganze Deutschland halb“ zur Spaltung führen würde.

Als mir in dieser Situation der Eintritt in die bewaffneten Organe für die sowjetische Besatzungszone nahegelegt wurde, bedurfte es keiner langen Überlegung. Nach einigen Wochen Dienst an der offenen Grenze zur BRD fand ich mich in einer Einheit der im Aufbau begriffenen neuen Polizei wieder. Danach begann ein Leben, das vor allem harte Arbeit bedeutete, und zwar nicht zuletzt an mir selbst. Bereits in der Sowjetunion hatte ich die Erfahrung gemacht, daß mein gefühlsmäßiger Klassenstandpunkt und der gute Wille allein nicht ausreichten. Wer Menschen überzeugen wollte, brauchte neben einer guten Allgemeinbildung auch fundierte gesellschafts- und naturwissenschaftliche Kenntnisse. Auf meinem bisherigen Lebensweg hatte ich mir davon nur wenig aneignen können und nutzte meine knappe Freizeit in den folgenden Jahren deshalb vor allem zum intensiven Lernen.

Natürlich stand in dieser Zeit und auch später die Frage nach Sinn und Zweck des von uns ausgeübten „Waffenhandwerks“ oft im Mittelpunkt der Gespräche. Aber angesichts der fortschreitender Remilitarisierung und zunehmender revanchistischer Tendenzen in der BRD waren wir davon überzeugt, daß der Frieden in Deutschland nur zu sichern sei, wenn sich die DDR verteidigen konnte. Gleiches galt für das Verhältnis der Staaten des Warschauer Vertrages zur NATO. Ohne ihre militärische Stärke waren sie von der NATO bereits in den fünfziger Jahren nicht anders behandelt worden als Jugoslawien gegenwärtig. Mit anderen Worten: Hätte die sozialistische Staatengemeinschaft 1999 noch existiert, wäre der Balkan von der NATO-Aggression verschont und der Frieden erhalten worden.

In den vierzig Jahren des Bestehens der DDR habe ich in der Truppe, an Lehranstalten, in Politorganen und Verwaltungen, zuletzt in der Gewerkschaft der Zivilbeschäftigten der Nationalen Volksarmee verschiedene Tätigkeiten ausgeübt. Privilegien besaß ich nicht. Dafür wechselte ich - meist mit meiner Familie - ohne Zaudern zehnmal den Stand- bzw. Wohnort. Was für mich galt, waren die gesellschaftlichen Erfordernisse und der Befehl. Auf der Stufenleiter der Verantwortungsträger bin ich nicht weit empor gestiegen. Das lag auch nicht in meinem besonderen Interesse. In der Regel haben mir all meine dienstlichen oder ehrenamtlichen Tätigkeiten Freude bereitet. Und jede von ihnen verstand ich als Arbeit für das Wohl der Menschen, für eine gerechte, ehrenhafte Sache und ein erstrebenswertes Ziel. 

Anton Kaute


1 KPČ - Kommunistische Partei der Tschechoslowakei

2 RAD - faschistischer „Reichsarbeitsdienst“

3 SPW - Schützenpanzerwagen

4 LMG – Leichtes Maschinengewehr

5 Stuka - Sturzkampfbomber

6 MPi - Maschinenpistole

7 NKFD - Nationalkomitee Freies Deurschland

8 General Ludvik Svoboda - späterer Verteidigungsminister und Staatspräsident der ČSR


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