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Zum Geburtstag eine Distel

 Die Tschechische Republik ist meine Geburtsheimat. Mein Vater war Musterweber. Mutter arbeitete als Glasschleiferin, später als Weberin. Wir lebten zusammen mit den Großeltern in einer Gablonzer Zweiraumwohnung. Obwohl mein Großvater Steinbrucharbeiter war, verstand er es, sich Wissen anzueignen. Er erkannte und sagte bereits 1932, daß ein Machtantritt Hitlers Krieg bedeute. Keiner aus unserer Familie hätte damals geglaubt, daß er recht behalten sollte und wir alle hart davon betroffen sein würden.

Bei Kriegsausbruch war ich dreizehn Jahre alt. Nach Abschluß der 10. Klasse mußte ich ins Pflichtjahr und von dort in den Reichsarbeitsdienst. Eigentlich hätte man uns Anfang November 1944 nach Hause entlassen müssen, doch statt dessen wurden wir sofort an die Scheinwerfertruppe der Luftwaffe überwiesen - auch ich, obwohl ich eigentlich krank war und in der Zeitung stand, daß nur völlig gesunde Maiden verpflichtet würden.

Unsere Ausbildung erfolgte in Krems-Mautern/Österreich. Dort mußte ich mir die zur Bedienung des Malsigerätes notwendigen Kenntnisse aneignen. Es handelte sich dabei um das Umwertegerät zwischen Funkmeßgerät und Scheinwerfereinsatz. In dieser Zeit erlebte ich den ersten Fliegerangriff und warf mich vor Angst an einer Barackenwand in den tauenden Schnee. Unsere Ausbildung dauerte bis zum 15. Januar 1945. So mußten wir auch die Hitlerrede zum Jahreswechsel und anschließend das Deutschlandlied über uns ergehen lassen. Noch heute berührt es mich sehr unangenehm, wenn die Nationalhymne gespielt wird.

Die vierzehn Tage Heimaturlaub vergingen viel zu schnell. Danach sollte unser Einsatzgebiet zunächst Oberschlesien sein, aber diese Rechnung machte die Rote Armee zunichte. Um den neuen Einsatzort zu erfahren, hatten wir uns in Dessau zu melden und wurden von da nach Essen geschickt. Die Fahrt dorthin werde ich nie vergessen, denn wir mußten insgesamt siebzehnmal aus-, ein- und umsteigen, weil uns die immer wiederkehrenden Luftangriffe an der Weiterfahrt hinderten.

Am 8. Februar 1945 wurden wir von der zentralen Einsatzstelle Essen in Kupferdreh für die einzelnen Scheinwerferstellungen eingeteilt. Ich kam in die Stellung „Siegfried“ auf der „Heimlichen Liebe“, einem herrlichen Fleckchen Erde. Von dort hat man einen wunderbaren Blick auf die „Villa Hügel“ und den Baldeney-See.

Unser Objekt mußten wir selbst schützen und deshalb jede Nacht - nur mit dem Fernglas „bewaffnet“, obwohl wir an der Pistole 08 ausgebildet worden waren -Wache schieben. Fast 200 Meter entfernt vom Hauptkomplex, an einem kleinen Wäldchen gelegen, befand sich der Maschinensatz. Es war uns jedesmal unheimlich, dort vorbeizugehen. Am Tage waren wir dann froh, wenn die Silbervögel der feindlichen Flugzeuggeschwader über uns hinwegflogen und aus dem herrlich blauen Frühlingshimmel lediglich Alustreifen auf unser Gebiet fielen.

Unvergeßlich bleibt mir ein Erlebnis während eines Fliegeralarms in der Stadt Essen. Schnell mußten wir von der Straße in einen Luftschutzkeller, der sich in der Nähe der Synagoge befand. Bei jeder neuen Angriffswelle schwankten die uns umgebenden Wände. Eine junge, hochschwangere Frau kam weinend die Treppe herunter, hielt eine Tasse in der Hand und sagte, daß es das einzige sei, was sie noch besäße. Nie wieder Krieg, nie wieder Bombenangriffe, und wenn man nur Brot zu essen hätte - das war das Gesprächsthema aller Kellerinsassen.

Am 8. März 1945 erlebte ich einen der schwersten Luftangriffe auf Essen. Inzwischen hatte man mich zur Batteriebefehlsstelle „Sportplatz“ Altenessen abkommandiert. Wahrscheinlich war eines der Angriffsziele das dort neu aufgestellte Funkmeßgerät. Nach der ersten Welle verließ ich den zentralen Unterstand und lief schnell zum Scheinwerfer hin. Dieser Weg rettete mir das Leben. Meine Freundin Gerti nahm meinen Platz ein, und ihr wurde durch den Luftdruck der folgenden Angriffswelle die Lunge zerrissen. Noch heute sehe ich sie vor mir liegen. Danach weinte ich tagelang. Sie war ebenso wie ich das einzige Kind zu Hause. Immer wieder stellte ich mir den Schmerz meiner Eltern vor, wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre. Als weitere Opfer waren ein Soldat und eine Arbeitsmaid zu beklagen. Der Maid hatte die herabstürzende Decke des Unterstandes das Rückgrat gebrochen. Danach mußte die Stellung geräumt werden.

Von der Hauptbefehlsstelle der Batterie wurde ich nach „Fritz“, einer Stellung zwischen den Zechen Essen-Krey eingewiesen. Einer der folgenden Angriffe galt diesen Zechen. Wir hatten Glück, denn ausgerechnet die Bombe, die unsere Stellung vernichtet hätte, war ein Blindgänger. Die Batteriebefehlsstelle meinte: Wenn „Fritz“ lebt, haben sie Schwein gehabt. Da wir wie auf dem Präsentierteller lagen, erlaubte man uns danach, bei Angriffen den in der Nähe gelegenen Bunker aufzusuchen.

Ohne bis dahin den Scheinwerfer jemals bedient zu haben - denn Sprit gab es keinen und der Strom wurde bei Angriffen abgeschaltet - sollte ich endlich entlassen werden und wurde mit vier anderen Maiden abschließend in Essen-Krey untersucht. Unsere Papiere hatten wir aber bei einer Dienststelle im Sauerland abzuholen. Von Bochum aus - denn dort mußten wir erst mal wieder in einen Bunker - versuchten wir per pedes oder per Anhalter nach Waldbröl/Morsbach, unserem Entlassungsort, zu kommen.

Da ständig Jagdbomber unterwegs waren und auf alles schossen, was sich bewegte, versteckten wir uns am Tage. Nun erhielten wir auch einen Eindruck, was Luftminen anrichten konnten. Häuser schienen wie abgeschnitten, Federbetten hingen in den Bäumen, die Verwüstungen waren enorm. Am Spätnachmittag setzten wir uns wieder in Bewegung. Ich glaube, es war in Olpe, wo wir in einem NS-Frauenheim um Übernachtung baten. Aber für uns gab es keinen Platz. So kampierten wir mit Soldaten auf dem Fußboden einer Gaststätte und später in der Scheune eines Bauern, dessen Hof in Richtung Gummersbach lag. Von Waldbröl bis Morsbach nahm uns ein Lastauto mit, das Verwundete transportierte. Es war völlig überladen, weil einem anderen LKW der Sprit ausgegangen war, aber die dortige Tankstelle kein Benzin mehr abgeben durfte. Es mußte für Herrn Ley, den Führer der „Arbeitsfront“, zur Verfügung stehen. So fand ich nur noch auf der angekoppelten Gulaschkanone Platz.

Nach der Entlassung trennten wir uns. In vorbeikommenden Militärautos fuhr ich mit Stella, einer Wienerin, bis Marburg. Hier bestiegen wir zum ersten Mal einen Zug. Er brachte uns über Kassel bis Weimar. In den Zug nach Dresden wurden wir von Soldaten durch das Fenster hineingeschoben. Danach schlugen Stella und ich uns bis Bodenbach durch, wo wir unterschiedliche Wege einschlugen. Endlich, am 26. März 1945, 6.00 Uhr, konnte ich in Gablonz den Zug verlassen. Erst jetzt war ich sicher, nach Hause zu kommen.

Die Freude meiner Eltern war unbeschreiblich. Sie hatten nie ein Lebenszeichen von mir erhalten, obwohl ich jeden Tag per Feldpost geschrieben hatte. Die erste Karte traf vierzehn Tage nach meiner Ankunft ein.

Doch nicht lange konnten wir uns meiner glücklichen Heimkehr und des Kriegsendes richtig erfreuen. Meine Eltern hatten über den englischen Rundfunk gehört, daß selbst der Frieden für viele unschuldige Menschen Leid bringen würde. Doch daß auch wir betroffen sein könnten, glaubten wir zunächst nicht.

Von Aussiedlungen, sogar von Vertreibungen der Deutschen erfuhr man täglich. Nach meinem freiwilligen Ernteeinsatz in Vysokè Mytè erhielt ich bei einer tschechischen Familie Arbeit als Dienstmädchen. Aber obwohl mein Vater in seinem Betrieb eine verantwortliche Stellung innehatte - er vertrat den technischen Leiter - gab man ihm keine Garantie, daß ich nicht ausgewiesen würde. Denn ich galt als ehemalige Angehörige der deutschen Wehrmacht.

So entschlossen wir uns zur Umsiedlung und fuhren mit dem zweiten „Antifazug“ nach Deutschland. Mein Vater besaß einen Antifaausweis, weil er während der Hitlerzeit für die „Rote Hilfe“, die Angehörige von KZ-Häftlingen unterstützte, gearbeitet hatte. Bei seinem „Schützling“ handelte es sich um die Mutter des späteren Generalstaatsanwaltes der DDR, Josef Streit.

Jedem Umsiedler stand das Viertel eines Waggons zur Verfügung. Die Kisten und Möbel, die eine Arbeiterfamilie eben besaß, wurden so gezimmert, daß sie gerade hineinpaßten. Im Februar 1946 fuhren wir bei Schnee und Kälte in Richtung Grenze, nach Bodenbach/Podsmokli. Dort wurden wir behelfsmäßig in einer Schule untergebracht und durften erst nach einer Woche die Grenze passieren. Bei Laternenlicht und Kälte mußten wir mit unserem Hab und Gut in Pirna die Waggons wechseln und fuhren danach - eng aneinandergedrängt und uns gegenseitig wärmend - ins Ungewisse. Unterwegs gab es sogar einmal etwas zu essen. Aber es schmeckte wie gekochte Asche, einfach scheußlich. Meine Mutter und ich brachten es nicht herunter. Vater empörte sich darüber und meinte, wir würden sicher mal froh sein, überhaupt etwas zu essen zu bekommen. Aber bald änderte er seine Meinung, denn ihm selbst war stundenlang zum Erbrechen übel.

In Schönebeck bei Magdeburg mußten wir in die Quarantäne. Untergebracht wurden wir in den ehemaligen Baracken der „Ostarbeiter“. Dort waren Läuse und Wanzen unsere ständigen Mitbewohner. Das Mittagessen bestand sehr oft aus „Sand mit Spinat“. „Superessen“ waren für uns Erbsensuppen, die es manchmal gab. Da ich in der Schule Maschineschreiben gelernt hatte, fand ich im Lagerbüro Arbeit. Als Lohn bekam ich die tägliche Marschverpflegung.

Inmitten dieses ziemlich trostlosen Lagerlebens wurde die Gründung der FDJ für uns Jugendliche zu einem freudigen Ereignis. Denn auch wir jungen Umsiedler wollten an der Umgestaltung Deutschlands mitwirken. Ein FDJ-Vertreter aus Schönebeck brachte uns die Aufnahmeanträge.

Am 19 April 1946 - nach fast zweimonatigem Lageraufenthalt - konnten wir endlich die Waggons wieder beladen. Aber wohin es gehen sollte, war unbekannt. Schließlich kamen wir in die Nähe des Harzes und gelangten über Quedlinburg nach Ballenstedt.

Es war Ostersonnabend, ein wunderschöner Tag. Mit LKW fuhren wir wieder aus Ballenstedt hinaus. Es ging zu den „Gegensteinen“, in die ehemalige Segelflugschule. Sie wurde danach für fünf Jahre unser Zuhause. Zwölf Familien fanden dort Unterkunft.

Mir werden die erste Nacht und der erste Tag in Ballenstedt stets gegenwärtig sein. Immerhin feierte ich zugleich das Ende unserer Fahrt ins Ungewisse und meinen 20. Geburtstag. Meine Eltern konnten mir nur eine Distel schenken, die in einer alten Flasche steckte. Ich selbst aber machte mir an diesem Tag vor allem Gedanken über meine Zukunft: Was sollte werden? Da war ich nun 20 Jahre alt und hatte noch nicht einmal einen Beruf! Aber ich wollte nach Kräften arbeiten und lernen, um danach meine Kenntnisse und Erfahrungen an Jüngere weiterzugeben - und zwar möglichst als Lehrerin.

Die erste Arbeitsstelle erhielt ich in der sich entwickelnden Ballenstedter Glasindustrie. Aber im Jahr 1948 ging ich tatsächlich an die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät Halle und studierte danach Geschichte und Geographie an der Pädagogischen Fakultät der Martin-Luther-Universität. Das war ein langer und nicht immer leichter Weg, aber ich schaffte ihn.

Hauptziel meiner späteren jahrzehntelangen Lehrtätigkeit war es, den mir anvertrauten jungen Menschen historische Wahrheiten zu vermitteln und ihnen unter Nutzung meiner Lebenserfahrungen zu helfen, die notwendigen Erkenntnisse für ihre eigene Zukunft daraus abzuleiten. Vor allem sollten sie begreifen, daß Kriege niemals den Interessen und dem Wohl der einfachen, tätigen Menschen dienen.

Ilse Homann


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