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Ein rotes Fähnchen im Wind

 Das Jahr 1920 war das wichtigste Jahr für mich, denn da bin ich geboren. Nach den ersten Schwierigkeiten lag ich satt und zufrieden in meinem Steckkissen, denn Strampelhöschen gab es damals noch nicht. Bis zur Nase zugedeckt, aber die Ärmchen guckten noch heraus und die Hände waren zu Fäusten geballt. Das sollte nicht auf eine zweihundertprozentige politische Einstellung deuten, obwohl sich mein Vater bereits im I. Weltkrieg für die unterdrückte Menschheit entschieden hatte und ein Jahr vor meiner Geburt einer Arbeiterpartei beigetreten war. Denn er sah im Kommunistischen Manifest den Weg aus all dem Elend.

Während der nachfolgenden Inflation hatten die wenigsten Menschen in Deutschland immer einen gedeckten Tisch, und bei den meisten Arbeiterfamilien war „Schmalhans Küchenmeister“. Als ich eingeschult werden sollte, war ich zu dünn und schwach und mußte noch ein Jahr, bis 1927, warten.

1928 oder 1929 nahm mich mein Vater zu einer Demonstration nach Leipzig mit. Dies war das erste Mal, daß ich mit klassenbewußten Menschen zusammenkam. Plötzlich hieß es: „Verhaltet euch ruhig, auf dem Augustusplatz steht die berittene Polizei!“ Die sollten doch keinen Grund haben, unsere Demonstration zu verbieten.

1932wurde ich für die Pionierorganisation geworben. Wir trafen uns einmal wöchentlich zum Spielen und Singen. Unter anderem schrieben wir uns auch Briefe mit gleichaltrigen Kindern aus der Sowjetunion. Da war schon eine kleine Brieffreundschaft zwischen uns entstanden, obwohl wir uns noch gar nicht kannten.

1933wurde erstens mein Vater arbeitslos, da er politisch organisiert war. Und zweitens gingen meine Schulkameradinnen nach und nach in Hitlers „Jungmädchenbund“ (JM) und danach in den „Bund deutscher Mädchen“ (BDM). Eine Klassenkameradin und ich waren die einzigen von sechsunddreißig Mädchen, die diesen Organisationen nicht beitraten. Natürlich fielen wir auf, denn bei Aufmärschen waren HJ und BDM als „Deutschlands Zukunft“ dabei. Wir zwei durften nicht fernbleiben, obwohl wir nicht organisiert waren. Wir liefen dann als letzte im Glied; und weil wir keine Uniform trugen, konnte jeder sehen, daß wir nicht dazugehörten. Das hat mir noch nichts ausgemacht. Schlimmer war es dann schon, als wir alle in den Religionsunterricht mußten und vor jeder Stunde ein Gebet oder ein echtes deutsches Gedicht aufzusagen hatten. Obwohl ich gar nicht so schlecht auf den lieben Gott zu sprechen war. Denn Mutter glaubte, daß er uns helfen würde, wenn es uns schlecht ging. Aber mit der Kirche hatten wir nichts im Sinn.

1935 geriet ich in Konflikt mit meiner Einstellung, denn ich sollte nun auch ein Gedicht aufsagen. Mein Vater gab mir eins, welches nicht gerade gegen die Kirche war, doch keinesfalls dafür, sondern etwas über die Natur aussagte. Ich trug es dann mit zitternden Knien vor. Meine Lehrerin unterbrach mich und meldete mich beim Direktor. Doch obwohl dieser eine wichtige Person im Ort und in der NSDAP war, klopfte er mir nur auf die Schulter und beendete mit einem „Es ist gut“ die Angelegenheit.

Er war auch sonst immer gerecht zu mir, so daß ich doch ganz gern zur Schule ging, welche ich im gleichen Jahr beendete. Eigentlich wollte ich danach Schneiderin werden, aber für mich gab es keine Lehrstelle. Ich wurde dann als Fabrikarbeiterin eingestellt.

Im Jahr 1937 kannte ich viele Leipziger Jugendliche, die vom Kommunistischen Jugendverband (KJV) oder von der Sozialistischen Arbeiterjugend (SDAJ) kamen und prima zusammenhielten. Keiner fragte: Woher kommst du? Alle waren dort gegen Hitler und seine Anhänger. Wir haben zusammen Sport getrieben, und Hallenschwimmen war donnerstags angesagt. Im Sommer sind wir mit den Rädern auf Fahrt gegangen. An den Stadtausfallstraßen hielt oft die Hitlerjugend Wache. Wir haben uns aber immer irgendwie vorbeigemogelt. Im Winter, wenn das Geld reichte, sind wir zum Wintersport ins Erzgebirge gefahren. Ansonsten haben wir Theatervorstellungen und Konzerte besucht oder selber mit Geige, Blockflöte, Mandoline und Gitarre musiziert. Das alles hat uns über die Hitlerzeit hinweggeholfen. Man hatte ja immer das ungute Gefühl: Kommt es nun zum Krieg oder nicht? Damals traf ich auch meinen späteren Mann und habe von ihm viel über alle möglichen Interessengebiete gelernt. Er war älter als ich, hatte eine Menge gelesen und wußte über viele Dinge Bescheid.

Ab 1938 war ich im Flugzeugbau „Erlawerk Leipzig“, einem Rüstungsbetrieb, dienstverpflichtet. Nun mußte ich für den Krieg arbeiten, obwohl ich, wie viele andere, gegen ihn war. Wir bauten den Jagdflieger „Messerschmidt 109“, der es danach auf eine durchschnittliche Lebensdauer von drei Tagen brachte. Und dafür arbeiteten allein in unserem Betrieb 6.000 Menschen! In Augsburg und Wien befanden sich zwei weitere Werke. Bald hörten wir über den „Buschfunk“, daß diese inzwischen zerbombt seien. Danach mußten wir damit rechnen, als nächste an der Reihe zu sein und lebten in ständiger Angst. Denn niemand durfte den Betrieb bei Fliegeralarm verlassen.

An einem Februarsonntag des Jahres 1944 wurde dann das Werk durch einen Luftangriff völlig zerstört. Die meisten deutschen Arbeiter und Angestellten waren über das Wochenende zu Hause. Aber die Unterkünfte der vielen zwangsverpflichteten Ausländer - die Nazis nannten sie „Fremdarbeiter“ - befanden sich in unmittelbarer Nähe des Betriebsgeländes. Sie konnten nur in sogenannten „Splittergräben“ Schutz suchen, weil die Luftschutzkeller den Deutschen vorbehalten bleiben sollten. An diesem Sonntag waren sie fast leer, aber die ausländischen Zwangsarbeiter baten den Luftschutzbeauftragten vergeblich um Zutritt. So gab es sehr viele Todesopfer. Unter ihnen befanden sich auch zwei Kolleginnen, mit denen ich unmittelbar zusammengearbeitet hatte. Mein Vater berichtete, daß man die Leichenteile noch wochenlang zusammengetragen habe.

Danach verlegte man unsere Produktion zum Flugplatz Mockau, der bald ebenfalls Ziel von Bombenangriffen wurde. Wir standen auf dem freien Feld und schauten zu. Einmal war da ein seltsames Geräusch in der Luft, das wir uns nicht erklären konnten. Aber die Kollegen riefen uns zu, wir sollten schnell in den nächsten Graben kriechen, weil Splitter herumsausten.

Nach nur vier Wochen mußten wir zu einem kleinen Delitzscher Flughafen umziehen. Sobald es Voralarm gab, rannte alles los. Denn wer schnell war und auch klettern konnte, erwischte vielleicht einen Platz auf einem der Autos. Sie wurden in den nächsten Wald gefahren, und man war während des Angriffs etwas weiter vom Flugplatz weg. Einmal zerrten russische Arbeiter meine Kollegin und mich im letzten Moment auf einen Benzintransporter hinauf. Wir mußten uns förmlich festkrallen, um in den Kurven nicht herunterzurutschen. Bei der Rückkehr fanden wir anstelle unserer Arbeitsplätze und der Umkleidegarderobe einen riesigen Bombentrichter vor.

Danach brachte man uns zum Flugplatz Klotzsche bei Dresden. Das war noch im Jahr 1944, und die Dresdner hatten bis dahin keinen größeren Bombenangriff erlebt. Die Menschen waren schön gekleidet und hatten sogar Gardinen an den Fenstern. Bei uns zu Hause hingen schon längst keine mehr, denn die Wohnung lag in der Nähe des Flughafens Leipzig-Mockau. Im Verlauf der dauernden Bombardements waren schon viermal die Fensterscheiben zersprungen, und auch das Dach war mehrfach beschädigt worden.

Aber dann kam der 13. Februar 1945, und Dresden erlebte drei schwere Angriffe. Wieder standen wir im freien Feld, weil es für uns keinen Luftschutzkeller gab. Den brennenden Himmel über dem Elbtal werde ich nie vergessen. Danach liefen an unserem Betrieb viele Menschen vorbei, die ihre Wohnung verloren hatten oder aus Angst vor dem Feuer und neuen Bombenangriffen flüchteten. Das ging eine Woche lang so. Kein Brot wurde gebacken, und man bekam auch keine anderen Lebensmittel. Eine meiner Kolleginnen und ich waren froh, als uns ein italienischer Arbeiter von irgendwoher einige Kartoffeln besorgte. Damit hielten wir uns ein paar Tage über Wasser.

Obwohl auf den Flugplatz keine Bombe gefallen war, sollte unser Betrieb kurz darauf nach Bayern verlegt werden. Meine Kollegin stammte aus Bamberg und wollte mitgehen. Ich aber bat den Vertreter der „Arbeitsfront“1, statt dessen nach Leipzig zurückkehren zu dürfen. Das war im März 1945. Manche glaubten immer noch an den Endsieg, ich aber nicht.

Während der ganzen Zeit hatte ich mit ausländischen Zwangsarbeitern zusammengearbeitet. Zuerst mit Flamen aus Belgien. Die waren an der Haltestelle ihres Heimatortes von der SS mit Gewalt auf Lastwagen verladen und dann in Deutschland als Zivilarbeiter zwangsverpflichtet worden. Ebenso gab es russische Zivilisten, die gut deutsch sprechen konnten. Sogar den „Erlkönig“ sagte mir einer auf, auch die „Glocke“ von Schiller - nicht ganz komplett, aber immerhin. Im Unterschied dazu wußte ich damals noch nichts von Puschkin, Tschechow oder irgendeinem russischen Komponisten. Einen Film über Glinka hatte ich mal gesehen, das war aber schon alles. Mit Tschechen und Italienern habe ich auch lange Zeit gearbeitet. Die Italiener waren Kriegsgefangene. Man ging nicht besonders gut mit ihnen um.

1945, nach Kriegsende, arbeiteten meine Schwester und ich zunächst für täglich ein Pfund Getreide und zwei Kilo Kartoffeln auf den Feldern des Rittergutes Breitenfeld.

Das half uns über die erste Hungerszeit hinweg. Jeder Mensch sorgte nur für sich selbst, um zu überleben. Der Schwarzmarkt blühte.

Einen Hoffnungsschimmer brachte uns das Potsdamer Abkommen vom Juli-August 1945. Denn die Siegermächte beschlossen, daß Deutschland eine wirtschaftliche Einheit bleiben würde. Außerdem sollten diejenigen, die den Zweiten Weltkrieg verursacht hatten, entmachtet werden.

Parteien und Gewerkschaften wurden gegründet. Für mich war es eine Verpflichtung, daß ich mich nach dem Elend, das der Krieg über uns und andere Völker gebracht hatte, in einer der Arbeiterparteien organisierte. Da ich noch jung war und die Musik liebte, engagierte ich mich aber auch in einer Volksmusikgruppe, die gerade gegründet worden war. Die Menschen waren damals richtig hungrig nach Musik und Frohsinn, so daß wir immer vor vollen Sälen spielten und sangen. Unsere Musikgruppe sorgte auch für die kulturelle Umrahmung von Versammlungen, beispielsweise zur Unterstützung der Vereinigung von KPD und SPD, die wir sehr begrüßten

Wir bauten die Jugendorganisation FDJ auf, um den vielen jungen Menschen einen neuen Sinn des Lebens zu geben. Sie hat auch später an vielen wichtigen Stellen beim Aufbau geholfen, zum Beispiel in der Maxhütte, beim Bau des Rostocker Hafens und bei der Landgewinnung durch Melioration.

Ich hatte schon 1942 geheiratet, aber mein Mann war danach zur Wehrmacht gezogen worden und kam erst 1947 aus amerikanischer bzw. englischer Gefangenschaft zurück. Er war damals bereits Mitte Dreißig, und wir wollten nun endlich eine richtige Familie gründen. Nach Geburt unserer beiden Töchter blieb ich erst mal eine Zeitlang als Hausfrau und Babypflegerin zu Hause, brachte aber der weiteren politischen Entwicklung trotzdem großes Interesse entgegen.

Wie viele andere verfolgte ich voller Hoffnung die unermüdlichen Bemühungen der Sowjetunion und unserer Regierung um die Einheit Deutschlands und mit Sorge den gegenteiligen Kurs der Westmächte und Adenauers, welcher 1949 schließlich zur Gründung der BRD und damit zur Spaltung führte. Danach war die Gründung der DDR für mich ein logischer Schritt, obwohl wir beim Start ungünstige Bedingungen hatten. Denn während Westdeutschland durch den amerikanischen Marshallplan große Unterstützung erhielt und auch die Steinkohle sowie das Ruhrgebiet mit viel Schwerindustrie sowie vierzehn Hochöfen besaß, verfügten wir kaum über Rohstoffe außer Braunkohle und hatten nur einen einzigen Hochofen.

Aber wir merkten auch, daß uns die Sowjetunion nach besten Kräften half, obwohl sie - im Gegensatz zu den USA - im eigenen Land furchtbare Kriegswunden heilen mußte. Im Jahr 1949 schickte sie uns erste Traktoren, damit wir die Felder bestellen konnten - auch in meinem damaligen Wohnort in der Nähe von Leipzig. Ich weiß noch, daß vorn am Traktor ein kleines rotes Fähnchen im Wind flatterte, und wie ich heimlich gelacht habe, wenn so ein ehemaliger Nazigroßbauer mit einem sowjetischen Traktor und dem roten Fähnchen dran über sein Feld ackerte.

Franzi Schulz


1 „Arbeitsfront" – Organisation zur Propagierung und Durchsetzung nazistischer Ziele unter den Beschäftigten der Betriebe und Einrichtungen


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