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Schwein gehabt... 

Bei wem soll ich mich dafür entschuldigen und wie lange?

Es fing schon damit an, daß Vati nicht ins KZ kam. Zum einen war er von den Genossen auf der Liste der Fünfergruppen für die illegale antifaschistische Arbeit vergessen worden. So ging der Kelch an Vati vorbei, als diese Liste in die Hände der Gestapo fiel. Zum anderen konnte Vati glaubhaft den Schwejk und den Dorfdummen in einem spielen, als SA-Sturm-Leute aus purer Schikane per illegaler Haussuchung im Frühjahr 1933 in unserer Wohnung hausten und randalierten und Vati mit in ihr Sturmlokal nahmen. Er überzeugte sie davon, ein harmloser Dummdei zu sein.

Besonderes Glück hatte ich selbst zum Kriegsende. Am 28. März 1945 brachte ich aus dem Arbeitsdienst eine verschleppte Mandelentzündung mit nach Hause. Normalerweise samt den rheumatischen Nachwirkungen eine ziemlich miese Sache. Doch hier bewahrte mich das Geschick davor, kurz vor Kriegsschluß noch eine Panzerfaust in die Hand gedrückt zu bekommen. Als ich wieder auf die Beine kam, war der II. Weltkrieg zu Ende und ich mit heiler Haut davongekommen.

„So, Du Pimpf, mach was draus!“ sagte Vati mit spöttischem Schmunzeln zu mir. Das war aber die Überschrift zu einem ganzen Kapitel seiner Lebenserfahrungen, das mir Vater Walter vor Kriegsende hätte kaum auf die Nase binden können. Denn das wäre vor einem Kind oder Halbwüchsigen lebensgefährlich gewesen. Ein Glück war auch die Geduld, mit der „mei Walter“ mir dieses Kapitel häppchenweise beibrachte. Über Nacht wäre ich aus dem Dickicht brauner Gesinnung nicht rausgekommen, in das mich die „Volksbildung“ der Nazis und die Pimpfenzeit gelockt hatten.

Immerhin war ich 1939 zu einem Sonderfähnlein kommandiert worden, aus dem Kandidaten für die Napola (Nationalpolitische Erziehungsanstalt) ausgewählt wurden. Obwohl „germanisch blond“, war ich dann aber wohl doch nicht der teutonische Typ, der gebraucht wurde - toi, toi, toi.

Lange Überlegungen, was ich nun im Mai 1945 beruflich machen sollte, nahm mir die weise Gemeindeverwaltung meines Heimatortes ab, indem sie mich mit der Arbeitsaufnahme in einer Gärtnerei beauflagte. (Schon da Kommandowirtschaft im Osten - igittigitt!) Doch da hielt es mich nicht lange. Ein Aufruf des sowjetischen Kommandanten und des antifaschistischen Jugendausschusses des Gebietes Leipzig lockten mich weg - vor allem die dort abgedruckte Freßration. Es ging um den Wiederaufbau und die Produktionsaufnahme der Aktiengesellschaft Sächsischer Werke (ASW) Böhlen/ Espenhain; Braunkohle/Benzien/Chemie.

Ausgesprochene Drecksarbeiten - wie Bombentrichter zuschippen, Beton- und Mauerbrocken zerkleinern usw. - ließen viele der anfangs zweihundert „Jugendfreunde“ wieder abhauen. Aber mich hielt eine Clique dort, die mir lag: „abgebrochene“ Oberschüler, ein paar christliche Freunde, ein Kern, der schon im Antifa-Jugendausschuß aktiv war - und die beiden Naumannbrüder aus meinem Heimatdorf: Konni und Dieter. Unter uns herrschte eine kameradschaftliche Atmosphäre. Es gab fesselnde Disputationsrunden, wo sich Gipfelstürmergespräche mit visionären Spinnereien mischten: was nun nach dem Krieg werden sollte, und wie wir es gerne hätten. Wir lernten Demokratie. Nostalgie im Hinblick auf die Pimpfenzeit war erstaunlich schwach vertreten. Ein orientierender Knüller war der Auftritt von Hermann Axen. Knapp aus dem KZ befreit und noch davon gezeichnet, berichtete er über seinen Leidensweg und seine politischen Aktivitäten. Wir Grünschnäbel waren baff, und jeder hatte auf seine Weise ein „Aha“-Erlebnis.

Und dann kam der Hammer oder, besser gesagt, das Glücksbringer-Hufeisen geflogen. Es war im November 1945. Ich sollte zu Hermann kommen. Hermann war Gewerkschaftsvorsitzender des ASW-Kombinates. Ich hatte ihn schon erlebt, als er den Koch am Schlafittchen durch den vollbesetzten Speisesaal zerrte und verdonnerte, künftig besseren „Fraß“ zu kochen. Damals wurde gemunkelt, daß es da Schiebereien gab und die Gewerkschaft dahintergekommen war.

Da stand ich nun also bei Hermann auf dem Teppich; das erste Mal in meinem Leben in einem Chefzimmer des früheren Konzernhauptgebäudes. Mir war zumute, als sollte ich unter dem Teppich zu Hermanns mächtigen Schreibtisch durchkriechen.

„Du gehst zur Universität“, sagte er mit der Bestimmtheit, die zu einem General gepaßt hätte. Verdutzt wandte ich ein, daß ich dazu erst mal das Abitur haben müßte.

„Was soll der bürgerliche Quatsch“, sagte Hermann, „Du gehst zur Universität!“ Hermanns Sekretärin, ein reifes, mütterliches Mädchen, rückte die Sache gerade und gewann Hermanns Einsicht, daß mein Einwand berechtigt war. In meiner damaligen Lebensplanung war Abitur eigentlich nicht vorgesehen, doch ich griff ohne Zögern zu.

Bereits Anfang Dezember 1945 fand ich mich in Leipzig auf der Nicolaischule wieder - einem bekannten Gymnasium, das bald Oberschule hieß. Hermann hatte das gefädelt. Er hatte den Rektor Dr. Gasse, einen feinsinnigen Bildungsbürger, überzeugt. Damit nahm er sozusagen die späteren Vorstudienanstalten bzw. Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten kühn voraus. Zwar hatte ich einen Mittelschulabschluß in der Tasche, war jedoch in den naturwissenschaftlichen Fächern schwach besattelt und in Latein bei Null. Deshalb schien mein Einzug in die 7. Klasse (Prima) recht kühn. Doch eine Mathematikstudentin und der ehemalige Direktor der Nicolaischule, Prof. Dr. Woite, halfen mir auf die Sprünge. Er war ob des Broterwerbs Mitglied der NSDAP geworden und mußte daher aus dem Amt. Zum Glück war er der Rente nahe. Er erwies sich als sanfter, verschmitzter Pädagoge und ein Fuchs in Latein. Im Sommer 1947 bestand ich das Abitur. Wahrscheinlich habe ich später nie mehr derart gebüffelt, obwohl ich ein Büffler sein konnte - wenn ich wollte.

Neben dem Lernen verdanke ich dieser Zeit auch eine andere Lektion. Die Atmosphäre in der Klasse war unter dem Einfluß aktueller Ereignisse z. T. diffus und von kontroversem Meinungsstreit geprägt. Der damalige Volksentscheid in Sachsen über die Enteignung der Naziverbrecher und Großgrundbesitzer löste heftige Debatten aus. Ein Klassenkamerad - mein ehemaliger Zugführer in der Marine-HJ, Peppi Weißborn - grinste mich mal an und verlautete: „Bin heute bester Laune, habe geträumt, ich hätte Pieck erschossen, das Schwein“. Dennoch blieb der Streit verbal, und im Schulalltag herrschte die übliche Klassenkollegialität vor, vermischt mit Kameraderie aus der HJ-Zeit - auch wenn Kamerad Fleischer inzwischen bei den Roten gelandet war. Die Haltung der Mitschüler zu mir reichte von Verachtung über „Vogel zeigen“ bis zur heimlichen oder offenen Sympathiebekundung. Ein Feindbild zueinander aber war nicht drin. Schade, daß die Gnade solcher Schule einigen aktuellen Wahlkampffiguren und Eiferern nicht zuteil wurde. Manchem müßte doch heute das christliche „C“ vor dem Parteinamen wie ein Alptraum auf der Seele liegen.

Selbst jetzt noch denke ich ohne Groll an meine kontroversen Kameraden zurück, waren sie doch gefundene Sparringspartner für das Training meiner Argumentationsfähigkeit. Das Gros traf sich später als brave DDR-Bürger wieder, die ihren Weg gemacht und Frieden mit dem neuen System geschlossen hatten. Einer von ihnen wurde sogar stellvertretender Vorsitzender einer Blockpartei - was er selbst nach der „Wende“ nicht bereute. Dagegen nannte er mir gegenüber die „Kehre zum Kapital“ entgegen seiner sonst so „feunen“ Art „große Scheiße“.

Apropos Frontwechsel zu den Roten. Der hatte ein Bündel von Ursachen. Neben Vater Walter und Buddeleinsatz in Böhlen-Espenhain prägte mich eine unvergessene Lektion. Meine Eltern kümmerten sich um eine Nachbarin, deren Mann elf Jahre im KZ Mauthausen gesessen hatte und im August '45 zurückkehrte. In diesen Tagen nahmen Mithäftlinge bei ihm Quartier, die in die Nordbezirke nach Hause wollten. Mehrere Abende nahm ich an den Gesprächsrunden teil, wo Augen- und Tatzeugen Wahrheiten auftischten, die die Seele piepen ließen. Daher wurde ich später mitunter fuchsig, wenn Zeitgenossen die KZ-Greuel als „kommunistische Propaganda“ abtaten. Im Dezember 1945 trat ich der KPD bei.

Vater Walter sagte dazu: „Wegen mir mußtest Du nicht. Hauptsache, Du bist von dem Leim runter, auf den Dich die Nazis gelockt hatten.“

So erlebte ich auch den Zusammenschluß SPD-KPD. In meinem familiären und gesellschaftlichen Umfeld war da von Zwang keine Spur, und die Polit-Spielchen der Parteiobrigkeit sowie die „Dawei-Sicht“ der sowjetischen Oberhirten waren von der Parteienbasis sehr entfernt.

Meine Mutter, der „Pfui-Worte“ sonst fremd waren, brachte es auf den Punkt, als sie, bis dato parteilos, vom Vater gefragt wurde, ob sie nicht der Partei beitreten wolle:

„Welcher denn? Die Arschlöcher sollen sich erst mal einig werden und eine Arbeiterpartei bilden; der Hickhack kotzt mich an. Und die neunmalklugen Sowjets hätten gar nicht erst zwei Parteien zulassen sollen.“

Das war eine breite Stimmung. Daher ärgert mich heute sehr, daß damals administrative Schubsereien und Pressionen angewandt wurden, um den Zusammenschluß zu sichern. Das wäre nicht nötig gewesen, und wir müßten uns heute nicht von den Schlaumeiern der ach so demokratischen Zwangsgeschichtsschreibung nach der „Kehre zum Kapital“ doof anmachen lassen mit Zwangsthesen von der Zwangsvereinigung und so.

Im September 1949 wurde ich an der Universität Leipzig immatrikuliert. Früher ging es nicht, da die Warteschlange der studentischen Kriegsteilnehmer Vorrang hatte. Doch die sechsundzwanzig Monate seit dem Abitur waren zu meiner hohen Schule vor dem Studium geworden.

Erst ging ich mal drei Monate in das Oderbruch zum FDJ-Einsatz - wieder zu Erd- und Schlammarbeiten, diesmal gegen die Folgen des Oderhochwassers vom Frühjahr 1947. Wieder sehr angetan, in Gemeinschaft zu sein, und stolz, etwas Nützliches zu leisten; wozu manch andere Schwafelhälse den Mors nicht hochbekamen. Für das Lob von Heinrich Rau, damals Leiter der Wirtschaftskommission der sowjetischen Besatzungszone, hatten wir jedenfalls bei seinem Besuch ein weit offenes Ohr.

Ab Dezember 1947 wirkte ich dann hauptamtlich bei der FDJ als Arbeitsgebietsleiter des Leipziger Stadtteils Südost. Im Mittelpunkt standen:

-   die Einforderung der „Grundrechte der jungen Generation", die später in der Verfassung der DDR verankert wurden;

-   politische Aktionen zur Unterstützung der Volkskongreßbewegung für Einheit und gerechten Frieden;

-   kulturelle und politische Bildungsarbeit einschließlich bestimmter Elemente sexueller Aufklärung.

Wie viele althergebrachte Vorurteile und verstaubte Vorstellungen aller Art haben wir damals hinter uns gelassen! Allein das wäre ein Buch für sich. Wir empfanden es als wohltuend und befreiend, eine neue Lebens- und Weltsicht zu gewinnen.

Besonders mobil wurden wir gegen die westlich initiierte und dominierte Politik der Spaltung Deutschlands. Wenn wir damals auch manche Zusammenhänge und Hintergründe noch nicht durchschauten, steht doch heute für mich fest, daß unsere tiefe Abneigung gegen diese bornierte antikommunistische Machtpolitik berechtigt war. Es ist ein schlechter Witz, daß sich die dafür verantwortlichen Politiker (bzw. ihre Nachfolger im Geiste) heute als große Sieger der Einheit darstellen und jede kritische Sicht auf diese Schweinerei aus der Geschichtsbetrachtung zu eliminieren versuchen.

An der Universität hatte ich mich für das Studium der Gesellschaftswissenschaften entschieden und landete am Franz-Mehring-Institut. Und wieder hatte ich „Schwein“. Denn ich geriet noch in jene beflügelnde Aufbruchphase hinein, wo gestandene Wissenschaftler und Antifaschisten die Lehre prägten, wie der Ökonom Prof. Dr. Fritze Behrens, der kühn und ungerührt alle drei Bände des „Kapitals“ mit uns durchkeulte; so daß mir noch heute der Schädel davon brummt und ich noch manche Passage oder Fußnote zitieren kann. Und sooft ich dieser Tage vom „scheuen Reh Kapital“ höre, steht mir automatisch dessen bei Dr. Marx nachzulesende vollständige Charakteristik vor Augen, wonach es ungeachtet aller Ängstlichkeit bei entsprechender Profithöhe kühn wird und Recht und Menschenwürde unter seinen Fuß stampft - ohne Rücksicht auf Verluste.1 (Die praktische Übung zu dieser Theorie durchleben wir heute.) Weiter prägten uns Männer wie der Rektor der Alma mater lipsiensis, Prof. Dr. Dr. Julius Lips, der Ethnologe. Er war aus dem USA-Exil und von seinen Forschungen bei urtümlichen Indianerstämmen zurückgekehrt und stellte sich nun der antifaschistischen Aufbauarbeit. Besonders beeindruckend für uns war sein Nachfolger, der Staats- und Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Georg Meyer - eine Ikone. Er hatte noch Studentenschmisse und Beulen von Keilereien mit den Nazis am Kopf. Sarkastischer Witz und treffende lateinische Zitate zierten seine Lektionen. Weitere Gelehrte, die uns prägten waren:

-   Prof. Dr. Ernst Engelberg (Historiker),

-   Prof. Dr. Hans Mayer (Literaturwissenschaftler),

-   Prof. Dr. Walter Pollak (Staats-und Rechtswissenschaftler),

-   Prof. Dr. Hermann Budzislawski (Medienwissenschaftler),

-   Prof. Dr. Walter Schulz (Gesellschaftswissenschaftler).

Eine FDJ-Initiative führte dazu, daß Studiengruppen gebildet wurden, die sich als Lerngemeinschaften bewährten und hielten. Lerneifer und Gemeinschaftssinn verflochten und beflügelten sich. Strebertum und Karrieredenken hatten hier kaum Chancen. Wenn heutige Generallinie und Zeitgeist darüber abfällige Urteile absondern, so zeigt das: Solche Highlights in der DDR-Entwicklung d ü r f e n einfach nicht wahr sein. Eine wahrhaft klägliche Haltung dieser „Gralshüter“ von „Geschichtsaufarbeitung“, „Freiheit“ und „Menschenrechten“!

Für mich verbindet sich die Studienzeit an der Leipziger Karl-Marx-Universität jedenfalls mit unverzichtbaren kollektiven Erlebnissen und menschlichen Erfahrungen, die mir mindestens ebenso wertvoll sind wie das im Jahre 1952 erfolgreich abgelegte Staatsexamen eines Dipl. rer. pol.

Fred Fleischer


1 49 Die Fußnote Nr. 250 in Band I des KAPITAL von Marx lautet: „Kapital“, sagt der Quarterly Reviewer, „flieht Tumult und Streit und ist ängstlicher Natur. Das ist sehr wahr, aber doch nicht die ganze Wahrheit. Das Kapital hat einen horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf die Gefahr des Galgens. Wenn Tumult und Streit Profit bringen, wird es sie beide encouragieren. Beweis: Schmuggel und Sklavenhandel.“ (T. J. Dunning, I.c.p. 35,36.) Quelle: MEW-Ausgabe, Berlin 1972, Bd. 23, S. 788


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