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Arm ist nur, wer niemals geträumt hat

 Plötzlich waren die Russen da! Wir hatten gar keine Zeit, Angst zu haben. Sie kamen den Gartenweg entlang, den schon blühende Apfelbäumchen säumten. Sieben oder acht erdbraune Gestalten, voran ein Offizier vom Nationalkomitee „Freies Deutschland“, von dessen Existenz wir vorher nie etwas erfahren hatten. Diese Truppe nahm Platz am runden Eßzimmertisch. Und denkt euch, sie sahen aus und benahmen sich wie Menschen!

Vor Schreck schleppten wir eiligst alles ran, was noch an Eßbarem und Trinkbarem vorhanden war. Sie aber wollten nur Wasser und freundlich sein. Ein alter Soldat, so kam er mir vor, führte mich ans Klavier, deutete auf die Noten darauf. Ich sollte also etwas spielen. Da löste sich wohl meine Erstarrung und ich war in der Lage, die Tasten zu bewältigen. Das Klavier war lange nicht gestimmt, aber der Walzer „Künstlerleben“ klang allen so schön im Ohr, und vor dem Gartentor ballerte es vom Panzer in die Stadt.

Die Sonne schien ins Zimmer. Die Soldaten erzählten gestenreich, daß bald Frieden sein wird: „Hitler kaputt, dann alles gut!“ Einer erklärte mit nuancenreicher Gestik, daß er sieben Kinder zu Hause habe. Er mimte ein Weinen, er habe Heimweh, „Krieg nix gutt, Du charascho Frau!“ Das waren also die Untermenschen - wie nationalsozialistische Medien uns jahrelang eingehämmert hatten - und wir hatten das auch geglaubt!

Ich weiß nicht mehr, wie lange diese Episode gedauert hat. Jedenfalls roch es noch lange eigentümlich: nach Machorka, „Ziegenbeinchen“, die aus fürchterlichem Kraut, in Zeitungspapier gedreht, die Gardinen noch lange schwärzten. An diesen Geruch gewöhnten wir uns bald. Er begleitete uns von nun an bei fast allen Obliegenheiten, die notwendig waren, das Leben in der zerstörten Potsdamer Innenstadt in Gang zu bringen.

Bald gab es wieder Wasser und Strom im Haus. Wir begannen die Trümmer in der Stadt wegzuräumen. Dabei halfen uns auch sowjetische Besatzungstruppen. Für acht Wochen Dachdecken erhielt ich ein halbes Pfund Butter. Welch eine Kostbarkeit!

Die Potsdamer Konferenz der Siegermächte im Schloß „Cecilienhof“ am 2. August 1945 wurde vorbereitet. Wir mußten, wie viele andere auch, unser Haus innerhalb einer Stunde verlassen. Ein hoher Offizier zog ein.

Vater, Mutter und ich zogen mit dem Handwagen umher und wurden nach fünf bis sechs fragwürdigen Quartieren endlich in einer 1 ½-Zimmerwohnung seßhaft. Gott sei Dank, es war ein wunderbarer Sommer! Wir hatten immer Hunger. Wir wühlten in den Trümmern, einfach, weil es notwendig zum Überleben war.

Inzwischen wurde ich 18 Jahre alt. Fast alle gleichaltrigen Freunde, mein Bruder, meine vier Cousins und andere männliche Verwandte waren im Krieg geblieben, in Gefangenschaft, vermißt oder gestorben. Die Trauer darüber war erst viele Jahre später tief innen spürbarar. Damals waren wir an Todesnachrichten gewöhnt, die das Sterben auf den Schlachtfeldern als Heldentaten propagierten. (Das ist ja das Schreckliche, daß der Mensch sich an fast alles gewöhnt.) Später, mit dem Wissen und der Erkenntnis des Sinnlosen, des Verbrecherischen und der Verursacher solchen Sterbens, wurde die Trauer tiefer und hat entsprechende Haltungen geprägt.

Der sowjetische Stadtkommandant, Oberst Werin - seinen Namen kannten wir damals noch nicht -, befahl auch die Ankurbelung des kulturellen Lebens in der Stadt, fast gleichzeitig mit der Verbesserung der Lebensverhältnisse materiell und technisch.

Ich erinnere mich an die Aufführung von Lessings Drama „Nathan der Weise“ in einem Ersatztheatersaal, mit Paul Wegner in der Titelrolle. Ich staunte, welch humanistisches Gedankengut uns da nahegebracht wurde!

Die Kinos wurden wieder bespielt; es waren meistens gute russische Filme, manchmal auch harmlose olle Kamellen der frühen dreißiger Jahre. „Die Leute, die hart arbeiten, sollen auch lachen können“, soll Werin gesagt haben; denn oftmals war so ein Filmerlebnis im kalten Kinosaal doch „unter der Gürtellinie“.

Es gab sogar wieder Tanzstunden bei Frau von L. Der „Schwarze Markt“ verhalf manchem zu festlicher Abschlußgarderobe. Die Herren Notabiturienten in Konfirmationsanzügen - überlebende Flakhelfer - schoben fleißig mit Alkohol und Zigaretten. Der „Schwarze Markt“ florierte. Amerikanische Soldaten boten „chocolate and cigarettes“ massenhaft an, und die verwandelten sich dank der Geschäftstüchtigkeit unserer Kavaliere in lebensnotwendige Dinge, wenn nun auch ein Tanzkleid nicht direkt dazu gehörte. Aber erhebend war es doch! Nun ja: Wir fällten Bäume, stahlen Briketts vom Bahnhof, standen stundenlang nach Brot an - aber wir tanzten eben auch.

Es war reiner Zufall, daß ich mich Ende 1947 für einen Lehrgang als Telefonistin entschied. Ich war nun 20 Jahre alt und wollte eine Tätigkeit ausüben, die bezahlt wurde. Ich habe es bis heute nicht bereut, obwohl ich später ganz andere Wege gegangen bin.

Wir Jüngeren waren eine „bunte Truppe“, unterschiedlicher sozialer Herkunft, wie man heute sagt, so viele verschiedene Temperamente, Bildung. Wir sahen nicht aus wie „Hungerhaken“. Brot und Mehlsuppen, die meistens nach dem Aufkochen wieder zu Wasser wurden, haben einen Ernährungszustand vorgetäuscht, der unsere Ausbilderinnen neidisch machen konnte. Sie waren ehemalige Beamtinnen, denen man Leid und Not der Kriegsjahre ansah. Wir respektierten sie, und sie hatten viel Geduld mit uns. Und alle hatten wir immer noch Hunger.

Es war für mich etwas Neues, in einem Betrieb zu arbeiten, fest zu etwas dazuzugehören. Ich lernte mit großem Interesse in den verschiedenen Abteilungen des Fernmeldewesens arbeiten. Die „liebwerten Amtsschwestern“, wie sich unsere Leiterinnen mitunter noch nannten, schienen uns in ihren Ansichten über die „Jugend von heute“ Äonen weit zurück. Aber das behielten wir für uns. Ich weiß nicht, ob uns Disziplin und Fleiß von ihnen vermittelt wurden, oder ob beides in der Erziehung durch das Elternhaus vorausgesetzt war.

Die Arbeitsbedingungen waren anfangs katastrophal. Das Gebäude war durch den Bombenangriff stark beschädigt. Im Nachtdienst heizten wir die Kanonenöfen mit dicken Bündeln von alten Akten, Telegrammen, und wenn es draußen besonders kalt war, rissen wir das Parkett aus den bombenzerstörten Büroräumen. Besonders der Leim daran schuf große Hitze. Dies war verboten, aber wir wurden nicht bestraft.

Im großen Postbetrieb gab es eine FDJ-Gruppe. Da sie keine Blauhemden anhatten, kannten wir niemanden von ihnen. Außerdem hatte ich mal gesehen, wie anläßlich einer Demonstration ein großer Haufen Jugendlicher ohne Schritt und Tritt durch die Straßen latschte. Das gefiel mir nicht so. Wahrscheinlich war in mir noch die Vorstellung von Reih’ und Glied und exaktem Marschtritt der Hitlerjugend prägend. Ich sang damals in einem renommierten Chor, der nie marschieren mußte.

Aber eines Tages machte die ziemlich große FDJ-Gruppe von sich reden. Sie hatte eine kleine Tanzkapelle auf die Beine gestellt. Wir wurden eingeladen, ihre Veranstaltung zu besuchen. Wir staunten. Wie hatten die das zuwege gebracht? Was konnten die noch alles?

Sie wollten ein Weihnachtsmärchen einstudieren und suchten nach weiteren „Talenten“. Da machte denn auch ich mit. Wir entschieden uns für „Dornröschen“. Die Rollen wurden frei nach dem Märchenbuch gesprochen und häufig extemporiert, je nach Reaktion im Saal. Die Kostüme wurden phantasiereich aus Vorhandenem gebastelt. Mitarbeiter schenkten uns bunte Stoffreste, unser Bäcker an der Ecke lieh mir seine hohe weiße Mütze, denn ich spielte den Koch, außerdem eine passende Schürze. Vor allem die Mütze schlug voll ein bei den Kindern, weil sie auch während der Spielpausen über den Vorhang aus geborgten Bettlaken ragte. Dies bemerkend, fuchtelte ich noch heftig mit den Kochlöffeln herum, zum Gaudi der Kinder im überfüllten Saal. Noch lange erkannten sie den „Pausenclown“ der Stadt, der mir auch weiter anhaftete.

An diese Einzelheiten erinnere ich mich so genau, weil wir gemeinsam etwas vollbracht hatten, das so viele Kinder glücklich machte und deshalb auch uns mit Glück erfüllte. Ein völlig neues Lebensgefühl war in mir erweckt. Ich konnte Gutes tun. Ich hatte richtige Freunde gewonnen. Ich konnte Vorschläge machen, mitgestalten.

Mit unseren Inszenierungen fuhren wir auch in die umliegenden Dörfer. Die Gewerkschaft und die Genossen sorgten für Fahrzeuge mit Holzgeneratoren. Das war jedesmal ein Abenteuer. Schafft er es oder schafft er es nicht? Aber der Saal im Dorf war immer krachend voll, es bullerte der Kanonenofen, der Gastwirt hatte guten Umsatz. Die Bauern amüsierten sich, und manchmal bekamen wir außer Alkohol auch etwas zu essen. Bei alledem hatten wir jede dritte Nacht von 22.00 Uhr bis 7.00 Uhr Dienst, davor noch einen Frühdienst von 7.00 Uhr bis 14.00 Uhr.

„Leute, nehmt die Wäsche ab, die Komödianten kommen“, begrüßte uns eines Tages eine neue Kollegin älteren Datums. So alt war sie sicher gar nicht. Aber alles, was über vierzig war, der Krieg hatte ja seine Spuren hinterlassen, kam uns sehr alt vor. Elli B. war es nicht. Etwas klein, dunkelhaarig und sehr bleich, was sie durch ungeschickt aufgetragenes Rouge, auch auf den Lippen, abzumildern versuchte. Sie war aus Ostpreußen geflüchtet, auf einem Schiff, das bombardiert worden war. Das aber hat sie uns nie selbst erzählt. Sie war Kommunistin und von großer Güte. Hinter einer harten Schale verbarg sich ein wertvoller Kern.

„Urrrsula, Du solltest auch rrrichtig bei der FDJ mitmachen“.

„Machen“ war bei ihr ein gängiges Wort und führte oft zu komischen Situationen. Ich „machte“ ja schon eifrig mit, hatte aber noch kein Mitgliedsbuch. Das hat sie dann geregelt. Für mein Mitmachen hat sich deshalb nichts geändert. Bei unseren Zusammenkünften dominierten organisatorische Fragen, z. B. die Vorbereitung der kulturellen Umrahmung von Betriebsfesten. Diese gaben uns Anlaß, in Scharaden und kleinen Sketchen Mißstände und Mängel im Betriebsleben auf die Schippe zu nehmen. Manchmal gab es nachher Ärger. Aber die Genossen hielten ihre Hände über uns.

Da war auch Erich Leben. Er sah aus wie das Gegenteil: Hohlwangig, ohne Zähne, haarlos von den Folgen seiner Zuchthausjahre. Er war immer „auf Achse“. Quirllebendig, voller Leben also trotz seiner Krankheit. Kunst und Kultur waren sein Lebenselixier, und so brachte er es fertig, uns u. a. Mandolinen zu verschaffen. Natürlich lernte auch ich Mandoline spielen, mehr so für Programme zu Betriebsfeiern. Später hatten wir auch einen Fanfarenzug, hinter dem ich, allerdings im Gleichschritt, nun hinterhermarschierte.

Schön waren immer die Feiern zum 1. Mai. Nicht nur wegen der Erbsensuppe, die es in den ersten Jahren immer gab. Es war das gewisse Gemeinschaftsgefühl und das Behütetsein durch Menschen, die selbst viel erlitten hatten und die ich deshalb sehr achtete.

Wir waren durchaus keine Engel. Ich schon gar nicht. Erfolg macht übermütig, und so trieben wir manchen Schabernack. Ich weiß nicht mehr, wie lange es dauerte, bis wir einen Fernschreibersaal bekamen. Wir hatten immer viel zu tun, die vielen Telegramme per Fernschreiber in die Städte zu schicken. Alle Welt telegrafierte, der postalische Weg war immer noch zu lang. Auch nahmen wir, gerade nachts, Berge ankommender Telegramme entgegen. Einmal hat es mir gereicht, und ich schrieb nach Leipzig: „Liebes Fräulein Leipzig, wenn Sie mir noch weiter so viel Telegramme schicken, spucke ich Ihnen ins Gesicht, daß Sie noch vier Wochen mit den Wellen zu kämpfen haben.“ Solches Tun war natürlich nicht erlaubt. Zufällig wurde meine Leitung kontrolliert. Ich wurde zum obersten Chef beordert. Auf dem Weg dorthin traf ich Elli B., sie zwinkerte mir zu. Da hatte sie bestimmt etwas für mich „gemacht“. Es ging also glimpflich aus.

Elli B. gewann uns für die seltsamsten Einsätze. Wir fuhren über die Dörfer und warben für den neu gegründeten Postzeitungsvertrieb. Wir lernten, wie ein Schwein aussehen muß, wenn es 100 Kilo wiegt, und überzeugten die Bauern, ihre Schweine abzuliefern. „Eßt Euch erstmal satt“, versuchte uns mancher Bauer mit Wurstbroten zu bestechen, der sich noch immer an sein kleines Schwein klammerte. Ich behauptete immer, das Schwein sei schlachtreif und habe damit ganz schöne Erfolge erzielt. Die Menschen in der Stadt sollten mehr zu essen haben. Das war ja auch Politik, sehr gute sogar, denke ich heute noch. Damals war uns das gar nicht bewußt. Man mußte uns nicht agitieren. Die Verhältnisse forderten es so.

Wenn Elli etwas vorschlug, knapp und präzise, „machte“ ich immer mit. „Wir machen heute abend die ‚Clivia’“, rief sie mir eines Tages hinterher. „Du machst doch mit?! Wir treffen uns 19.00 Uhr vor dem Jugendpostamt.“ Dieses Postamt war erst kurz vorher von einer Jugendbrigade übernommen worden und war unser ganzer Stolz. Da es anfangs im speziell buchhalterischen Bereich noch Probleme gab, auch in der technischen Organisation, halfen wir ab und zu nach Feierabend dort. Ich glaubte also, bei dem „Clivia“ oder ähnlich lautenden Problem handele es sich um etwas aus dem Postabrechnungsbereich; die hatten da immer so eigenartige Begriffe. Ich stand überpünktlich in Arbeitskleidung vor dem Postamt. Da kamen Elli B. und meine Jugendfreunde „fein gemacht“ an und staunten über meinen Aufzug. Dreihundert Meter weiter „machten“ dann die Künstler des Theaters Nico Dostals „Clivia“.

Ich erinnere mich gern an solche Episoden, an unsere kulturellen Aktivitäten, an die schwierigen Bedingungen im Arbeitsprozeß der ersten Jahre nach der Befreiung vom Faschismus.

Wir hatten „unter den Flügeln“ der Antifaschisten großes Selbstbewußtsein, ein schönes Lebensgefühl gewonnen. Aber die traurigen und bitteren Erfahrungen der Nachkriegszeit sind auch nicht spurlos an uns vorübergegangen. Jeder von uns schleppte noch sein Leid mit sich herum, und wir halfen uns gegenseitig, wo wir nur konnten.

Aber wir lernten auch bald die Ursachen der Kriege zu erkennen. Auch ich wollte nun wissen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ und war, ohne grüblerischen Sinnes zu sein, stolz auf meine unausgereiften philosophischen Anwandlungen. Man traute mir allgemein solches nicht zu, da mir noch immer etwas vom einstigen Pausenclown anhaftete. Elli B. aber bemerkte es. Sie gewann mich für einen FDJ-Lehrgang zum Thema „Von der Urgesellschaft zum Sozialismus und Kommunismus“.

In diesem Lehrgang hatte ich mein erstes großes Aha-Erlebnis. Ich begann politisch zu denken. So war es für mich logisch, daß wir in der Ostzone nach der antifaschistisch-demokratischen Etappe einen Staat gründeten, der den Sozialismus zum Ziel hatte und der dem Kapitalismus in der gesellschaftlichen Entwicklung eine ganze historische Epoche voraus sein würde.

Wir waren mit dem Herzen dabei. Ja, für alle Menschen in Zukunft den Sozialismus aufbauen und Kriege verhindern, das war ein lebenswertes Ziel. Das war mehr als alle Religionen. Das war machbar, und ich konnte dabeisein. „Das Einfache, das schwer zu machen war“. Ich hatte erkannt, wer den Reichtum der Gesellschaft schafft und wie ungerecht er bisher verteilt wurde, wie Kriege gemacht werden.

Ich begann gezielter zu lesen. „Der Mensch ist gut“, dieses Büchlein von Leonhard Frank hat mich tief berührt. Ich schrieb an Anna Seghers, nachdem ich ihr Buch „Das siebte Kreuz“ gelesen hatte.

Auf fast noch grauem Papier druckten DDR-Verlage Weltliteratur. Wir konnten sie für ganz wenig Geld kaufen oder unentgeltlich ausleihen. Alle deutschen Klassiker, die humanistische Weltliteratur waren verfügbar für jeden, der es wollte. Viel später erst genoß ich den literarisch-poetischen Stil und den humanistischen Inhalt des „Kommunistischen Manifestes“.

Das waren Sternstunden einer Jugendzeit. Sie ist mir heute näher denn je, da ich erleben muß, welche „Ideale“ die erbarmungslose Marktwirtschaft Jugendlichen aufzwingt. Wie schwer ist es, in dieser brutalen Freiheit Mensch zu sein.

Ich habe all dieses Gedankengut freiwillig in mich eingesogen. Ich sang aufrichtig mit „Das neue Leben muß anders werden“. Wir ehrten die Widerstandskämpfer gegen den Faschismus. Auch Begriffe wie „der große Bruder“ (Sowjetunion) oder die „Freunde“ hatten bei uns nicht den ironischen Unterton. Ich zitierte: „Sagen wird man über unsere Tage, viel Steine hatten sie und wenig Brot“ und glaubte daran „einst werden wir auf gläsernen Terrassen stehen“. Viel später habe ich dann daran gedacht, wenn wir vor einer neuen Jugendeinrichtung, einem Kulturhaus, vor Jugendklubs und anderen Stätten des geistig-kulturellen Lebens standen.

Ich glaube, ich bin allen Dingen und Erscheinungen des Lebens immer sehr emotionell begegnet. Das war wohl nicht immer angebracht.

Es kränkte mich eigentlich nicht so sehr, daß ich wegen meiner bürgerlichen Herkunft nicht die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät besuchen konnte.

Vor der Partei der Arbeiterklasse hatte ich große Hochachtung. Mich störte aber schon das Wort „Ergebenheit“ in ihrem Statut. Desgleichen die Aussage „Die Partei hat immer recht“.

Ich hatte kein proletarisches Klassenbewußtsein - später wurde mir ein gewisser Klasseninstinkt zugebilligt - was immer das auch sein sollte. Aber auch jene mit dem Klassenbewußtsein fuhren Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre nach Westberlin, um Heringe, Margarine, Waschpulver und Schuhe zu kaufen.

Früher noch liefen wir bis Wannsee, um dort mit der S-Bahn zu den Theatern und Opernhäusern zu gelangen, die schon wieder große Kunst vermittelten. Diese Erlebnisse waren, da wir noch in vieler Hinsicht großen Mangel litten, sehr prägend. Erst viel später erkannte ich, wie recht die sowjetischen Kulturoffiziere mit ihren Befehlen hatten, unter allen Umständen auch das geistig-kulturelle Leben so schnell als möglich in Gang zu bringen.

Und so haben wir in dieser Beziehung „im Vollen gelebt“, ohne Verbissenheit und Fanatismus; ohne Mißbrauch und im Glauben an das Gute im Menschen; mit der Gewißheit, daß es aufwärts geht.

Natürlich erscheinen mir diese Jahre heute verklärt vom jugendlichen Elan, dem tiefen Lebensgefühl, das alles Künftige zu meistern glaubte. Diese Zeit ist überlagert von den Träumen für eine sozial gerechte Welt. Wir wußten ja nicht, wie schwierig der Weg dorthin sein würde, und daß diese Träume vielleicht noch lange Utopien bleiben werden.

Ich erinnere mich noch gern an die geschilderten Jahre, die mein weiteres Leben entscheidend geprägt und mir letztlich zur Erkenntnis verholfen haben:

Arm ist nicht der, dessen Träume nicht in Erfüllung gegangen sind;

arm ist der, der niemals geträumt hat.  

Ursula Bruns 


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