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Meine Kindheit war schon längst zu Ende

 Im Februar 1939 war ich 8 Jahre alt geworden und lebte mit den Eltern und meinem jüngeren Bruder Kurt in Eschenwalde bei Tirschtiegel. Unser Gehöft lag nur 3 km von der damaligen deutsch-polnischen Grenze entfernt.

Die deutsche Artillerie führte dann im Mai bei uns Manöver durch, und wir bekamen Einquartierung. Zur gleichen Zeit spitzten sich unter aktiver Einflußnahme Hitlerdeutschlands jenseits der Grenze die Auseinandersetzungen zwischen Polen und den in Polen lebenden Deutschen auf oft sehr grausame Weise zu, so daß große Flüchtlingsströme herüberkamen. Das gab der nationalsozialistischen Propaganda natürlich gewaltigen Auftrieb.

Der August brachte besonders unruhige Nächte, weil in Polen Gebäude - meistens Scheunen - brannten und der Feuerschein bis zu uns herüberleuchtete. Ende des Monats wurden sämtliche wehrfähigen Männer unseres Dorfes einberufen, und auch Vater mußte uns verlassen. Danach packte meine Mutter die notwendigsten Sachen zusammen; denn niemand wußte, was kommen würde.

Am 1. September wurden wir früh fünf Uhr durch einen Kanonenschuß geweckt. Wie man uns später sagte, beschoß die deutsche Artillerie einen Zug, der auf der polnischen Seite von Alt-Bentschen über Tirschtiegel nach Birnbaum fuhr. Da die Granate den Kessel traf, endete seine Fahrt bereits vor dem Bahnhof Tirschtiegel. Zunächst tappten wir aber buchstäblich im Ungewissen, denn es war ein nebliger Tag, man konnte keine zehn Meter weit sehen. Irgendwann gab es dann noch einen mächtigen Knall von einer deutschen Bombe, die drüben in Sempolno eingeschlagen hatte. Unsere Unruhe legte sich erst etwas, als wir im Radio vom „siegreichen Vormarsch“ der deutschen Truppen hörten.

Sofort nach Kriegsbeginn wurden Lebensmittel- und Kleiderkarten ausgegeben. Außerdem mußten die Bauern bis auf einen geringen Eigenbedarf sämtliches Getreide, Kartoffeln und Milch abliefern. Von Zeit zu Zeit kam sogar ein Kontrolleur, der den Fettgehalt der Milch prüfte. Allerdings überlisteten die meisten Bauern ihn, und auch meine Mutter schöpfte von der über Nacht stehengebliebenen Milch den Rahm ab, bevor wir sie zur Sammelstelle brachten. War endlich genug Rahm in unserer Kanne, wurde diese an die Kellerdecke gehängt, und ich mußte sie so lange hin- und herschwenken, bis Butter entstand. Erwischen lassen durfte sich aber keiner, denn es standen strengste Strafen auf Selberbuttern, ebenso auf „Schwarzschlachten“ oder Getreideschroten.

Als Vater wieder bei uns war - er wurde nach dem Polenfeldzug aus der Wehrmacht entlassen - wollte er eines Tages in der Scheune schroten. Meine Mutter sollte den Weg zum Gehöft im Auge behalten, ihn möglichst rechtzeitig vor ungebetenen Gästen warnen und im äußersten Notfall die Stromzufuhr mittels des Hauptschalters unterbrechen. Mutter hatte im Haus zu tun, schaute wohl auch manchmal nach draußen, aber dann stand der Wachtmeister doch plötzlich vor der Haustür und wollte zum Bauern. Erst wartete er im Haus, aber dann dauerte es ihm wahrscheinlich zu lange. Er ging auf den Hof und rief vor der Scheune nach Vater. Drin versuchte dieser bereits in höchster Eile alle Spuren des Schrotens zu beseitigen, denn inzwischen hatte Mutter den Hauptschalter betätigen können. Natürlich wußte der Wachtmeister längst, daß in der Scheune Verbotenes geschah. Aber er wollte es offenbar gar nicht sehen. Was er nicht gesehen hatte, konnte er auch nicht melden. Meinem Vater hätte Zuchthaus oder Schlimmeres gedroht.

Nach der Eroberung Polens und Vaters Heimkehr schien sich auch das Leben im Dorf weiter zu normalisieren, und wir gingen regelmäßig zur Schule. Allerdings war unser ehemaliger Lehrer noch immer Soldat, und der Schulleiter unterrichtete deshalb acht Jahrgänge in einer Klasse. Natürlich lernten wir unter diesen Bedingungen nicht viel. Die Bruchrechnung beherrschte beispielsweise niemand von uns. Der Schulleiter war ein nationalsozialistischer politischer Leiter und trug meist seine „Goldfasan“-Uniform. Jeden Morgen ließ er uns ein gemeinsames Gebet für den Sieg unseres angeblich von Gott auserwählten Volkes sprechen.

1941 war ich zehn Jahre alt und wurde in das „Deutsche Jungvolk“ aufgenommen. Das war damals eine Pflichtübung. Danach begann der militärische Drill. Alle Jungen hatten jeden Mittwoch- und Sonnabendnachmittag Dienst - sehr zum Leidwesen meines Vaters, der mich dringend in der Landwirtschaft gebraucht hätte. Der Dienst bestand aus Heimabenden, in denen wir uns beispielsweise mit deutscher und Heimatgeschichte befaßten oder den Lebenslauf Hitlers auswendig lernten. Wir führten auch Gelände-, besser gesagt Kriegsspiele durch, die von einem Unteroffizier der Wehrmacht geleitet wurden. Obwohl mein Vater eigentlich kein Freund von Uniformen war, bekam ich nun auch meine Pimpfenkluft:. Dies hatte nicht zuletzt den praktischen Grund, daß man dafür weniger „Punkte“ der Kleiderkarte brauchte bzw. extra Bezugsscheine bekam. Nach Vollendung des 12. Lebensjahres wurde ich in meinem Heimatort Jungenschaftsführer und erhielt nach einem militärischen Weiterbildungslehrgang den Dienstgrad eines Hordenführers.

Wenn wir keinen Dienst hatten, mußten mein Bruder und ich tüchtig auf dem Hof mithelfen und durften nur gelegentlich am Sonntagnachmittag mit den Nachbarjungen spielen. Dafür Vaters Erlaubnis zu bekommen, war nicht einfach. Deshalb schickten wir meist unsere Mutter vor. Darüber hinaus nahm mich mein Freund Rudi sonntags oft nach Tirschtiegel zum Kindergottesdienst mit. Da konnte ich mich auch ein paar Stunden vor der Arbeit drücken. Vater verstand in dieser Beziehung keinen Spaß. Wenn er uns nach der Schule brauchte und wir kamen zu spät nach Hause - beispielsweise, weil wir im Winter erst noch ein bißchen auf dem Teich hinter der Schule herumgeschlittert waren - gab es ein Strafgericht. Aber wir haben auch viele sehr schöne Stunden mit ihm verbracht, vor allem zu Weihnachten und anderen Festtagen.

Als nacheinander ein Pole, ein Ukrainer und eine Ukrainerin als Zwangsarbeiter auf unseren Hof geschickt wurden, hielt sich Vater nicht an die mit Androhung strengster Strafen verbundene Vorschrift, wonach diese Menschen nur aus extra gelieferten Steingutschüsseln und unter keinen Umständen am Tisch der Deutschen essen durften. Er meinte, wenn er mit diesen Leuten zusammen arbeite, könne er auch mit ihnen zusammen essen.

Inzwischen war der Krieg wieder nähergerückt. Pfingsten 1944 kam Mutters Berliner Cousine zu Besuch. Als wir zusammen mit dem Rad bei meinem Onkel in Rogsen waren, erlebten wir auf dem Heimweg über uns einen Luftkampf zwischen deutschen und englischen Flugzeugen. Die leeren Patronenhülsen schlugen rechts und links von uns ein, so daß wir schnell in Deckung gehen mußten. Danach sahen wir die Rauchfahnen von abgeschossenen deutschen Flugzeugen.

Obwohl nach Weihnachen 1944 Schneefall und grimmige Kälte eingesetzt hatten, wollte meine Mutter mit mir über das Wochenende eine Verwandte im westlich von uns gelegenen Schwiebus besuchen. Allerdings wußten wir vorher nicht, daß die Rote Armee am 12. Januar 1945 einen Großangriff gestartet hatte, in raschem Tempo vorrückte und einen gewaltigen Flüchtlingsstrom aus dem Warthegau verursachte. Als wir mit den Fahrrädern wieder nach Hause wollten, wurde die Fernverkehrsstraße von den nach Westen strebenden Fuhrwerken beherrscht. Wir bekamen einen großen Schreck und mußten auf die Felder ausweichen, um in östlicher Richtung vorwärts und nach Hause zu kommen.

Die Front rückte unaufhaltsam näher. Aus der Ferne hörten wir immer öfter Kanonendonner. Bereits im Herbst 1944 waren in der unmittelbaren Umgebung Schützen- und Panzergräben gebaut worden; einer davon quer über unser Land. Auf Tirschtiegler Gebiet stand ein Radargerät. Der Bevölkerung machte man weis, es handle sich um eine neue Wunderwaffe. Allerdings brannte diese kurz vor dem Einrücken der Roten Armee einfach ab.

Der Schulunterricht wurde abgebrochen und ich als Melder eingesetzt. Mein Vater war beim Volkssturm registriert und sollte einmal nachts auf einer Brücke Wache halten. Niemanden interessierte, daß er ernstlich erkrankt war. Damit er keine Schwierigkeiten bekam, übernahm ich seine Schicht. Es herrschte klirrende Kälte, ich war knapp vierzehn und der italienische Karabiner genauso groß wie ich. Obwohl ich danach völlig durchfroren nach Hause kam, mußte ich nach kurzer Zeit schon wieder zur Schule rennen und meinen Dienst als Melder versehen.

Bald danach bekam ich auch auf meinen Meldegängen zu spüren, daß die Front näherrückte. Einmal war ich auf dem Weg nach Hause, als plötzlich ringsum Granaten einschlugen und Kugeln pfiffen. Aber selbst auf dem Hof war man nicht mehr sicher. Eines Abends kam ich eben aus der Scheunentür, da knallte es, und direkt über mir durchschlug ein Granatsplitter das Holz. Als ich ihn in der Scheune fand, war er noch ganz warm.

Nachdem der Beschuß immer stärker wurde, entschloß sich mein Vater eines Abends schweren Herzens, die beiden Zugpferde einzuspannen und mit seiner Familie den Hof in Richtung Westen zu verlassen. Wir hatten 1941 nochmals Zuwachs bekommen. Meine Schwester Ingrid war inzwischen vier Jahre alt.

Weit kamen wir nicht, denn die Straßen nach Westen waren durch den Flüchtlingsstrom total verstopft. Mit anderen fanden wir Unterkunft bei einer Bauernfamilie. In der Nacht vom 30. Januar tauchten die ersten Rotarmisten auf und fragten nach deutschen Wehrmachtsangehörigen. Als wir verneinten, verschwanden sie sofort wieder. Einige meinten daraufhin: „Na, wenn das so ist, kann es ja eigentlich nicht so schlimm werden, wie die Nazipropaganda immer behauptet hat.“ Allerdings kam es dafür am nächsten Tag um so schlimmer. Zuerst wurden die anwesenden Männer von Rotarmisten mitgenommen und anschließend scharf verhört. Als mein Vater zurückkam, hatte er zwei Platzwunden am Kopf. Er und die anderen Männer konnten aber beim besten Willen nichts über militärische Aktivitäten der deutschen Wehrmacht aussagen.

Die Kampftruppen zogen weiter nach Westen und wurden durch andere abgelöst, die alle Häuser durchstöberten, Uhren und Ringe einkassierten und Flüchtlingswagen plünderten. Auch unsere Reiseverpflegung war sofort weg. Viel schlimmer konnte es zu Hause auch nicht kommen. Deshalb machten wir uns an einem der nächsten Tage auf den Heimweg. Später erfuhren wir, daß wir gar keine Chance gehabt hätten, weiter nach Westen und über die Oder zu kommen, da wir uns in einem großen Kessel befanden.

Wir versuchten also, abseits der großen Straßen nach Eschenwalde zurückzufahren. Aber selbst auf den verschwiegensten Waldwegen kamen uns ständig Fahrzeuge der Roten Armee entgegen. Zweimal hielt man uns an und spannte dabei jeweils eins unserer prächtigen Pferde aus. Zum Tausch bekamen wir zwei armselige, abgetriebene Gäule. Während der ganzen Fahrt hatten wir furchtbare Angst, erschossen zu werden. Am meisten zitterten wir, als eine mit Rotarmisten besetzte Kutsche so knapp an uns vorbeijagte, daß sie beschädigt wurde und anhielt. Unser Wagen war zur Seite gedrückt worden und steckte fest. Die Soldaten sprangen ab und liefen mit den Maschinenpistolen auf uns zu, so daß wir unser letztes Stündlein gekommen glaubten. Aber dann faßten sie nur kräftig in die Speichen und halfen uns, wieder in Gang zu kommen.

Am nächsten Tag ging Vater mit uns beiden Jungen los, um zu Hause die Lage zu erkunden. Es war niemand da, aber alles durchwühlt und geplündert, das Vieh zum größten Teil weg und unser Hund Flocki erschossen. Danach begann eine sehr unruhige Zeit, denn dauernd tauchten plündernde Soldaten auf und kehrten das Unterste zuoberst. Wir ließen dann einfach alles liegen - es hatte keinen Zweck mehr, aufzuräumen. Später hörten wir, daß einige Bauern und der Bürgermeister erschossen worden waren. Gründe erfuhren wir nicht. Aber es ist denkbar, daß ein Zusammenhang mit der schlechten Behandlung von Fremdarbeitern bestand.

Auch ich geriet in gefährliche Situationen. Einmal stand plötzlich ein Soldat vor mir, richtete seine Pistole auf mich und sagte: „Du SS!“ wahrscheinlich lag das daran, daß ich noch immer meine schwarze Skihose und die Jacke vom Jungvolk trug, natürlich ohne Abzeichen. Ich versuchte ihm klarzumachen, daß er sich irre. Nach einer Weile nahm er dann auch seine Pistole weg und ging weiter. Ein andermal stand ich oben an der Treppe zur Haustür, während Vater unten im Hof mit zwei sowjetischen Soldaten verhandelte. Sie fuchtelten mit ihren Waffen herum und sagten etwas Unverständliches. Schließlich verstanden wir, daß ich hinunterkommen solle. Aber als ich dann vor ihnen stand, schüttelte der eine den Kopf, und sie verschwanden wieder.

Inzwischen hatten Polen die Macht übernommen, und nun mußte jeder Deutsche zur Kennzeichnung eine Armbinde tragen. Mitte März 1945 nahmen polnische Miliz, sowjetische Soldaten und ein Deutscher meinen Vater zu einer „kurzen Überprüfung“ nach Tirschtiegel mit, und am nächsten Tag wurde auch ich abgeholt. Im Sammellager „Steindammer Mühle“ sperrte man mich mit anderen in einen Kohlenkeller. Als ich erfuhr, daß sich Vater in einem benachbarten Raum befand, wechselte ich trotz strenger Verbote zu ihm hinüber. Danach wurden wir sogar gemeinsam zu den Verhören der GPU-Offiziere geholt. Am Sonntag, dem 18. März - er hatte eigentlich mein Konfirmationstag sein sollen - ließ man uns alle im Hof antreten und begann uns zu sortieren. Mein Name wurde verlesen. Ich mußte aus der Reihe treten und stand danach ganz allein, bis noch ein alter Mann dazukam. Uns beide ließ man gehen, während alle anderen in den Keller zurückgeführt wurden. Ich habe meinen Vater danach nicht mehr wiedergesehen. (Umstände und Zeitpunkt seines Todes sollten wir erst Jahre danach von einem katholischen Priester erfahren, der sich lange mit ihm im gleichen Lager befunden hatte. Mein Vater war, schwer krank und entkräftet, unmittelbar vor dem Rücktransport nach Deutschland gestorben.)

Zur Freude meiner Mutter kehrte ich nach Hause zurück, führte danach aber zunächst ein richtiges Zigeunerleben - mal hier, mal dort, immer auf der Flucht und voller Angst, erneut verhaftet zu werden. Nach einiger Zeit blieb ich aber dann doch zu Hause. Dort war inzwischen ein französischer Pfarrer einquartiert worden, der sich in deutscher Gefangenschaft befunden hatte und nun auf das Kriegsende und seine Heimkehr wartete. Bis dahin versuchte er mir die französische Sprache beizubringen, aber es blieb nicht viel Zeit.

Die größte Gefahr ging inzwischen von marodierenden Soldaten aus, die sich von ihren Truppenteilen entfernt hatten und plündernd umherzogen. Eine dieser Banden bestand aus vier Mann, die unsere Gegend mit einem Pferdefuhrwerk unsicher machten und unsere Nachbarstochter Hilde in ihre Gewalt gebracht hatten. Ich war Augenzeuge, als ihnen Rotarmisten und polnische Milizionäre einen Hinterhalt stellten. Sie warfen von ihrem Wagen zwar noch eine Handgranate in ein Wohnhaus, aber danach wurden alle vier erschossen. Hilde hatte Glück, daß sie unverletzt davonkam.

Einige Zeit später wurden wir beide zur Begleitung eines unter sowjetischem Kommando stehenden Viehtransports einkassiert. Hilde mußte das Vieh treiben und ich einen Ochsenwagen kutschieren. Dieser Aufenthalt bei der Truppe war für mich ziemlich ungefährlich, nicht aber für Hilde. Deshalb gaben wir uns als Geschwister aus. Von den Soldaten wurde sogar akzeptiert, daß der Bruder die Schwester zu beschützen hatte. Nachts schliefen wir immer in irgendeiner Scheune. Ich hielt mich in unmittelbarer Nähe meiner „Schwester“ auf und war sofort wach, wenn so eine Bursche angekrochen kam. Sobald er mitkriegte, daß ich aufrecht saß, zog er wieder von dannen. Um doch irgendwie ans Ziel zu kommen, versuchten sie mich mit 96 %igem Sprit betrunken zu machen. Aber ich preßte fest die Lippen zusammen. Irgendwo in der Nähe von Meseritz wurden wir dann entlassen und gingen wieder nach Hause.

Inzwischen war der Krieg zu Ende. Dies merkten wir daran, daß Flüchtlinge zurückkehrten, der französische Pfarrer sich verabschiedete und aus dem Osten immer mehr Polen kamen, um die Bauernhöfe in Besitz zu nehmen. Bei uns war eine Gruppe sowjetischer Soldaten einquartiert, die das Korn ernteten. Ihre Anwesenheit bewirkte, daß wir nicht mehr von herumstreunenden Plünderern belästigt wurden. Die Truppe hatte ihre Feldküche unter unserem Kastanienbaum stehen, und manchmal bekamen auch wir etwas zu essen.

Eines Tages nahm eine polnische Familie unseren Hof in Besitz, und natürlich entstand daraus Feindschaft. Anweisungen, die der Mann mir gab, habe ich grundsätzlich weder verstanden noch ausgeführt. Am 26. Juni erschien polnische Miliz und forderte uns im Auftrag des polnischen Bürgermeisters auf, das Haus sofort zu verlassen. Wir durften nur etwas Handgepäck mitnehmen. In der Eile luden wir alles, was wir greifen konnten, auf den Handwagen, setzten die kleine Ingrid obenauf und fuhren zur Sammelstelle. Dort trafen wir eine Menge Bekannte und auch Verwandte. Am nächsten Morgen mußten wir alle unter militärischer Bewachung unsere Heimat verlassen und nach Westen marschieren. Unterwegs warfen viele Leute weg, was sie nicht mehr tragen konnten. Als an unserem Handwagen ein Rad entzweiging, fand ich glücklicherweise am Straßenrand eine Schubkarre. Wir luden einen Teil unserer Habe darauf, und dann schob ich sie während des ganzen Tagesmarsches von etwa 25 km vor mir her, bis wir in einer Scheune übernachten durften. Danach schlief ich wie ein Toter. Am nächsten Morgen streiften wir Jungen durch das Dorf, denn inzwischen wurden wir nur noch von einem Milizionär bewacht, und der konnte nicht überall sein. Da fand sich dann tatsächlich an einem defekten Handwagen noch ein intaktes Rad, so daß wir unser eigenes Gefährt reparieren konnten. Auf vielen Umwegen kamen wir schließlich nach einem mehrtägigen Marsch bei Reitwein an die Oder. Am Abend versammelten wir uns in einem Raum und sangen zum Abschied Heimatlieder.

Deutschland empfing uns mit schlechtem Wetter und auch sonst unfreundlich. Keiner wollte uns haben, und niemand fühlte sich für uns zuständig. Unser Treck löste sich bald auf, weil jeder auf anderem Wege ein Unterkommen suchen mußte, beispielsweise bei Verwandten. Unser ersehntes Ziel war Schwarzenhof im Kreis Waren-Müritz, denn dort wohnte Onkel Fritz. Er war Förster und ein Bruder meines Vaters. Glücklicherweise besaßen wir eine Landkarte und setzten uns danach jeweils ein Tagesziel. Übernachtet haben wir entweder in Scheunen oder unter freiem Himmel und einmal sogar in einer kleinen Kirche, wo wir auf den Bänken schliefen. Um uns am Leben zu erhalten, mußten wir unterwegs überall um Eßbares betteln und uns manchmal selbst etwas von den Feldern nehmen.

Doch dann kam endlich der Morgen, an dem wir uns frohen Mutes auf die letzte Strecke nach Schwarzenhof begaben. In einem Dorf davor stand sogar ein Förster auf der Straße. Als wir ihn nach Onkel Fritz fragten, erhielten wir allerdings die niederschmetternde Antwort, daß dieser mit den abziehenden deutschen Soldaten in Richtung Westen geflohen sei. Da setzten wir die kleine Ingrid wieder auf den Wagen und beschlossen, nach Waren zu gehen. Dort wollten wir uns bei irgendwelchen Behörden melden. Dann sollten die mit uns machen, was sie wollten - wir konnten nicht mehr. In Waren wurden wir in ein geräumtes Militärlazarett eingewiesen und bekamen sogar täglich eine Suppe. Aber nach etwa einer Woche wurden wir aufgefordert, nach dem 10 km entfernten Groß Gievitz zu gehen. Damit fand unser Marsch seinen Abschluß. Insgesamt dauerte er etwa vier Wochen. Wir sind 400 km zu Fuß gegangen, meine Mutter in Holzpantoffeln. In Eschenwalde waren sie noch neu, als wir in Groß Gievitz ankamen aber völlig abgelaufen. Ich selbst war zwar erst vierzehneinhalb Jahre alt, aber meine Kindheit war eigentlich schon längst zu Ende.

Vom damaligen Bürgermeister wurden wir in das ehemalige Schloß eingewiesen, wo danach zunächst insgesamt achtzehn Personen in einem 30-m2-Zimmer einquartiert waren. Später reduzierte sich die Belegung allmählich, aber wir sollten noch im Jahre 1956 zu sechst in diesem Raum leben.

Zunächst versuchten wir zurechtzukommen, so gut es ging. Ein aus Bessarabien stammender Mann sprach perfekt Russisch und war deshalb als „Flüchtlingsältester“ eingesetzt. Er verteilte auch die Lebensmittel - wenn es welche gab. Im Dorf waren wir Flüchtlinge nicht beliebt. Eine Bäuerin äußerte einmal, es sei am besten, wenn wir alle verrecken würden. Tatsächlich starb im August 1945 im Durchschnitt täglich eine Person, d. h. wenn an manchen Tagen keiner starb, so waren es an anderen Tagen gleich mehrere. Aber da man sich untereinander kaum kannte, herrschte darüber auch keine besondere Betroffenheit. Am verbreitetsten waren Typhus und Durchfall. Allerdings wurde inmitten all des Elends auch ein gesundes Kind geboren - der kleine Fredi.

Bald erkrankte auch mein jüngerer Bruder schwer an Typhus. Sein letzter Wunsch war, noch einmal Grießpudding zu essen. Da machte sich meine Mutter in ein Nachbardorf auf und erbettelte dort von einer gutmütigen Bäuerin auch wirklich ein Pfund Grieß, ein paar Eier und etwas Milch. Daraus kochte sie meinem Bruder auf unserer offenen Feuerstelle im ehemaligen Schloßpark einen Grießpudding, den er mit großem Appetit aß. Von da an ging es wieder aufwärts mit ihm, und er überwand die Krankheit.

Uns quälte ständig gräßlicher Hunger. Einmal saß ich aus irgend einem Grund wartend vor dem Haus des Bürgermeisters und sah seinen Sohn herauskommen. Er hielt ein großes Stück Blechkuchen in der Hand und biß kräftig davon ab. Wir hatten zu Hause weder ein Krümel Brot noch Kartoffeln. Vor Hunger schmerzte mir der Magen. Ich machte, daß ich wegkam. Denn am liebsten hätte ich den Jungen überfallen.

Von der sowjetischen Kommandantur Groß Gievitz wurden ehemalige Gutsknechte und auch Flüchtlinge zur Ernte herangezogen. Ich erhielt ein Pferd zugeteilt und fuhr den ganzen Tag mit dem Hungerrechen über das Feld, um die beim Mähen heruntergefallenen Halme aufzuharken. Arbeitsbeginn war 6 Uhr Moskauer, d. h. 4 Uhr Mitteleuropäischer Zeit. Aber dafür bekamen wir nun täglich ein Mittagessen, monatlich 150 Mark Besatzungsgeld und jeden Mittwochabend ein Viertel Kommißbrot sowie ein paar Fleischknochen.

Die gesamte Ernte wurde zwar durch die Besatzungsmacht beschlagnahmt, aber zumindest die Kartoffelmieten befanden sich auf einem Feld hinter dem Schloßpark. Dort haben wir Jungen dann den Winter über Kartoffeln gestohlen. Einmal wurden wir dabei erwischt und anschließend auf der Kommandantur kräftig ausgeschimpft. Wir mußten einen Tag unentgeltlich arbeiten, aber danach ließ man uns laufen. Natürlich haben wir auch weiterhin Kartoffeln geklaut, denn anders waren keine zu bekommen, und der Hunger quälte schrecklich. Über den „Hausältesten“ wurde wöchentlich pro Person ein Brot ausgegeben. Nur manchmal bekamen wir dazu noch ein bißchen braunen Rohzucker. Unter diesen Umständen, und da wir unseren Vater sehr vermißten, verlebten wir ein sehr trauriges Weihnachtsfest.

1946 ging ich noch einige Tage zur Schule, um wenigstens ein Entlassungszeugnis zu haben, und wurde auch konfirmiert. Dazu hatte man mir aus einer alten Uniform eine Jacke genäht. In den folgenden Jahren arbeitete ich überall, wo es etwas zu tun gab und vor allem dort, wo ich dafür Essen bekommen konnte: Holz hacken, Getreide dreschen, Gräber ausheben, Pflegearbeiten auf dem Friedhof usw. Einige Zeit war ich in der Molkerei beschäftigt, wo in doppelter Hinsicht viel Wasser verbraucht wurde - einmal für das Säubern der Anlage und zum andern für das „Verlängern“ der Buttermilch, die dann den Flüchtlingen im Schloß verkauft wurde. Von manchem wurde eben schon damals aus Wasser Gold gemacht. Eine Zeitlang arbeitete ich auch bei der Post.

Im Jahr 1946 wurde in Groß Gievitz die Bodenreform durchgeführt und das Restgut Groß Gievitz aufgeteilt. Der ehemalige Gutspächter mußte das Dorf verlassen, und alle Flüchtlinge oder Umsiedler, die Land wollten, bekamen welches. Bei den Vermessungsarbeiten des Katasteramtes wurde ich herangezogen, um das Stahlbandmaß über das Feld zu ziehen und die Meßlatte zu halten. Diese langweilige Aufgabe habe ich nicht eben mit großer Freude erfüllt.

Damals kam ich auch mit der Antifa-Jugend des Dorfes in Berührung. Wir gründeten eine Laienspielgruppe und traten in Groß Gievitz, aber auch in den Nachbardörfern auf. In dem Stück „Der gestohlene Bratenduft“ spielte ich einen geizigen Gastwirt.

Ein großes Ereignis war, als uns ab etwa 1947 regelmäßig der Landfilm besuchte. Da sich das nächste Kino im etwa 10 km entfernten Waren befand, waren die Vorstellungen sehr gut besucht. Danach kam auch das Neustrelitzer Theater mit kleinen Stücken zu Gastspielen aufs Land, und zu größeren Veranstaltungen fuhr manchmal ein Bus nach Waren. Den „Vogelhändler“ habe ich zum ersten Mal dort gesehen.

Später kam ich in Verbindung mit dem Technischen Leiter der MAS Groß Vielist, der in unserem Dorf wohnte. Auf meine Bitte vermittelte er mir eine Stelle als Umschüler. Ich erhielt einen zweijährigen Ausbildungsvertrag und begann am 1. Dezember 1949 in der MAS Groß Vielist, Kreis Waren Müritz, meine Umschulung als Landmaschinenschlosser auf Probe.

Die Maschinenausleihstationen (MAS) waren nach der Bodenreform geschaffen worden und ermöglichten Kleinbauern das Ausleihen von Zugmitteln und anderen landwirtschaftlichen Geräten einschließlich des Bedienungspersonals, ohne daß sie dadurch von Großbauern oder anderen Leuten abhängig wurden. Außerdem sollten sich diese Stationen zu kulturellen Zentren entwickeln und den Einfluß der Arbeiterklasse auf dem Lande stärken.

Der erste Arbeitstag begann damit, daß ich in der Werkstatt Traktorenteile waschen mußte. Mein Ausbilder meinte, daß ich dadurch die Beschaffenheit eines Traktors am besten begreifen würde und hatte damit wahrscheinlich nicht ganz unrecht. Da ich nur auf Probe eingestellt war, tat ich alles, um im Betrieb bleiben zu können. So trat ich bereits im ersten Monat nach einer entsprechenden Anfrage in die DSF (Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft) ein, ohne zu wissen, was sie überhaupt bezweckte. Ähnlich erging es mir mit der Mitgliedschaft in der Freien Deutschen Jugend. Aber jede dieser Organisationen verlangte auch nur 0,10 M Mitgliedsbeitrag im Monat. FDGB-Mitglied war ich bereits seit 1947 und hatte sogar schon formal eine Funktion bekleidet, von der ich allerdings überhaupt nichts verstand. Während meiner Zeit bei der Post hatte man mich zum „Kreisjugendsekretär des FDGB“ im Kreis Waren gemacht. Aber da ich keine Anleitung bekam, weil die Funktionäre andere Sorgen hatten, tat ich nichts, und die Sache geriet in Vergessenheit.

In der MAS verlief die Probezeit zu meinen Gunsten, und ich durfte bleiben. Schwierigkeiten machte nur das Arbeitsamt in Waren. Der zuständige Bearbeiter wollte meinen Vertrag nicht bestätigen. Er war der festen Meinung, ich würde sowieso nicht auslernen, sondern wegen der besseren Verpflegung und Entlohnung vorher zur Polizei gehen. Er unterschrieb erst, als ich ihm hoch und heilig schwor, nicht zur Polizei zu gehen, sondern fleißig zu lernen und meine Prüfung abzulegen.

Zunächst wurde ich in der Schlosserei und anschließend in der Schmiede der MAS eingesetzt. Durch die schwere Arbeit war ich am Abend immer ganz schön geschafft. Da es damals wenig Material gab, wurde vieles selbst angefertigt. Vor allem mußten die Pflugschare immer wieder ausgeschmiedet werden. In einem gesprengten Rüstungsbetrieb bargen wir Moniereisen, aus dem wir Pflugscharbolzen herstellten. Später kam ich an die Drehbank zu einem erstklassigen Fachmann. Diese Arbeit machte mir großen Spaß, und ich habe sehr viel gelernt. Danach wurde ich auch im Ersatzteillager und manchmal sogar als Wachmann eingesetzt.

In der Berufsschule Waren besuchte ich sowohl die allgemeine Klasse als auch die Fachklasse für Schlosserlehrlinge und -Umschüler. Ich nahm damals am 3. Berufswettbewerb der Deutschen Jugend teil und besitze das Nachweisheft darüber noch heute.

Meine Ausbildung brachte auch außerhalb der Arbeitszeit allerhand Strapazen und vor allem lange Fußmärsche mit sich. Ich wohnte immer noch in Groß Gievitz, und die MAS Groß Vielist lag 17 km davon entfernt. Deshalb schlief ich wochentags in der dortigen Traktoristenunterkunft. Über den Strohsack auf dem Bettgestell legte ich eine Decke, und mit einer anderen deckte ich mich zu. Allerdings wurde es im Winter gegen Morgen ziemlich kalt. Am Sonnabend arbeiteten wir bis 13 Uhr. Danach marschierte ich nach Groß Gievitz und blieb über Sonntag zu Hause. Da meine Arbeit am Montag früh um 7 Uhr begann, ging ich aber schon 2.30 Uhr wieder los und bin in der ganzen Zeit tatsächlich nicht einmal zu spät gekommen. Mittwochs war Berufsschule.

Das hieß für mich, früh erst mal 5 km Fußmarsch von Groß Vielist nach Waren. War der Unterricht dann vorbei, lief ich etwa 12 km nach Hause und stand wieder mitten in der Nacht auf, um am Donnerstagmorgen pünktlich zu Arbeitsbeginn in Groß Vielist zu sein.

Im September 1950 konnte ich mir mit Unterstützung der Familie ein Fahrrad kaufen. Danach fuhr ich täglich zur Arbeit und wieder nach Hause. Leider war der Rahmen von geringer Qualität und brach, als ich eines Abends über das Groß Vielister Kopfsteinpflaster fuhr. Ich stürzte dabei und zog mir Verletzungen zu, aber die machten mir viel weniger zu schaffen als die Zerstörung meines Fahrrades. Da war es sehr von Vorteil, daß ich Schlosser lernte. Ich kriegte das Rad wieder einigermaßen hin.

Inzwischen war ich in unserer FDJ-Betriebsgruppe aktiv tätig geworden und wurde zum FDJ-Sekretär gewählt. Gemeinsam mit den Jugendlichen des Dorfes Groß Vielist bauten wir einen Klampfenchor auf. Ich übernahm die organisatorische Leitung und spielte Akkordeon. Außerdem riefen wir noch eine Tanzgruppe ins Leben, für die wir auch selbst die Choreographie gestalteten. Diese Freizeitbeschäftigung machte uns großen Spaß. Im Kulturhaus der MAS probten wir so lange, bis alle ihre Mandolinen und Gitarren beherrschten und die Liedertexte auswendig konnten. Danach traten wir häufig in den umliegenden Dörfern auf. Unsere Veranstaltungen waren stets sehr gut besucht. Zum 1. Mai beim Demonstrationszug in Waren und Groß Vielist dabei zu sein, war Ehrensache.

Wir gründeten auch eine Ortsgruppe der FDJ, deren Sekretär ich ebenfalls wurde. Damals war noch zu spüren, daß die FDJ eine überparteiliche Organisation sein sollte. Sie vereinte Jugendliche aller politischen Richtungen und verschiedener Konfessionen. Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, diesen Charakter beizubehalten, anstatt sie immer stärker zur sogenannten „Kampfreserve der SED“ zu machen.

Angeleitet wurden wir hauptsächlich vom Kreisvorstand der FDJ, während sich Parteisekretär und Kulturleiter der MAS kaum in unsere Belange einmischten. Sozusagen als Lehrbeispiel wurden unsere Versammlungen in der ersten Zeit von einem „Anleiter“ des Kreises organisiert und durchgeführt. Kurios war, daß wir außer unserem Versammlungspräsidium jedesmal ein „Ehrenpräsidium“ wählten, in das obligatorisch zumindest Stalin, Mao Tse-tung und unser Staatspräsident Wilhelm Pieck hineingehörten. Hauptthema der Versammlungen war die Verbesserung unserer kulturellen Arbeit für die Landbevölkerung oder die Teilnahme an Wettbewerben mit anderen Kulturgruppen. Die große Politik spielte bei uns damals eine untergeordnete Rolle.

Eines Tages mußte ich meine inzwischen erworbenen Schlosserkenntnisse sogar bei einem alten SIS-LKW anwenden, um einer Anzahl von Groß- und Klein Gievitzern die versprochene Teilnahme am Sandbahnrennen in Teterow zu ermöglichen. Nachdem der Fahrer des LKW und ich am Vorabend erschrocken einen Defekt festgestellt hatten, bauten wir fast die ganze Nacht am Fahrzeug und schafften es. Der LKW fuhr pünktlich ab, brachte die Leute zum Rennen und auch wieder glücklich nach Hause.

Am 10. März 1951 fand in der MAS-Leitwerkstatt Malchin die Abschlußprüfung für Lehrlinge und Umschüler statt. Nach der theoretischen Prüfung wurde eine Handskizze für das von jedem herzustellende Werkstück übergeben. Soweit ich mich erinnere, mußte ich eine Abziehvorrichtung anfertigen. Dazu waren sämtliche Arbeiten erforderlich, die ein Schlosser beherrschen muß. Die Prüfung dauerte einen ganzen Tag. Abends bekamen wir die Ergebnisse, und zu meiner großen Freude hatte ich bestanden. Nun besaß ich endlich einen Beruf.

Kurz danach hatte ich im Zusammenhang mit meinen sportlichen Aktivitäten einige interessante Erlebnisse. Im Jahr 1950 war ich unserer Betriebssportgruppe beigetreten, die zur Sportvereinigung „Traktor“ des Landes Mecklenburg gehörte. Zunächst turnte ich vor allem am Barren, bekam dann aber über unseren MAS-Leiter Verbindung mit dem Bobsport. Nach Abschluß meiner Umschulung wurde ich nun erst mal nach Thüringen geschickt, um in einer Privatfirma mit an den Zweier- und Viererbobs zu bauen, die danach den Bobsportlern der DDR zur kostenlosen Nutzung übergeben wurden. Anschließend stellte man mich sogar selbst für die Teilnahme an zwei Boblehrgängen von der Arbeit frei, d. h. mein Betrieb war zur Weiterzahlung des Lohnes ohne Anrechnung auf den mir gesetzlich zustehenden Urlaub verpflichtet.

In Oberhof marschierten wir nicht ohne Stolz von einer Trainingsstätte zur anderen und wurden von solch erfahrenen Könnern wie Altmeister Erich Hansen in die Geheimnisse des Bobsports eingeweiht. Wir spielten Volleyball, und Skitrainer des Deutschen Sportausschusses betrieben mit uns Leichtathletiktraining. Während des zweiten Lehrgangs saß ich dann sogar als Bremser im Bob „Mecklenburg I“, der zunächst Landesmeister und deshalb sogar Teilnehmer der DDR-Meisterschaften wurde. Allerdings brach da unser Schlitten beim zweiten Lauf mit einer Kufe ins Eis ein, und wir flogen im doppelten Sinne raus.

Nach Rückkehr in unsere MAS arbeitete ich noch einige Wochen in der Schlosserei, wurde dann als Assistent des Technischen Leiters eingesetzt und voll in die Leitungstätigkeit einbezogen, z. B. als Diensthabender. Diese Tätigkeit sollte u. a. auch der Vorbereitung auf ein späteres Studium dienen.

Offenbar konnte ich meine Aufgaben zur Zufriedenheit der Vorgesetzten und Funktionäre erfüllen, denn man forderte mich auf, Kandidat der SED zu werden. Wegen unserer schlimmen Erfahrungen hatte ich nach Kriegsende keinerlei Sympathie für die Sowjetunion, Polen oder die Argumente deutscher Antifaschüler verspürt, die mit mir über die Lehren der Vergangenheit diskutieren wollten. Später war ich völlig desinteressiert und erst durch meine FDJ-Arbeit einigermaßen mit politischen Problemen in Berührung gekommen. Da sich für mich seit meinem Arbeitsbeginn in der MAS aber alles zum Guten entwickelt und auch unser ganzes Leben Fortschritte gemacht hatte, sah ich nun keinen Grund, nicht Kandidat zu werden. Verglichen mit den Möglichkeiten im Westen, war ich hier weit besser dran. Ich hatte mich in den ersten Jahren ja sogar mal drüben umgesehen und versucht, Arbeit zu bekommen. Aber man fand mich zu jung, und ich besaß auch nicht die entsprechende Vorbildung, was nicht meine Schuld war. Dagegen hatte ich in der jungen DDR auch ohne Vorbildung die Chance zum Lernen erhalten und zweifellos eine gesicherte Zukunft vor mir.

                                                                   Heinz Saage


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