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Wolfgang Wünsche

Gegen deutsche Großmachtpolitik - eine Hinterlassenschaft der DDR für die Zukunft

Die Außenpolitik der BRD wird weiter militarisiert. Die Nichtteilnahme der Bundeswehr am USA-geführten Angriffskrieg gegen den Irak 2003 kann nur als Signal verstanden werden, nicht alle militärischen Interventionen und Angriffskriege der USA mit Streitkräften zu unterstutzen. Im Januar 2004 waren etwa 10 000 Angehörige der Bundeswehr im Auslandseinsatz - in Afghanistan, in Bosnien, im Kosovo, in Mazedonien, in Georgien, am Horn von Afrika und in der Straße von Gibraltar. Der Einsatz von Bundeswehreinheiten in Somalia und im Kuwait dauerte nur einige Monate. Jetzt rechnet die Bundeswehrführung - z. B. in Afghanistan - mit mehreren Jahren.

Bis jetzt erfüllten die Bundeswehreinheiten beim Auslandseinsatz vorwiegend Polizeiaufgaben. Nur die Teilnahme am Luftkrieg gegen Jugoslawien 1999 und der Einsatz des Kommandos Spezialkräfte am Hindukusch können als Kampfhandlungen gewertet werden. Aber die Bundeswehr wird seit einiger Zeit zur Interventionsarmee reorganisiert. Eine solche Armee braucht weniger schwere Kampftechnik (z. B. Panzer), dafür aber mehr moderne Lufttransportmittel, mehr leichtgepanzerte Kampffahrzeuge, mehr Aufklärungs- und Führungstechnik. Die Bundeswehr soll befähigt werden, gleichzeitig bis zu 50 000 Mann in mehreren Ländern einzusetzen.

Die BRD wurde nach der Aufstellung der Bundeswehr eine militärische Großmacht in Europa. Aber der mögliche Einsatz der Bundeswehr über die Landesgrenzen hinaus war auf das NATO-Gebiet beschränkt. Demzufolge haben alle BRD-Regierungen die Angriffskriege und Interventionen der USA, Großbritanniens und Frankreichs zwar politisch unterstützt, aber nicht mit Streitkräften daran teilgenommen. Sie haben zwar das BRD-Territorium als Basis für Kriegshandlungen zur Verfügung gestellt, aber keine Waffenhilfe geleistet

Mit dem Anschluss der DDR an die BRD ist in deren Außenpolitik eine grundlegende Veränderung eingetreten. Die Regierung Kohl stationierte wahrend des Krieges gegen den Irak 1991 ein Fliegergeschwader in der Türkei und beteiligte sich an der Bezahlung der Kriegskosten. Deutschland wurde also Teilnehmer eines Angriffskrieges auf dem Balkan und im Nahen und Mittleren Osten, dann Interventions- und Besatzungsmacht. Für mich ist das eines der bittersten Ergebnisse der deutschen Nachkriegsgeschichte. Das zu verhindern war eines der außenpolitischen Ziele der DDR, von Millionen Deutschen in Ost und West.

Es ändert nichts an der Bewertung der Großmachtsambitionen deutscher Politiker, wenn diese Politik in ein demokratisches Gewand gekleidet wird, Deutschland nicht die Führungsmacht ist, sondern bei militärischen Handlungen der Dominanz der USA unterliegt. Auch wird es heute keine Plane "Fall Weiß" (Angriffskrieg gegen Polen), "Fall Gelb" (Angriffskrieg gegen Frankreich), "Fall Barbarossa" (Angriffskrieg gegen die UdSSR) u. a. geben. Heute haben militärische Aktionen großkapitalistischer Staaten keine territorialen Besitzergreifungen zum Ziel, sondern die politische Dominanz gegenüber abhängigen Regierungen, die die Verfügungsgewalt über die Rohstoffquellen ermöglichen.

Meine Erfahrungen sagen mir, dass hinter den offiziellen Zielen der Bundeswehreinsatze im Ausland wie Friedenserzwingung, Friedenserhaltung, Verhinderung von Völkermord, Kampf gegen den internationalen Terrorismus, Hilfe beim demokratischen Aufbau u. a. reale großmachtpolitische Ambitionen stehen, deren tiefste Wurzeln ökonomische Interessen des Kapitals sind. Ich habe diese Erfahrungen nach dem zweiten Weltkrieg gewonnen in einem Prozess der Auseinandersetzung mit der faschistischen Ideologie, von der ich beeinflusst war, und mit den Geschichtsauffassungen konservativer Lehrer.

Ich war von meinen Eltern weder im Geist der faschistischen Ideologie noch als Gegner des Faschismus erzogen worden. Für sie war jede gesellschaftliche Ordnung gottgewollt, obwohl unsere Familie in den zwanziger Jahren an der Grenze der Armut lebte. Das so genannte Dritte Reich brachte zunächst eine Verbesserung der Lebensverhältnisse. Nach jahrelanger Arbeitslosigkeit erhielt mein Vater Beschäftigung beim Autobahn- und Flugplatzbau. Meine Mutter konnte in einem Großkaufhaus zeitweilig etwas dazuverdienen. Wir zogen in eine bessere Wohnung. Mein Bruder Helmut wurde 1934 Berufssoldat. Bruder Otto konnte eine Uhrmacherlehre beginnen. Und ich - die Nummer 5 von 6 Kindern - konnte als erster die Mittelschule besuchen.

Der Krieg veränderte spürbar unser Leben. Wir wohnten in Weißenfels. Dort spürte man - ausgenommen die Sondermeldungen des Wehrmachtsberichts - bis zum Sommer 1941 kaum etwas vom Krieg. Dann häuften sich die Traueranzeigen mit dem Eisernen Kreuz in der Lokalzeitung. Meine Eltern machten sich Sorgen um ihre ältesten Sohne. Im April 1942 kam die erste Hiobsbotschaft. Mein Bruder Helmut wurde seit dem Dezember 1941 vor Moskau als vermisst gemeldet. Der bisher freigestellte Schwiegersohn Horst P. wurde eingezogen und geriet im April 1943 in Afrika in USA-Gefangenschaft. Seine Frau wurde kriegsdienstverpflichtet. Die anglo-amerikanischen Luftangriffe auf den mitteldeutschen Raum begannen und trafen - wenn auch geringfügig - unsere Heimatstadt. 1944 wurden die Lebensmittelrationen gekürzt. In diesem Jahr erlitt mein Bruder Otto als Marinesoldat in Italien einen schweren Unfall. Im August wurde ich Luftwaffenhelfer und sah als Kurier zerstörte Städte und Opfer der Luftangriffe. Im Januar 1945 wurde ich Soldat in einer Volkssturmeinheit. Der Gefangenschaft entging ich, da ich Mitte April die Flucht ergriff.

Die katastrophale Niederlage der Wehrmacht traf meine Eltern schwer. Sie stellten sich die Frage: Warum hat Deutschland zum zweiten Mal einen Krieg verloren? Ich aber fragte: Warum wurde dieser Krieg begonnen und für wen wurde er geführt? Ich erinnere mich, dass damals die Lüge aufkam, Hitler allein sei an allem Schuld, am Ausbruch des Krieges und auch an der Niederlage. Meine Eltern konnten mir keine überzeugenden Antworten auf meine Fragen geben. Ich fand sie im Arbeitskollektiv durch Kollegen, die sich als Kommunisten oder Sozialisten bezeichneten. Einer sagte zu mir: "Junge, du gehörst zu uns. In Deutschland darf es nie wieder Faschismus geben und das Monopolkapital muss entmachtet werden, damit in seinem Interesse nie wieder Krieg geführt werden kann!" Die politischen Diskussionen in der Nachkriegszeit waren das Schlüsselerlebnis für meinen künftigen Weg. 1949 wurde ich Mitglied der SED.

Auch Nicht-SED-Mitglieder hatten durch ihre Haltung auf mich einen tiefen Eindruck gemacht. 1947 lernte ich eine niederschlesische Familie kennen. Die Mutter - sie wurde 1950 meine Schwiegermutter - war im Februar 1945 aus Neiße mit ihren drei Kindern geflüchtet. Der Vater galt seit dem August 1944 in Rumänien als vermisst. Er war Maurer und im Winter meist arbeitslos, sie ohne Beruf. Diese Arbeiterfamilie träumte nicht von einer Rückkehr in die alte Heimat. Die Mutter schuf sich eine neue Existenz, wurde Maschinistin in den Leuna-Werken und erzog ihre Kinder zu tüchtigen Menschen. Auf die oft gestellte Frage, ob sie nicht in ihre alte Heimat zurückkehren möchte, gab sie stets die gleiche Antwort: "Meine Heimat ist dort, wo es mir gut geht." In Neiße hatte sie keine Reichtümer verloren. Aber in Weißenfels wurden ihre Kinder Turbinenschlosser, Krankenschwester und Bibliothekarin. Sie erhielt 1965 mit 53 Jahren eine moderne Neubauwohnung.

Mich aber beschäftigte viele Jahre die Frage, warum Deutschland seine Gebiete östlich der Oder für immer verloren hatte. Wollten konservative BRD-Regierungen diese Gebiete mit Hilfe der USA-Militärmacht zurückgewinnen? Bis heute habe ich die Forderung der Regierungen Adenauer, Erhard und Kiesinger nicht vergessen, die bis Ende der sechziger Jahre offizielles Regierungsprogramm war: "Wiederherstellung der Einheit Deutschlands in den Grenzen von 1937." Dass die Bonner Regierung als Interessenvertretung des westdeutschen Großkapitals die DDR beseitigen wollte, war mir verständlich. Aber jene Gebiete wieder zu erhalten, die nunmehr in polnischem und sowjetischem Besitz waren, das konnte nach meinem Verständnis nur durch Krieg erfolgen. Territoriale Ansprüche und der Drang nach Veränderungen von Staatsgrenzen waren ja häufig der Anlass zur Entfesselung von Kriegen.

Als die USA 1950 grünes Licht für den Aufbau einer westdeutschen Armee gaben und Walter Ulbricht vom Wiedererstehen des deutschen Imperialismus sprach, entschloss ich mich, Angehöriger der bewaffneten Kräfte der DDR zu werden. 1957 lernte ich den Generalmajor a. D. Otto Korfes kennen. Er war als Divisionskommandeur in Stalingrad in Gefangenschaft geraten, hatte im Nationalkomitee "Freies Deutschland" gewirkt und war 1952-1956 Leiter der Abteilung Militärgeschichte des Hauptstabes der KVP gewesen. Auf meine Frage, warum er nicht nach dem Westen gegangen sei, da er dort eine hohe Pension erhalten hätte, antwortete er: "Mein Sohn, sollte Deutschland ein drittes Mal einen Weltbrand entfesseln, so bin ich diesmal nicht mitschuldig." (Er war im ersten Weltkrieg Hauptmann und Kompaniechef gewesen.)

Die militärischen Möglichkeiten der BRD, selbständig gegen die DDR Krieg zu führen, wurden von uns damals überbewertet. Allein die noch heute wirksame politische, ökonomische und militärische Abhängigkeit der BRD von den USA beweist, dass Krieg gegen die DDR Krieg gegen die UdSSR gewesen wäre. Und darüber wurde in Washington entschieden.

Heute gibt es eine völlig andere weltpolitische Lage. Die europäischen Großmächte wollen ein einiges Europa schaffen. Politische Kräfte in der BRD und in Frankreich meinen, dass man den USA deshalb mitunter die gelbe Karte zeigen muss. Das dürfte nichts daran ändern, dass auch sie nicht auf ökonomische Expansion verzichten (Globalisierung genannt). Um dafür politische Voraussetzungen zu schaffen ("freier Zugang zu den Rohstoffen"), wird Militär benötigt und gegebenenfalls zum Einsatz gebracht.

 Als im Sommer 1952 der Aufbau des Sozialismus in der DDR beschlossen wurde, hoffte ich, dass meine Kinder und Enkel einst im Sozialismus (von dem ich recht vage Vorstellungen hatte) leben und Krieg für sie ein Fremdwort sein würde. Ich irrte mich. Es kam zu einem in der Geschichte beispiellosen kalten Krieg, der mehrfach in atomares Inferno umzuschlagen drohte. Aus meiner Sicht hat die DDR dazu beigetragen, das zu verhindern. Sie trat in Wort und Tat für Abrüstung und Entspannung ein. Sie stellte keine territorialen Ansprüche, stellte keine Grenzen in Frage, betrieb keine ökonomische Expansion, kurzum sie betrieb keine Machtpolitik nach außen.

Die außenpolitische Zielsetzung der SED-Führung war in den 40 Jahren der DDR-Existenz immer darauf gerichtet, den Frieden in Europa zu erhalten. In diesem Geiste erfolgte die politisch-diplomatische Tätigkeit ihrer Außenpolitiker, wurden Bündnispflichten erfüllt und gegenüber den kapitalistischen Staaten das Prinzip der friedlichen Koexistenz gepflegt. Es hat Fehler und Versäumnisse gegeben. Aber in der Grundsubstanz ihrer Außenpolitik war die DDR ein friedliebender Staat. Das halte ich für das positive Erbe der DDR für eine friedliche Zukunft Deutschlands, die Großmachtpolitik ausschließt.


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