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Volker Schaarschmidt

Positiv- und Negativspuren

Ich wurde 1960 geboren. So habe ich die DDR nur in der zweiten Hälfte ihrer Existenz persönlich erlebt. Als ich mein erstes Lebensjahrsiebent vollendet hatte, zur Schule kam und damit ins „gesellschaftliche" Leben trat, war das Experiment „DDR" schon in vollem Gange. Manche persönliche Erfahrung oder Erkenntnis aus dieser Zeit, könnte heute als Spur für die Zukunft gesehen werden. Einige davon - positive und auch negative - habe ich aufgeschrieben:

Die Gunst der späten Geburt bescherte mir, dass die „Stalin-Jahre" schon vorüber waren. Aber sie schwebten noch über uns. Die Gesellschaft hatte mit ihnen ein Vorzeichen bekommen. Eltern und Großeltern hatten diese Jahre nicht vergessen. Die Erinnerungen an Buchenwald und andere Lager nach 1945 waren noch wach. Ein gesamtgesellschaftlicher Rückfall schien nicht ausgeschlossen zu sein, zumal die sowjetische Armee, zwar hinter Mauern und Stacheldraht, aber doch überall präsent war. Aber in der Öffentlichkeit spielte diese vergangene Zeit keine Rolle. Keiner wusste Genaueres. Es war eine vergessene Zeit.

Zukunft braucht Vergangenheit. Zukunft beginnt in der Vergangenheit, muss diese Vergangenheit kennen, sie aufarbeiten und sich mit ihr auseinandersetzen.

Namen, wie Bautzen oder Schwedt, weckten stets ungute Gefühle. Der Spruch aus Königs Zeiten „Wer nichts riskiert, kommt nicht nach Waldheim" hatte noch immer Gültigkeit. In Abwandlung eines Bibelspruchs sagten wir: „Wo zwei oder drei beisammen sind, da bin ich mitten unter ihnen." Die Untersuchungen der letzten Jahre zeigen, dass das so falsch nicht war.

 

Zukunft braucht Menschlichkeit. Menschlichkeit darf nicht geopfert werden. Aus Unrecht wächst kein Recht. Das alte Prinzip „Auge um Auge und Zahn um Zahn" darf nicht mehr gelten. Die Spirale der Gewalt muss immer wieder neu durchbrochen werden.

Eines Morgens im August, der Zufall wollte, dass wir gerade in den Urlaub Richtung Tschechoslowakei fahren wollten und der Trabi stand schon seit dem Vorabend vollgepackt bis unters Dach im Hof, hörten wir Düsenjäger über Dresden. Den Grund erfuhren wir zunächst nur im Deutschlandfunk. Die DDR-Sender brachten diesbezügliche Meldungen viele Stunden später. Eine beliebte Informationsquelle war die Sendung „Aus Ostberliner Zeitungen" morgens um 7:35 Uhr im DLF. Fernsehen war für Dresdner weitgehend nicht zu empfangen. Ich habe das damals nicht als echten Informationsnachteil empfunden.

Zukunft braucht Information.

Es folgten Jahre der Stabilisierung, in denen es nicht mehr an Grundnahrungsmitteln fehlte, wohl aber an den vielen tausend Kleinigkeiten. Die letzten „halbstaatlichen" Betriebe wurden verstaatlicht. Damit einher ging ein Verlust an Vielfalt.

Zukunft braucht Vielfalt. Vielfalt braucht Marktwirtschaft und Marktwirtschaft braucht Vielfalt: So dumm es ist, den Bäcker zu verstaatlichen, so unsinnig ist es, die Trinkwasserversorgung zu privatisieren.

Das Wohnungsproblem wurde erkannt und staatlich versucht nach dem Motto „trocken, sicher, warm" zu lösen. Das Problem wurde zwar gemildert, doch nie gelöst, aber es entstanden riesige Neubaugebiete, die mittlerweile vielfach zu Problemgebieten sozialer und bautechnischer Art geworden sind.

Zukunft braucht Lebensräume. Und Wohnungen brauchen mehr als „trocken, sicher, warm".

In Dresden war wenig von der Westgrenze zu spüren. Aber sie war doch gegenwärtig und es war bedrückend zu wissen, dass es grundsätzlich erst im Rentenalter möglich war, die Alpen, die Adria oder London zu besuchen. In Berlin oder bei einer Fahrt mit der Harzquerbahn ging uns Dresdnern die Härte der Grenze erst recht nahe. Und wer genau hinschaute, sah in welcher Richtung der Stacheldraht aufgestellt war. War das Gefängnis also auf unserer Seite?

Zukunft braucht Bewegungsfreiheit. Bewegungsfreiheit meint nicht nur räumliche sondern auch geistige Möglichkeiten, neue Horizonte kennenzulernen.

Weite Teile der Kindheit und Jugendzeit wurden von der „Polytechnischen Ober"-Schule geprägt. Es gab LehrerInnen, Lehrpläne und Lehrmaterialien für alle. Bücher waren für alle erschwinglich. Auch musste die Schule nicht bei den Eltern um Geld für Papier und Leim betteln. Über den Bildungsweg Richtung Abitur wurde nicht schon in der dritten, sondern erst in der achten Klasse entschieden. An dieser Stelle zeigte sich allerdings auch überdeutlich, dass die Schule in staatlichem Auftrag arbeitete, denn wer nicht beabsichtigte, staatliche Wünsche - wie die Teilnahme an der Jugendweihe oder die Erfüllung der Wehrpflicht möglichst mit Verlängerung - zu erfüllen, hatte von nun an, oft für immer, schlechte Karten.

Zukunft braucht leistungsfähige und kindgerechte Schule. Schule muss einen Einstieg in die Bildung für alle ermöglichen. Schule muss Werte vermitteln und nicht Beliebigkeit. Schule muss auch erkennen, was für Kinder des jeweiligen Alters wichtig ist. So sind m. E. in der Grundschule kleine Klassenteiler wichtiger als Computerkabinette.

Seit 1990 nehmen Allergien, trotz großer Umweltschutzbemühungen, im Gebiet der neuen Bundesländer unaufhaltsam zu. Wie ist es möglich, dass solche Erscheinungen selbst in den verschmutztesten Ecken der DDR deutlich weniger festzustellen waren? Nach bisherigem Erkenntnisstand ist dies vor allem darauf zurückzuführen, dass unsere Nahrungsmittel keine Lebensmittel mehr sind. Sie sind mit optischer und geschmacklicher Vorgabe industriell hergestellt. Damit einher geht eine grenzenlose Ausbeutung von Erde, Pflanzen und Tieren.

Zukunft braucht natürliche Grundlagen.

Die DDR kannte keine Arbeitslosigkeit. Alle waren beschäftigt. Der Preis dafür war eine konkurrenzfreie, geringe Arbeitsproduktivität. Inzwischen nähert sich die Arbeitsproduktivität westlichen Werten an. Der Preis ist eine hohe Arbeitslosigkeit. Aber Arbeitslosigkeit bedeutet oft nicht nur Armut, sondern auch persönliche Perspektivlosigkeit und Angst, aus der Gesellschaft herauszufallen.

Zukunft braucht Beschäftigung. Es spart dem Land keine Kosten, wenn eine Stadtverwaltung rationalisiert und sich die Entlassenen danach bei der Agentur für Arbeit anstellen.

Nicht erst die aktuelle Rentendiskussion hat gezeigt, dass wir Kinder brauchen. Und Kinder brauchen Familie. Sie wachsen zuerst bei ihren Eltern auf. Damit haben Eltern einen riesigen Vorsprung vor allen anderen Bildungsinteressenten. Die oft erwähnte Bevormundung durch den Staat hat deshalb so nicht stattgefunden. So stabil wie die sozialen Verhältnisse waren, so stabil waren auch die Familienverhältnisse. So unsicher und beliebig die sozialen Verhältnisse heute sind, so unsicher und beliebig sind Familienverhältnisse heute. Der allgemeine materielle Wohlstand hat nicht zu einer Stabilisierung beigetragen, zumal die Familien daran nur unterdurchschnittlichen Anteil haben.

Zukunft braucht Familie. Weil Zukunft Kinder braucht, und Kinder von Müttern geboren werden und Mütter und Väter in stabilen Verhältnissen brauchen. Und weil von den Familien Leistungen in Erziehung, Bildung, Alterssicherung und Pflege vollbracht werden, die sonst unbezahlbar wären. Keine Versicherung und nichts anderes könnte dies übernehmen. Es ist keine Alternative erkennbar.

Der Staat DDR hat immer von sich behauptet, auf dem Weg zum Kommunismus unterwegs zu sein. Wenn dieser Weg vielen auch damals schon als unmöglich erschien (und wahrscheinlich auch niemals wirklich betreten worden war), so fällt doch heute auf, dass die Gesellschaft offenbar gar keinen Weg mehr in die Zukunft sehen kann. Die Entwicklungen der letzten Jahre, wie z. B. Globalisierung, Umweltzerstörung, neue Krankheiten, riesige soziale Ungerechtigkeiten werden von der breiten Masse - wenn überhaupt - weitgehend unreflektiert zur Kenntnis genommen. Jedermann scheint mit der eigenen Besitzstandswahrung voll beschäftigt. So hangeln wir von „Reform" zu „Reform", ohne tatsächlich voranzukommen.

Zukunft braucht Konzepte, die weiterdenken als bis morgen und zur eigenen Haustür.

In der DDR wurde ein atheistisches Weltbild verkündet, das den Menschen im Mittelpunkt sah und ihm allein die Verbesserung der Verhältnisse zutraute. Religiöse Dimensionen wurden ausgeblendet. Als Christen in der DDR haben wir das nicht akzeptiert, denn wir wussten, dass es eine höhere Autorität gibt, für uns stand immer Christus im Zentrum. Und so bin ich auch heute noch der Meinung: Zukunft braucht Gott.

 


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