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Helmut Naroska
Pädagogische DDR-Erfahrungen
auf zwei Wiedersehenstreffen im Jahre 2003
1. 30 Jahre Abitur Bau III ab 1973
Am 10. Mai 2003 trafen sich die Absolventen des Abiturjahrgangs 1973 der Betriebsberufsschule (BBS) des VEB Industriebaukombinats (IBK) Rostock - Sitz Stralsund mit ihren damaligen Lehrern, soweit diese noch erreichbar waren.
Sie hatten 1970 ihre dreijährige Ausbildung zum Baufacharbeiter mit Abitur in dem neu erbauten Schulkomplex - mit Lehrgebäude, Lehrlingswohnheim, Küche mit Speisesaal - begonnen. 1973 verließen sie ihn mit der Klassenstärke von 30 Schülern nach bestandener Reifeprüfung und mit dem Zertifikat als Baufacharbeiter. Aus dem damals entwickelten Zusammengehörigkeitsgefühl und dem Vertrauensverhältnis zu ihren Lehrern, Lehrmeistern und Heimerziehern heraus war das Bedürfnis entstanden, sich im Abstand von 10 Jahren zum Erlebnis- und Erfahrungsaustausch zu treffen. Im Vergleich zu vielen anderen Klassentreffen gibt es hier die Besonderheit, dass die im DDR-Bildungssystem praktizierte Berufsausbildung mit Abitur historisch nur kurzfristig existieren konnte und die dort gemachten Erfahrungen von nicht zu unterschätzendem Wert für zukünftige Bildungsstrukturen sein können.
Die Abiturlehrlinge der BBS des IBK Stralsund kamen aus dem Ostteil des Bezirkes Rostock. Geboren 1954/1955, hatten sie die zehnklassige polytechnische Oberschule (POS) erfolgreich abgeschlossen und sollten auf ein Universitäts- oder Hochschulstudium vorbereitet werden. Das Lehrerkollegium wurde aus Pädagogen mit langjähriger Praxis und Berufsanfängern mit einer soliden Diplom-Gewerbelehrer-Qualifikation völlig neu gebildet. Als Klassenlehrer wirkte durch die gesamte Ausbildung hindurch der Staatsbürgerkunde- und Geschichtslehrer. Er kam auf einen Aufruf im DDR-Fernsehen in den Norden, nachdem er bereits vier Jahre an der BBS des VEB Kraftwerke Lübbenau in der dortigen Berufsausbildung mit Abitur Erfahrungen gesammelt und in einem fünfjährigen Diplomlehrer-Fernstudium am Franz-Mehring-Institut der Karl-Marx-Universität Leipzig sein pädagogisch-psychologisches Grundwissen weiter fundiert hatte.
In kurzer Zeit hatten die Pädagogen im Wesentlichen übereinstimmende Auffassungen über ihre gemeinsam zu verwirklichenden Grundsätze im Ausbildungs- und Erziehungsprozess gefunden und wandten sie an. Dazu gehörten die Prinzipien A. S. Makarenkos, hohe Forderungen mit der Achtung vor der Persönlichkeit des zu Erziehenden zu verbinden, durch parallele pädagogische Maßnahmen bei den Jugendlichen bewusste Disziplin herauszubilden und Kollektive zu formen. Jeder Lehrling musste das Gefühl haben, gerecht behandelt zu werden. Es gab keine Vergünstigungen für Kinder von Partei- oder Staatsfunktionären, auch wenn diese mitunter von ihren Eltern erwartet und manchmal sogar gefordert wurden. Kinder von Pfarrern, die nach Ablehnung ihrer Zulassung zur EOS durch übereifrige Direktoren und Schulrate nach Beschwerden an den Staatsratvorsitzenden die Berufsausbildung mit Abitur mitmachen durften, gewannen einen geachteten Platz infolge ihres kulturellen Niveaus, ihrer Leistungsfähigkeit und Lernmotivation. Den Staatsbürgerkundeunterricht belebten sie mit ihren kritischen Fragestellungen.
Weiterhin galt der Grundsatz, immer ein offenes Ohr für die Probleme und Sorgen der Jugendlichen zu haben, sie sorgsam zu beraten und nötigenfalls gemeinsam mit der FDJ-Gruppe Lernpatenschaften zu organisieren, um Wissenslücken zu schließen. Voraussetzung dazu war Vertrauen zwischen den Pädagogen und den Jugendlichen. Die Lehrlinge beobachteten sehr genau und kritisch, ob ihre Erzieher an sich selbst hohe Forderungen stellten und als Vorbilder anerkannt und geachtet werden konnten. Man konnte ihnen nichts vormachen, weil sie wahrend der praktischen Ausbildung auf den Baustellen die ganze Problematik von Schönfärberei und „spitzem Bleistift" erlebten und ablehnten.
Die
Pädagogen hatten die Tradition entwickelt, nicht nur in Arbeitsberatungen ihre Auffassungen abzustimmen. Vor Beginn jedes
Ausbildungsjahres wurde ein Wochenende genutzt, um sich im Betriebsferienheim
des IBK besser kennen zu lernen, sich bei Sport und Spiel am Strand zu erholen und an den Abenden
mit viel Spaß zu „feiern". Nach dem letzten Schultag traf man sich zu einem „Segeltörn ins
Blaue", wobei je nach Wind-
und Wetterlage mit zwei Kuttern der Gesellschaft für Sport und Technik eine zum
Baden und Schwimmen geeignete Stelle gesucht, dort Anker geworfen und ins Wasser
gesprungen wurde (FKK). In pädagogischen Gruppen für jede Klasse koordinierten die jeweils verantwortlichen Klassenleiter,
Lehrmeister und Heimerzieher, in der Regel mit Hinzuziehung der FDJ-Gruppenleitung, die Schwerpunkte der
Planung, Organisation und
Auswertung des Bildungs- und Erziehungsprozesses wie auch gemeinsame
Aktivitäten zur Überwindung persönlicher Schwierigkeiten bei einzelnen Lehrlingen.
Die einmal je Ausbildungsjahr durchgeführten Klassenfahrten waren als Fachexkursionen mit Besichtigungen damals fortgeschrittener Bautechnologie und Neuerermethoden, Besuch von Gedenkstätten des antifaschistischen Widerstandskampfes und historischer und kultureller Sehenswürdigkeiten verbunden, sie erweiterten das Wissen und Urteilsvermögen und trugen zur Stärkung des Vertrauensverhältnisses zwischen den Jugendlichen und Pädagogen bei. Gerne erinnern sich alle Teilnehmer an den Delegationsaustausch mit Lehrlingen und Erziehern einer berufstechnischen Bauschule in Riga. Als Anerkennung guter Leistungen im sozialistischen Berufswettbewerb ausgewählt, konnten sie die Gelegenheit nutzen, Berufsbildungssystem, Bauproduktion, Sehenswürdigkeiten aus der Geschichte und Nationalkultur Lettlands sowie Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Mentalität ihrer Generation kennen zu lernen. Finanzierungsprobleme wurden unkompliziert gelost; die Reisekosten aus den Kultur- und Sozialfonds der Betriebe beglichen. Die Lehrlinge arbeiteten eine Woche in den Baubetrieben des anderen Landes und konnten dann die Kosten für eine Woche gemeinsamer Erholung mit ihren ausländischen Freunden bestreiten.
Einen Beitrag zum Vertrauensverhältnis zwischen Pädagogen und Jugendlichen leisteten auch die von den Lehrlingen mit unerschöpflichem Ideenreichtum gestalteten „Bergfeste" nach anderthalb Jahren Ausbildung, die Feste am letzten Unterrichtstag und die Abiturbälle mit Pädagogen und Eltern. So mancher Lehrer lachte herzhaft mit, wenn bei ihm genau beobachtete, teilweise längst vergessene persönliche Eigenheiten satirisch treffend „aufs Korn genommen" wurden. Es kam nie vor, dass aus „Rachegefühlen" die Würde des jeweiligen Pädagogen verletzt wurde. Und am letzten Unterrichtstag lärmend durch die Straßen der Stadt zu ziehen, wurde als „unter Niveau" abgelehnt. Man hatte stets einen Riesenspaß und ausgelassene Fröhlichkeit, blieb aber besser in der Schule. Und es war möglich, ohne die heute erschreckend hohe Fluktuation, fast alle zu einem erfolgreichem Abschluss mit Perspektive zu fuhren.
Was hat sich nach dem Umbruch 1990 bis heute verändert? Mit der „Abwicklung" der Berufsausbildung mit Abitur bietet das im gleichen Lehrgebäude etablierte Fachgymnasium für Bautechnik den „Azubis" nur noch Teile des Qualifizierungsniveaus aus DDR-Zeiten. Der jetzt als Obermeister der Bau-Innung Stralsund amtierende damalige Lehrmeister, der sich zum geachteten Bauunternehmer entwickelt hat, gab auf einer regionalen IHK-Tagung seine sachkundige Einschätzung: Das Allgemeinwissen der neuen Lehrlinge weist erschreckende Lücken, vor allem in naturwissenschaftlichen Fächern, auf. Das Fehlen elementarer handwerklicher Fähigkeiten, die früher im polytechnischen Unterricht besser oder schwächer vermittelt wurden, ist spürbar. Für die Erhaltung und Modernisierung der Bausubstanz fehlen finanzielle Mittel. Für die Teilnehmer am Wiedersehenstreffen „30 Jahre Abitur Bau III ab 1973" war es erschütternd, dass das 1967 neu in Betrieb genommene Lehrlingswohnheim den Abrissbaggern zum Opfer fiel. Seit einem Jahrzehnt nicht genutzt, durch Vandalismus teilweise demoliert, war es zur „Kulturschande" Stralsunds erklärt worden, die Flache aber war als Immobilie nicht zu verachten. Ohne Nostalgiegefühle - die Erinnerungen an das gemeinsame, vertrauensvolle Wirken von Pädagogen und Jugendlichen sind für die Zukunft von Wert.
Wie können Pädagogen einheitlich wirken, wenn innerhalb eines Kollegiums vier verschieden besoldete Lehrer bei jeder Gehaltszahlung ihre soziale Differenziertheit erleben (beamtet oder mit Angestelltentarifen, volle hohe Stundenzahl oder als „Springer" in verschiedenen Schulen ohne gesicherte Perspektive unterwegs)?
2. Veteranentreffen der ehemaligen Medizinischen Fachschule „Professor Dr. Elfriede Paul" am 3.12.2003
Dreizehn Jahre nach dem Umbruch, verbunden mit der Liquidierung des DDR-Bildungssystems und der Degradierung der Fachschulausbildung für mittlere medizinische Kader und für Krippenerzieherinnen, trafen sich frühere Kollegen und jetzt aktive Pädagogen zu einem angeregten Erlebnis- und Erfahrungsaustausch. Geblieben war das Bedürfnis, zum Jahresausklang bei Kaffee und Kuchen, Sekt oder Wein zusammenzusitzen, um zu hören, wie es den jetzigen Rentnern ergangen ist und unter welchen Bedingungen die Pädagogen und „Azubis" heute arbeiten.
Welche Erfahrungen haben in die Zukunft weisenden Wert? Auf welche bleibenden Ergebnisse unserer Arbeit können wir auch heute mit begründetem Stolz zurückblicken? Wo lagen Hemmnisse, Versäumnisse und Mängel? Was kann unter den jetzt wesentlich ungünstigeren Rahmenbedingungen für die Jugendlichen besser gestaltet werden?
Während des dreijährigen Fachschulstudiums wurden den künftigen Kranken- und Kinderkrankenschwestern sowie Krippenerzieherinnen in 20 Unterrichtsfächern und einer gründlichen berufspraktischen Ausbildung breit fundierte Grundlagen für eine später mögliche Qualifizierung in den verschiedensten beruflichen Einsatzmöglichkeiten vermittelt. Mit dem „Überstülpen" der BRD-Strukturen erfolgte eine deutliche Beschränkung auf ein eng begrenztes Profil. Medizinische Allgemeinbildung, Urteilsfähigkeit bei fachlichen und gesellschaftlichen Problemen und berufliche Disponibilität der in der DDR ausgebildeten Krankenschwestern und Kleinkinderzieherinnen waren dem Qualifikationsstand nach 1990 eindeutig überlegen. Wer im Osten Arbeitsplatz und Perspektive verlor, fand von Schleswig-Holstein bis Bayern eine sichere und besser bezahlte Anstellung. Die dortigen Kliniken füllten Lücken beim Krankenpflege-personal und sparten dabei beträchtliche Ausbildungskosten. Auch Krippenerzieherinnen wurden in Kitas von Hamburg bis Aachen auf Grund ihrer fachlichen Qualifikation und berufsethischen Motivation voll anerkannt.
In der Medizinischen Fachschule „Professor Dr. Elfriede Paul" in Stralsund wurde neben einer gründlichen fachlichen Qualifikation besonderer Wert auf hohe Anforderungen in der berufsethischen Erziehung gelegt. Wer kein spürbares Verantwortungsbewusstsein und humanitäres Mitgefühl für kranke Menschen oder noch hilflose Kleinkinder entwickeln konnte, galt für eine Berufstätigkeit im Gesundheitswesen als ungeeignet. Darauf wurde bereits bei der Auswahl der Bewerberinnen und in den ersten Studienmonaten geachtet.
Das
zu vermittelnde theoretische Grundwissen umfasste auch neben medizinischen, pädagogischen und psychologischen Grundkenntnissen
politisches Urteilsvermögen über wesentliche historische und gesellschaftliche Zusammenhänge. Dazu
dienten die Kurse
Philosophie, Politische Ökonomie, Geschichte der deutschen und internationalen
Arbeiterbewegung sowie Wissenschaftlicher Sozialismus.
Den Predigern eines „verordneten Antifaschismus in der DDR" kann nur empfohlen werden, sich selbst davon zu überzeugen, wie stark die Wirkung des Vermächtnisses der antifaschistischen Widerstandkämpfer auf die Bewusstseinsentwicklung vieler Jugendlicher war. In Stralsund war es die Ärztin, Pädagogin, Gesundheitspolitikerin und Wissenschaftlerin Elfriede Paul, die als eine der wenigen Überlebenden der von der Gestapo als „Rote Kapelle" bezeichneten Schulze-Boysen-Harnack-Gruppe tiefgreifenden und nachhaltigen Einfluss auf die berufsethische und politische Bewusstseinsentwicklung aller Fachschulerinnen und Pädagogen nahm. Mit der Zerstörung des DDR-Bildungssystems wurde nach der Degradierung der Medizinischen Fachschule zur Berufsbildenden Schule das Namensschild „Medizinische Fachschule Professor Dr. Elfriede Paul" am Eingang entfernt Wer jedoch, ob „Azubi", Lehrpersonal oder Besucher, das Foyer betritt, dessen Blick fallt bis heute auf ein künstlerisch ausdrucksstarkes großes Bild Elfriede Pauls. Die bis vor kurzem in Glasvitrinen ausgestellten Dokumente wurden wegen Überalterung der Möbel bis zur Neugestaltung einer Traditionsecke im Schularchiv gesichert. Von Elfriede Paul bleibt gegenwärtig, wie sehr sie als Kommunistin zum Vorbild für einen bewussten, selbstlosen Einsatz für die großen humanistischen Ideale einer sozialistischen Zukunft wurde.
Bei ihrem ersten Besuch in der Medizinischen Fachschule Stralsund 1977 äußerte sie ihren großen Wunsch: „Etwas soll bleiben von Walter {Husemann), Kurt und Elisabeth (Schumacher), Harro (Schulze-Boysen), Arvid (Harnack) und den Kampfgefährten in der Roten Kapelle, und von mir - nicht um ein Denkmal zu setzen -sondern damit nichts und niemals vergessen wird, was wir an politischer Erfahrung und geschichtlichem Weitblick gewonnnen haben!"
Sie
lehnte es ab, sich an einen Präsidiumstisch zu setzen, und stellte von
vornherein klar, dass sie
sich mit den 16- bis 18-jährigen Studentinnen als gleichgesinnte Kämpferin für
die gemeinsame Sache fühle. In ihrer einfachen, aber temperamentvollen Art
machte sie ihr Suchen nach Idealen und Werten
als junges Madchen nacherlebbar: wie sie, neugierig
auf das Leben, wissensdurstig nach allem Unerforschten, vielseitig in ihren geistigen
Interessen, so manchen Irrweg ging. Zunächst gefühlsmäßig angezogen, dann aber
mit logischer Konsequenz entschied sie sich endgültig für ein ganzes Leben für
die kommunistischen Ideale. Für ihre Zuhörerinnen überraschend stellte
sie die Frage, ob sie sich den Marxismus-Leninismus so fest und tief
angeeignet hatte, wenn er ihr so wie heute
jungen Menschen in fertigen Thesen angeboten worden wäre. Konsequent
lehnte sie die vielerorts übliche formale Heldenverehrung von
antifaschistischen Widerstandskämpfern
ab. Überall wo sie auftrat, charakterisierte sie ihre ermordeten Kampfgefährten
als ganz normale, sogar mehr noch als andere lebensfrohe Menschen, die
den Faschismus deshalb hassten, weil er so unmenschlich und grausam war. Weil sie
jung waren, suchten und fanden sie auch Zeit für Stunden fröhlicher
Geselligkeit im Freundeskreis, um daraus Kraft zu schöpfen. Heute habe sie
manchmal den Eindruck, dass sich für viele
politisches Leben im Besuchen von Versammlungen und Halten
von Reden erschöpfe. Gehört dazu nicht auch Zusammensitzen im Freien, bei dem
gesungen, dann wieder diskutiert, heftig gestritten wird und auch manchmal ein gemeinsames
Schweigen, bei dem jeder seinen Gedanken nachhängt? Sie erzählte, wie viel
Kraft ihr während der Zuchthaushaft die Erinnerungen an die froh verlebten Stunden wahrend der Darß-Fahrten mit dem Freundeskreis der Roten Kapelle
gegeben hatten.
Elfriede Paul spricht vor Studienanfängerinnen über ihre Lebenserfahrungen
Durch ihre Vermittlung lernten die Studentinnen weitere Kampfgefährten der Roten Kapelle kennen, deren Erzählungen nachhaltige Eindrücke bewirkten: Claus und Wera Küchenmeister, Ina Ender-Lautenschläger und Hans Voelkner. Für die Krippenerzieher-Studentinnen vermittelte Elfriede Paul Begegnungen mit Professor Dr. Eva Schmidt-Kolmer, die von Anfang an beim Aufbau der Kinderkrippen in der DDR mitwirkte und wesentlichen Anteil an der Gestaltung der Erziehungsprogramme für Kleinkinder hatte.
Die Studentin Ines Littmann schilderte ihre Eindrücke: „Was erwartete uns bei dieser weltbekannten Wissenschaftlerin, die ja auch einige unserer Lehrbücher geschrieben hatte? Wir wurden von der ersten Minute an in einem ganz herzlichen, vertrauten Verhältnis behandelt, als gehörten wir zur Familie. Zunächst ließ sie uns, aufmerksam zuhörend, über unser Studium, unsere Traditionsarbeit und unsere Ziele und Wünsche für die Zukunft erzählen. Dann beantworteten sie und Dr. Christa Grosch unsere Fragen zu Elfriede Paul und zur Geschichte der Krippenerziehung. Ich war begeistert von ihrem Wissen, von dem riesigen Arbeitsumfang und dem unermüdlichen, konsequenten Herangehen an die vielen Schwierigkeiten und den Widerstand gegen die Krippenerziehung und damit die volle Gleichberechtigung der Frau. Mich beeindruckte tief, wie viel sich diese temperamentvolle, weißhaarige 76-jährige Frau noch vorgenommen hat, um ihre Ideale weiter zu verwirklichen. Wie sie zu uns so einfach und warmherzig sprach und unsere Verantwortung für die Weiterführung ihres Lebenswerkes deutlich machte, hat mich mächtig für mein Studium und für die Mitarbeit in der Traditions-Forschungsgruppe bestärkt. Ich war glücklich, Geschichte so lebendig erlebt und so wertvolle Vorbilder gewonnen zu haben."
Für die Aneignung des Vermächtnisses der antifaschistischen Widerstandskämpfer in über einem Jahrzehnt Traditionspflege war bestimmend, dass sich das FDJ-Aktiv der Studentinnen und die Pädagogen gemeinsam dafür engagierten. Es bewährte sich, dass die in der Forschungsgruppe und Traditionskommission Mitwirkenden infolge ihrer Leistungen und ihrer berufsethischen Motivation bei allen Fachschülerinnen geachtete Beststudentinnen waren. Die Mehrzahl von ihnen besaß aus Leitungsfunktionen in Pionier- und FDJ-Organisationen vielfältige Erfahrungen, Verantwortungsbewusstsein und organisatorische Fähigkeiten, besonders dann, wenn sie in kinderreichen Familien aufgewachsen waren.
Das FDJ-Aktiv machte es zu seinem wichtigen Anliegen, allen Studentinnen möglichst umfangreiche historische Kenntnisse über den antifaschistischen Widerstandskampf zu vermitteln. Dazu wurden im ersten Studienjahr der von Ina Ender-Lautenschläger zur Verfügung gestellte Dia-Vortrag über die Rote Kapelle und der von Claus und Wera Küchenmeister mitgestaltete Spielfilm „KLK an PTX - die Rote Kapelle" gezeigt. Buchbesprechungen der Biografie Elfriede Pauls „Ein Sprechzimmer der Roten Kapelle" gaben in allen Seminargruppen einen Einblick in ihren so vielfältigen komplizierten Lebensweg als Lehrerstudentin, Leiterin eines Kinderheims, Ärztin im illegalen Widerstandskampf, Gestapo- und Zuchthaushaft, Sozialministerin im Land Hannover (bis zur Gründung des Landes Niedersachsen), Leitungsfunktionen im Gesundheits- und Sozialwesen der SBZ und DDR, Direktorin der Instituts für Sozialhygiene der Medizinischen Akademie Magdeburg und Wissenschaftlerin bis zu ehrenamtlichen Aktivitäten in ihrem Alterssitz Ahrenshoop nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben.
Auf
dieses historische Wissen aufbauend, wurden im zweiten Studienjahr im Geschichtskurs und im Fach Ethik schriftliche
Jahresarbeiten zu einzelnen Teilabschnitten des Wirkens Elfriede Pauls angefertigt, die bei den
FDJ-Studententagen vorgetragen und verteidigt wurden. Hierbei sammelten die Studentinnen zu ihrem Thema
selbständig weitere Informationen, suchten und fanden persönliche Kontakte
mit Zeitzeugen, werteten Literatur aus und
gewannen für ihr Geschichtsbewusstsein historisches Urteilsvermögen und das Kennenlernen von Vorbildern. In der
Jahresarbeit zum Zeitabschnitt der Zuchthaushaft Elfriede Pauls von 1943-1945
fand Susan Kiekbusch, Studentin der
Krankenpflege, heraus, unter welchen unmenschlichen Bedingungen die
politischen Häftlinge alles nur Mögliche für ihr Überleben taten.
Ausgehungert, völlig abgemagert, vielfältigen
Schikanen ausgesetzt und von Läusen, Flöhen und Wanzen geplagt, sorgte Elfriede Paul dafür, dass minimalste hygienische
Bedingungen gesichert wurden. Von
den Aufseherinnen verspottet, organisierte sie tägliche Ganzkörperwaschungen,
gymnastische Übungen und Barfußlaufen während der Freigänge. Als nach
dem Transport nach Leipzig im Chaos der letzten Kriegsmonate in den
überfüllten
Häftlingsunterkünften Seuchengefahr und Todesfälle zunahmen, hoben die beiden
für das primitive Lazarett verantwortlichen SS-Ärzte das für Elfriede
Paul bis dahin geltende Verbot jeglicher medizinischen Aktivität auf: „Sie
sind doch Ärztin - also kümmern sie sich
um ihre Gesinnungsgenossinnen!" Sie beorderte die besonders Geschwächten
zu „Untersuchungen" in ihr Behandlungszimmer, ließ den Mund öffnen und
gab ihnen einen Löffel Lebertran aus einem im Lagerbestand bis dahin
unbeachteten
großen Ballon, den sie sich illegal „organisierte." Für die Tbc-Kranken
pflückte sie auf dem Hof Löwenzahn und die ersten grünen Blättchen an
den Linden sowie frische Grashalme als
wertvolle Vitaminspender. Wann es irgendwo möglich war, hob sie
eine Schüssel Essen für die Elendsten auf.
Susanne Klasen, Studentin der Fachrichtung Krippenpädagogik, schrieb in ihrer Arbeit: „Besonders interessierte mich Elfriede Pauls Tätigkeit in einem Heim für Kinder asozialer, inhaftierter oder kranker Eltern 1924-1926, aus der ich für meine spätere Erziehungsarbeit wichtige Erkenntnisse gewann. Ich mochte mich bemühen, auf die Kinder einzuwirken, dass sie sich untereinander achten, kameradschaftlich sind und gegenseitig helfen ... Gerade bei so jungen Menschen muß ich darauf achten, wie sie miteinander umgehen, daß sie auch merken, wenn ein Kind fehlt oder ein Spielkamerad traurig ist. Elfriede Paul gelang es, diese einst so kranken, blassen Kinder, die zum Teil schon viel Schweres in ihrer bisherigen Kindheit erlebt hatten, aufblühen zu lassen. Sie war glücklich in dieser Tätigkeit, empfand es aber als Mangel, daß sie zwar pädagogische, aber keine medizinischen Kenntnisse besaß."
Viele Erkenntnisse und Erfahrungen wurden aus Elfriede Pauls sportlicher Lebensweise gewonnen. Von Kind auf durch ihre Eltern angeregt und gefordert, gehörten Wanderungen durch Feld und Wald und auf dem Wasser mit dem Paddelboot sowie vielseitige Gymnastik zu ihrem Alltag. Die Pfingsttreffen im Freundeskreis der Widerstandskämpfer waren aus der lebensfrohen Gemeinsamkeit eine Erinnerungs- und Kraftquelle für ihr ganzes Leben. Eine ihrer Initiativen war das „Magdeburger Modell"; sie erprobte in von ihr betreuten Frauenbetrieben mit anstrengender sitzender Tätigkeit erfolgreich eine Pausengymnastik-Variante.
Zur Weiterführung ihres Vermächtnisses auf diesem Gebiet organisierte die FDJ-Organisation einen „Elfriede Paul"-Gedenklauf entlang der Uferpromenade des Strelasunds und eine 10-km-Wanderung über den Rügendamm zum Stralsund gegenüberliegenden Ufer mit abschließendem Lagerfeuer, Gesang zur Gitarre und Wurstgrillen.
Im Januar wurde anlässlich des Geburtstages von Elfriede Paul ein festliches Kulturprogramm für die Studenten des 1. Studienjahres gestaltet.
Der während der FDJ-Studententage durchgeführte Kulturwettstreit der Seminargruppen bot immer wieder eine die Pädagogen überraschende Vielfalt von Einfallen bei der inhaltlichen und darstellerischen Gestaltung der Programme. Da wurde aus Literatur und Musik mit beachtlichem Wissen ausgewählt, Schülerinnen der Musikschule brachten ihr Können instrumental und gesanglich ein. Ab und zu wurde selbst getextet und komponiert. Angesichts des heute im Interesse der Massenmanipulierung der Jugend erschreckend tief abgesunkenen Kulturniveaus mit den Gekreisch-Orgien für einen Daniel Küblböck und andere schnell ausgewechselte „Superstars" bleibt für die Zukunft ein riesiger DDR-Erfahrungsschatz.
Wie unsinnig die in der „Totalitarismustheorie" ununterbrochen behauptete Gleichsetzung der Freien Deutschen Jugend mit der Hitlerjugend ist, bewies auch ein sehr vielseitiges FDJ-Leben in den Seminargruppen. In den Nachmittagen des FDJ-Studienjahres wurden die unzumutbaren Anleitungen beiseite gelassen und die Jugendlichen interessierende aktuelle politische Probleme offen ausdiskutiert. Für in der theoretischen und praktischen Ausbildung zurückbleibende Leistungsschwächere wurden Lernpatenschaften organisiert. In „Subbotnik"-Einsätzen wurden ungezählte Stunden zur Verschönerung des Schulgeländes geleistet. Für unentgeltliche Rotkreuz-Blutspenden wurden Hunderte von Erstspendern gewonnen. Gemeinsam mit den Pädagogen wurden für die einmal je Studienjahr durchzuführenden Fachexkursionen interessante Ziele ausgewählt und die Zeit eines verlängerten Wochenendes zum besseren Kennenlernen für die Kollektiventwicklung genutzt. Die Besuche fortgeschrittener Einrichtungen des Gesundheitswesens wie der Kinderklinik Schwerin, des Kinderheims „A. S. Makarenko" in Berlin oder der Kinderkrippe in Weimar wurden verbunden mit dem Kennenlernen historischer und kultureller Sehenswürdigkeiten. Unvergesslich bleibt die mit viel Initiative organisierte Wochenendfahrt nach Prag. Zum Bummel durch die Stätten des Weltkulturerbes der Altstadt und Einkaufen aus dem der DDR gegenüber besseren Warenangebot kam ein enormer Wissenszuwachs beim Besuch des Anatomie-Museums der Karls-Universität. Am letzten Nachmittag hinterließ die Führung durch die Gedenkstätte des jüdischen Ghettos, nur wenige Schritte vom Altstädter Ring entfernt, einen besonders erschütternden, nachhaltigen Eindruck im Geschichtsbewusstsein der Jugendlichen. Es gab viele Fragen zum jüdischen Leben und zum deutschen Antisemitismus, die offen und sachlich beantwortet wurden.
Offen wurde auch im Internat diskutiert, wenn in den monatlichen „Schlatterstunden", zu denen reihum eine Zimmerbelegschaft einlud, bei Kaffee und selbstgebackenem Kuchen die Meinungen „über Gott, die Welt und die Liebe ..." ausgetauscht, gelacht und gescherzt wurde.
Zu den „Bergfesten" in der Mitte des 2. Studienjahres wurden die Pädagogen eingeladen und mit viel Spaß geehrt.
Ernst wurde es aber für die FDJ-Gruppen, wenn trotz aller Bemühungen mit Aussprachen und Lernpatenschaften Studentinnen auch ihre 2. Abschlussprüfung nicht bestanden. Dann erforderte die Prüfungsordnung die Zustimmung der FDJ-Gruppe zur Zulassung einer letzten Chance. Sie wurde einmal verweigert, als die Tochter des Fahrers des 1. Sekretärs einer SED-Kreisleitung, von ihren arroganten Eltern unterstutzt, sich wiederum ungenügend vorbereitete.
Für eine wissenschaftliche Studentenkonferenz des Zentralrats der FDJ 1989 entstand die Arbeit „Das Vermächtnis Professor Dr. Elfriede Pauls lebt an unserer medizinischen Fachschule". Darin schrieb die Mitautorin Susanne Klasen: „Ich stellte mir die Frage: Eine Heldin also ...? In meinen Augen kann man von Heldentum sprechen, wenn ein Mensch sein Leben völlig dem Dienst am Menschen widmet, bereit ist, alles zu geben, um Leben zu erhalten, zu retten. Ich glaube, daß mich die Beschäftigung mit dem Leben dieser Frau in meiner charakterlichen Entwicklung beeinflussen wird. So hat sich auch meine Überzeugung vertieft, daß es von entscheidender Bedeutung im Leben eines Menschen ist, gute Freunde zu haben. Aber genau so wichtig ist es für mich, in meinem späteren Berufsleben mit Menschen zusammenzuarbeiten, die ein echtes Kollektiv bilden, die nicht nur die eigene Arbeit sehen, sondern bereit sind, sich gegenseitig zu helfen, ein offenes Ohr haben für die Probleme und Sorgen der anderen."
Wahrend des Wiedersehenstreffens wurden wiederum die Erfahrungen der Veteranen der Abteilung Krippenpädagogik aus heutiger Sicht ausgiebig ausgetauscht.
Was haben wir unseren Schülerinnen für ihren Beruf und die weitere Lebensgestaltung dauerhaft mitgegeben?
In den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern konnten sie sich ein solides Grundwissen auf philosophisch-ethischem, ökonomischem und politischem Gebiet und damit eine gute Urteilsfähigkeit für wesentliche historische und aktuelle Zusammenhange aneignen. Von der Einführungsvorlesung in den Philosophiekurs wurden sie mit wichtigen Aussagen der materialistischen Dialektik vertraut gemacht: Sie hörten von der klassischen antiken Philosophie Griechenlands und Roms über die französische Aufklarung, Hegel und Feuerbach bis zu Marx, Engels und Lenin, dass sich alles widerspruchsvoll entwickelt, dass immer von der Analyse der konkreten Situation ohne unrealistisches Wunschdenken auszugehen ist, dass alles Fortschrittliche der Vergangenheit dialektisch negiert und das Neue durchgesetzt werden muss. Das Lebensmotiv von Karl Marx „An allem ist zu zweifeln" durchzog den gesamten Lehrstoff wie Lenins Forderung, sich aus der Summe der Erkenntnisse der Geschichte der Menschheit alles Wertvolle kritisch anzueignen und selbständig im Bewusstsein zu verarbeiten. Von den Lehrern wurde der im Vergleich zum überzogenen Kontrollsystem der Volksbildung (mit schriftlich vorzulegenden Unterrichtsvorbereitungen und Direktoren- und Fachberaterhospitationen) wesentlich weitere Spielraum genutzt. Trotz der dogmatischen Einengungen durch die oft zu ideologisch überfrachteten Lehrpläne fanden selbständig und kritisch denkende Jugendliche viele bis heute nachwirkende Erkenntnisquellen. Das selbständige Konspektieren wichtiger Quellendokumente wie Lenins „Die Aufgaben der Jugendverbände" oder des Kommunistischen Manifests vermittelte tiefergehende Erkenntnisse als das Nachschreiben verkürzender Thesen. So wurde anstelle der einstündigen Vorlesung „Marxismus und Religion" ein umfassender Überblick über die Grundaussagen von fünf wichtigen Weltreligionen gegeben und Verständnis and Toleranz gegenüber weltanschaulich Andersdenkenden gefördert. Die aus christlichen Elternhäusern kommenden Studentinnen waren immer infolge ihrer Lernmotivation, ihres kulturellen Niveaus, ihrer humanistischen Berufsethik und ihrer kritischen Fragestellungen - ein gesundes Vertrauen zu ihren Pädagogen vorausgesetzt -eine Bereicherung des Unterrichts.
Die Einbeziehung von Literaturausschnitten, vor allem im Geschichtskurs, halfen historische Zusammenhange anschaulicher verstehen und emotionaler zu vertiefen. Der verbrecherische Charakter des Hitlerfaschismus wurde bei der Lesung über die Menschenversuche durch international hoch geehrte „Wissenschaftler" im Geheimblock V des KZ Dachau in Boris Polewois „Das Nürnberger Tagebuch" besonders erschütternd deutlich. Als Ursachen wurden die Wurzeln des Faschismus im Wirken reaktionärster imperialistischer Kräfte in einem System der Ausbeutung, Unterdrückung, Ausrottung und Verdummung des Menschen durch den Menschen erkennbar gemacht.
Auszuge aus Stefan Hermlins „Die erste Reihe" machten den illegalen Widerstandskampf vor allem junger Menschen nacherlebbar. Boris Polewois „Der wahre Mensch" über den beinamputierten Jagdflieger Alexej Maressjew gab Einblick in die Kampfmoral der Sowjetarmee, A. S. Makarenkos „Der Weg ins Leben" war wesentlich für den Entwicklungsprozess der Sowjetpädagogik.
Tiefen Eindruck hinterließ die Biografie Hans Voelkners „Salto Mortale". Seine Eltern gehörten zum Pariser Zweig der Roten Kapelle, sie wurden verhaftet und hingerichtet. Ihn brachte man in nazistische „Umerziehungslager für auslandsdeutsche Jugendliche" und schickte ihn in den letzten Kriegsmonaten an die Ostfront. Beim Überlaufen zur Sowjetarmee gefasst, entging er der Hinrichtung im Zuchthaus Butzow in letzter Minute. Nach Frankreich zurückgekehrt, landete er in einem Internierungslager. Der illegale Übertritt aus der französischen in die sowjetische Besatzungszone führte zur Festnahme, Aburteilung als Spion durch ein Militärtribunal und zu mehrjähriger Haft im Zuchthaus Bautzen - gemeinsam mit Nazikriegsverbrechern. Mit unbeugsamer kommunistischer Grundeinstellung als Vermächtnis seiner Eltern stellte er sich nach der Haftentlassung vorbehaltlos in den Dienst des sozialistischen Staates als Kundschafter des Friedens in Paris. Das brachte ihm nach 1990 noch einmal einige Haftjahre ein.
Hans Voelkner las am 26. September 1989 aus dem Manuskript seiner Autobiografie "Salto Mortale"
Susanne Klasen schreibt: „Hans Voelkner las für uns aus dem Manuskript seines Buches. Er hatte Ausschnitte gewählt, in denen er erzählt, wie er seine Mutter Kate Voelkner suchte. Uns allen ging dieser Bericht unter die Haut. Seine Mutter mußte ihn, um sich nicht zu verraten, mit seinem Bruder in eine faschistische Erziehungsanstalt geben, obwohl sie als Kommunistin wußte, wie dort Kinder fanatisiert wurden.
Das wollten wir nicht verstehen. Wie kann eine Mutter so handeln? Aber wir begriffen einmal mehr, wie schwer es für uns ist, das Schreckliche des Faschismus und des Krieges in der Auswirkung auf den einzelnen Menschen zu erfassen. Der Lebensweg Hans Voelkners bewies uns aber auch, daß es Menschen gab und gibt, die unter den grausamsten Bedingungen Menschen blieben. Ihm hatte die Erziehung durch seine Eltern genügend Widerwillen gegen die faschistische Ideologie mitgegeben, so daß er ihr Vermächtnis nie vergaß, auch wenn sie ihn in vieles nicht einweihen durften.
Als wir die Dokumente von Hand zu Hand gehen ließen, in denen er erst vor zwei Jahren endlich die Bestätigung gefunden hatte, wann und wo seine Mutter ermordet worden war, waren wir zutiefst erschüttert. Voller Achtung und Dankbarkeit verabschiedeten wir uns von diesem einfachen, ruhig und bescheiden auftretenden wirklichen Kommunisten. Er hatte uns neben seinem persönlichen Schicksal Geschichtswissen über die weite Verzweigung der Widerstandsorganisation Rote Kapelle vermittelt und uns erläutert, wie unterschiedlich die weltanschaulichen und politischen Auffassungen ihrer Kampfer waren. Er sprach auch über seine Eindrücke von Begegnungen mit Elfriede Paul, dem unerschöpflich ideenreichen Energiebündel. ,Durch diese persönlichen Begegnungen mit Freunden und Kampfgefährten von Elfriede Paul wurde mir die Arbeit in der Traditionskommission zu einem echten Bedürfnis. Sie macht mir viel Freude und gibt mir für meine persönliche Entwicklung sehr viel. Ich mochte so sein wie sie alle: mit vollem Einsatz etwas für die Menschen Nützliches und Bleibendes schaffen, den Menschen helfen und sie in ihrer Entwicklung voranbringen."
Im Sinne Maxim Gorkis „Liebt das Buch, die Quelle alles Wissens!" haben viele Fachschülerinnen Anregungen zur Nutzung schongeistiger Literatur für ihre Wissenserweiterung und Bewusstseinsentwicklung erhalten. Auch hier bleibt die DDR-Erfahrung als Leseland zukunftsweisend in einem Meer von Millionenauflagen von „Bestsellern" vom Niveau der Biografien eines Dieter Bohlen, Stefan Effenberg, „Naddel" und anderer.
In den theoretischen Fächern Anatomie, Pädagogik und Psychologie wurden die speziellen Probleme der Kleinkindentwicklung gelehrt. In der Geschichte der Kleinkindpädagogik lernten die Studentinnen, wie vom antiken Sparta an über die utopischen Sozialisten Thomas Morus, Thomas Campanella und Robert Owen, über Comenius, Frobel und Pestalozzi bis zu Makarenko die gesellschaftlichen Bedingungen die Ziele, Inhalte und Methoden der Erziehung bestimmten. Sie erkannten auch, wie schwierig es für progressive Pädagogen war, ihre humanistischen Ziele durchzusetzen. Sie erhielten Einblick in den komplizierten Erkenntnisweg, der in der DDR von den Anfangen der Kinderkrippen mit der Überwindung dieses und jenes Irrtums bis zur letzten Neufassung des Erziehungsprogramms führte.
Am Anfang stand die Auffassung, Kleinkinder durch Kinderkrankenschwestern in hellen Räumen betreuen zu lassen. Nach dem Übergang zur gemeinsamen Beschäftigung der Kinder durch dafür speziell ausgebildete Kräfte ergab, angeregt durch Professor Dr. Schmidt-Kolmers Untersuchungen in Krippen und Heimen, sowie eine von den Professoren Dr. Regel und Dr. Elfriede Paul mit Mitarbeiterinnen eines Säuglingsheims durchgeführte Beobachtung, dass die Krippenkinder im Vergleich zu Familienkindern Ruckstande bei der Sprachentwicklung und beim Laufenlernen hatten. Nach der Veränderung der Beschaftigungsaktivitäten bestätigte beim Vergleich der 16köpfigen Versuchsgruppe mit einer Kontrollgruppe, dass die nach dem neuen System geführten Kinder die Rückstande nicht nur aufgeholt hatten, sondern größere Fortschritte nachwiesen. Ende der achtziger Jahre wandte man der Individualentwicklung größere Beachtung zu. In der Tagesplanung erhielten die Kinder längere Zeit zu selbst gewähltem freiem Spiel entsprechend ihrer Neigungen.
In der berufspraktischen Ausbildung in den Krippen arbeiteten erfahrene Medizinpädagogen bei der geduldigen Vermittlung der vielen Fähigkeiten und Fertigkeiten zum einfühlsamem Umgang mit den ihnen anvertrauten Kindern, bei denen sich in den ersten drei Lebensjahren ja viele schnelle Veränderungen vollzogen.
Die Praxispädagogen waren auch oft vertrauensvoll gesuchte Ansprechpartner, wenn diese oder jene Studentin in dem komplizierten Übergangsalter zwischen 16 und 19 Jahren Rat, Hilfe und auch manchmal Trost bei ihren Liebes- und Partnerwahlproblemen suchte und ihnen die Hilfe ihrer Altersgefährten nicht ausreichte.
Für die Pädagogen war es immer wieder beeindruckend, wie mit verinnerlichter berufsethischer Grundeinstellung der Liebe zu den Kindern die Studentinnen sich voll für die Orientierungen der Erziehungsprogramme engagierten und mit oft unerwarteten Ideen schöpferisch an ihre Aufgaben herangingen. An jedem Tag waren, vom Erkennen der unterschiedlichen Individualität und des in jedem Falle anderen Entwicklungsstands jedes Kindes ausgehend, neben gemeinsamen Beschäftigungen auch die Stunden des freien, selbst gewählten Spieles der Kinder sinnvoll vorzubereiten. Zu Höhepunkten wurden immer der Nachweis des Wissens und Könnens bei den Praxis-Abschlussprüfungen. Die Auswahl des Themas war jeder Studentin selbst überlassen und wurde dann mit der Praxispädagogin und Krippenleiterin beraten. So waren die Kinder begeistert beim Kuchenbacken dabei. Eine Riesenfreude machte den Kleinen beim Thema „Vertrautmachen mit der Umwelt auf dem Lande" die zu Prüfende, als sie für die Stadtkinder vom Bauernhof ihrer Eltern ein in einem Käfig gesichertes lebendes Huhn mitbrachte und sie in eine bis dahin unbekannte Welt führte.
Das fröhliche Leben in den DDR-Kinderkrippen war genau das Gegenteil von dem, was in den BRD-Massenmedien zur Delegitimierung der DDR als „Militarisierung von klein auf geschichtsfälschend dargestellt wird. Noch hanebüchenerer Unsinn ist die Theorie von Professor Dr. Pfeiffer, nicht oft genug als höchste Autorität der Kriminalpsychologie angepriesen, dass Ursachen neofaschistischer Aktivitäten in Ostdeutschland in der frühen Unterdrückung der „freien Persönlichkeitssitzung durch kollektives Topfsitzen" zu finden sind.
Eine weitere zukunftsweisende Erfahrung aus der Geschichte der Krippenerziehung gehört zu den bleibenden Werten des gesamten Systems sozialer Sicherheit und Geborgenheit der DDR. Diese Maächen im Übergangsstadium zu jungen Frauen und Muttern lebten drei Jahre lang in den Kinderkrippen mit ihrer Liebe zu den ihnen anvertrauten Kindern in einer Umwelt, die den eigenen Kinderwunsch jeden Tag bestärkte.
Vor ihnen lag ein gesicherter Arbeitsplatz und eine klare Perspektive in ihrem Traumberuf. Sie wussten, dass die biologisch günstigste Zeit für die Geburt ihrer Kinder in ihrem Alter lag. Einen Lebenspartner für die Familiengründung selbst bei ihren hohen Anforderungen zu finden war möglich.
So war es an der Stralsunder Medifa nichts Außergewöhnliches, dass im 3. Studienjahr die ersten Schwangerschaften zu verzeichnen waren, umsorgt und unterstützt von Mitstudentinnen und Pädagogen. Bei der letzten feierlichen Exmatrikulation 1989 wurden bereits fünf junge Mutter freudig begrüßt, von denen zwei sogar bereits zum zweiten Male schwanger waren.
Weniger begeistert waren die Einsatzplaner in den staatlichen Organen, als fünf Beststudentinnen einer FDJ-Gruppenleitung den gemeinsamen Beschluss realisierten, ihre ersten Wunschkinder nach dem erfolgreich bestandenen Staatsexamen zur Welt zu bringen und dann erst einmal ihr Babyjahr zu genießen.
Es gab und gibt auch in Zukunft eine Alternative zu dem „unabänderlich negativen demografischen Faktor", der von den BRD-Politikern und -Ideologen als Begründung für die sozialen Grausamkeiten der Herabsenkung des Lebensniveaus der Rentnergeneration nicht oft genug behauptet wird.
Es ist zutiefst bedauerlich, wenn heute die Statistiker glaubhaft feststellen, dass bereits jetzt 30% der Frauen kinderlos bleiben. Sie haben aus diesen oder jenen Gründen, ob nun Karriere, Wohlstandsdenken (zuerst Auto, dann Haus und Hund) oder „Genießen der Spaßgesellschaft" auf das große Glücksgefühl verzichtet, ihre Kinder heranwachsen zu sehen und mit ihnen viel unvergesslich schone, aber auch schwierige Stunden zu erleben. Woher sollen von der Sucht nach Macht als der anerkannt gefährlichsten Droge befallene Politikerinnen Gefühl und Verständnis für normale Menschen mit ihren Bedürfnissen auch nach Elternglück haben?
Eine der menschlich bittersten Folgen der Vereinnahmung der DDR war mit der Zerstörung ihres Sozialsystems für die Mehrzahl der Krippenerzieherinnen der Verlust ihrer beruflichen Perspektive und das Nutzloswerden ihrer so gründlich erworbenen Qualifikation. Während eines Wiedersehenstreffens einer Seminargruppe fünf Jahre nach dem Umbruch ergab sich das Bild: Nur wenige wurden vorübergehend weiterbeschäftigt wie bisher. Einige hatten, als hochqualifizierte Arbeitskräfte in der Alt-BRD willkommen, einen Job gefunden. Die Mehrzahl arbeitete bei der AOK oder DAK, an Banken oder bei Fielmann. Nicht wenige aber waren als Mütter von Kleinkindern arbeitslos.
In die jetzt leer stehenden DDR-Neubauten von Kinderkrippen sind inzwischen Einrichtungen der Seniorenbetreuung der Diakonie, Vereine zur Drogensuchtbekämpfung oder Verteilungsstellen von Lebensmitteln für Aussiedler und Sozialhilfeempfänger eingezogen.
In guter Erinnerung bleiben wird die Krippenerziehung als Teil des Sozialstaates DDR. Heute dämmert es bereits in einigen Köpfen von Politikern und Journalisten, dass die Polikliniken der DDR, Kinder- und Jugendsportschulen für den Nachwuchs im Leistungssport, Gesamtschulen zur Überwindung des fast mittelalterlichen dreistufigen Bildungssystems erfolgreicher waren als Einrichtungen der Alt-BRD.
Warum sollten in Zukunft nicht auch die Erfahrungen der Krippenpädagogik der DDR wieder öffentliches Interesse finden?
Postskriptum:
Während der Tagung der „Deutschen Gesellschaft für Demografie" (DGD) an der Universität Bielefeld vertrat vor gut 100 namhaften Autoritäten der Mainzer Professor Hermann Adrian seine Meinung über den Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und sinkender Kinderzahl:
„Die Arbeitslosigkeit sinkt mit jedem zusätzlichen Kind um rund 0,7 Arbeitslose. Jährlich 300 000 Kinder mehr reduzieren die Arbeitslosen um rund 200 000 jährlich, da die Kinder betreut werden müssen und zusätzlicher Konsum entsteht. Junge Eltern geben ihr Geld für die Ernährung und sonstige Ausstattung ihrer Kinder aus und nicht für Luxus und Reisen. Sie stärken damit die Inlandsnachfrage und schwächen nicht die Leistungsbilanz wie Kinderlose. Familien benötigen mehr Wohnraum als Kinderlose, dies stärkt die Bauwirtschaft. Die dringend notwendige Umsteuerung ist nur zu erreichen durch eine konsequent kinderfreundliche Politik. Dazu gehört die Ablösung des Ehegattensplittings nach französischem Vorbild, die Reduzierung des Rentenbeitrages nach der Kinderzahl, das Recht auf bezahlten Elternurlaub und Teilzeitarbeit nach dem Erziehungsurlaub, flächendeckender Aufbau von Kinderkrippen und Ganztagsschulen und generell freier Eintritt aller Kinder in allen öffentlichen Einrichtungen."
H.N.
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