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Horst Gröger

Spurensicherung

I. Brief an einen Kollegen

Unterwegs, im Januar 2004

 Lieber Kollege,

so rast er dahin, unser Zug: unaufhaltsam; bald müssen wir aussteigen, für immer. Noch aber schaue ich ins Weite, lächle. Ruhe ist jetzt in mir.

Anders unser gestriges Gespräch im „Bären" - oder doch Streit? (Etwas überhitzt durch die wirklich guten Tropfen.) Wir sind wie Brüder einer Mutter, aber von 2 Vätern, Gleiche in der Ungleichheit. Die Zeit, in die wir hineingeboren wurden, hatte uns bis 90 getrennt - und natürlich der Kalte Krieg. Soweit sind wir uns einig, das trennt uns nicht mehr. Es ist aber in uns und um uns ein unterschiedliches Wissen und eine Sperre des Nichts-oder-Wenig-voneinander-Wissens, eine eingelernte Tradition unterschiedlicher Werte aus der Vergangenheit, die Unkenntnis des Alltags des anderen. Was wußten wir „von fröuden, höchgeziten, von weinen und von klagen" der verfeindeten Brüder? Wer von uns ist Kain und wer ist Abel?

„Ik gihörta dat seggen...", vom Alten haben wir beide Gleiches gelernt und gelehrt. Aber von der durchlebten Gegenwart ließ jede Seite gerade in Lehre und Ausbildung alles der anderen Gesellschaftsordnung weg, was nicht ins eigene Weltbild paßte und klaubte sich heraus, was man gegen den anderen Staat als Argument gebrauchen konnte. Früh lernte ich so (etwas tendenziös) den „Stellvertreter" kennen, auch „Die verlorene Ehre der Katharina Blum" war bekannt. Aber die „Gruppe 47" war kein Begriff, der Name Ernst Jünger gänzlich unbekannt. Dafür hatten wir im Studium ein Spezialseminar zu Becher.

Habt ihr in der Schule irgend etwas von unserer neuesten Literatur gelesen? Oder nur den Unsinn gehört, bei uns gäbe es nichts als ideologische Pamphlete ohne Kunstwert? Lerntet ihr Juschu kennen, das nackte Kind unter Wölfen, den Holt, den Wundertäter oder Ole? Littet ihr mit der Linkerhand oder erstauntet über des Zigeuners Gruß am Morgen an die Schöne?  

 

 

 Horst Gröger an der Mittelschule Löbau-Süd (1996)

 

Sicher, niemand in der gebildeten Welt kam an Brecht vorbei. Wie klein Doofi staunte ich im Berliner Ensemble den schottischen General im Kilt an, ich als Student, der von der großen Welt lediglich ein Stückchen der kleinen DDR kannte. Aber der Besatzungsmann besuchte halt unseren BB in unserem Berlin. Eure neureichen Snobs waren eh der Meinung, daß die hohen Ideen eines Brecht genau so wie die eines Marx doch mehr für die Elite seien denn für den Proleten. Ja, ja: „Brillanten an der Hand, Picasso an der Wand, Mein' Kampf ham wir leider verbrannt". In dieser Manier entblödete sich vor Jahr und Tag ein Bayernhäuptling nicht, unseren Altkommunisten Brecht nun endlich in Bayern Heimatrecht zu gestatten. Postum, versteht sich, postum.

Aber in Deiner Studienzeit? Wurde jemals die Frage gestellt oder gar diskutiert, geklärt, warum die Größen der Emigrantengeneration nach dem Krieg zu uns kamen? Mann nahm den Nationalpreis der DDR (natürlich auch den schönen russischen Pelz), sein Bruder war bereit für unsere Akademie der Künste. Seghers, Bredel, Brecht, Feuchtwanger (Becher sowieso), auch Hauptmann usw.: Die alte Garde der Großen wählte die DDR. Alle verbohrt, alle nur ideologische Klassenkämpfer, Parteisoldaten? Oder sahen sie nach Weimar, nach Adolf Nazi, nach Krieg und im Chaos eine hoffnungsvolle und zukunftsschwangere Alternative, verstanden sie sich gar als Geburtshelfer beim „Einfachen, das so schwer zu machen ist"?

Friede liegt über dem Land, ein bißchen Winter noch; ein bißchen Heine in mir -statt Kant. Der Zug rast, mein Herz ruht in der Kindheit. Hunger war, bittere Kindertränen und das tränenlose Leid im lieben Gesicht der Mutter in den sich ziehenden Elendsjahren; aber auch die verzauberte Glitzerwelt des Winterwaldes und die bunten Bildchen im Weihnachtskalender (statt realer Süßigkeiten und Spielsachen), es waren die Wolken von Schmetterlingen im Kleefeld und Kieselsteine im Mund gegen den Durst, wenn in der Hitze die Luft flirrte, und die mehlig aufgebrochenen großen Knollen, im Kartoffelkrautfeuer geröstet.

Ja, das Grunderlebnis Hunger, aber auch der Zwang zur Selbständigkeit und Kreativität, zum Durchsetzungsvermögen bei den wilden Kinderspielen und - Lernen war und deshalb Träume, mehr Hoffnung noch als Brot. Und der Zauber hieß Zukunft.

Die Zeit flieht und ich Weißbart träume das Werk meines Dichters. Meinen Schülern habe ich gesagt, er beschreibt die Zeit, in die ich hineingeboren war und heranwuchs; Widersprüche, Entwicklung, Aufbruch, viel Tat, auch Schuld. Nein, nein: Ich weiß es ganz genau, er beschrieb mein Leben. Wichtig ist nur das einmalig Besondere, daß ich es so erlebte, ich für ein ganzes Volk; ich Kriegsgeborener und Nachkriegshungriger und Kartoffelkäfersammler, unersättlich nach Brot und Wissen und Erkenntnis: ein weinender und zweifelnder, aber hoffender Wahrheitssucher.

Ich werde es in den nächsten Tagen für Dich aufschreiben und es Dir zuschicken, unser Sehnen und Leiden, den argen Weg der Erkenntnis, unseren großen Traum und kleinen Alltag, die unsterbliche Freude am Leben und das bittere Blut bei der Implosion der janusköpfigen Hoffnung. Was dieser Erwin Strittmatter leistete, ist Kunst, war und ist Lebenshilfe. So wird vom vergangenen Staat vielleicht nichts bleiben als eine Fußnote der Geschichte. Aber der Dichter machte, daß unser Leben nicht in Äonen untergehen kann. Unsere Namen wird man vergessen, dennoch werden wir dank unserer Autoren keine gesichtslosen Schemen des Gespenstes sein, das sich einst als changierender Koloß in Europa räkelte, allerdings mehr Angst als Bewunderung verbreitend. Unser Leben ist eine Spur. Und E. S. hat sie aufgezeichnet. Ich schenke ihn Dir, denn wer Kunst teilt, wird dadurch reicher.

Möge es Dir gut gehen, bis wir uns wiedersehen.

Horst

PS

Wir Grauköpfe sollten zukünftig doch solche Kletterei unterlassen, auch wenn Dein Wunsch gut gemeint war, daß auch ich euer „Liesel" einmal geküßt haben sollte. Zum Glück war ja kein Regent in der Nähe, und einen Maulkorb haben wir auch nicht hinterlassen.

Isaes HG

II. Erkenne dich selbst!

Erwin Strittmatter Schulzenhofer Kramkalender 1967

Ich wanderte durch den heißen Sommertag, nicht erntedurchschwitzt, dennoch müde, und lagerte am Rain, um die Seele nachkommen zu lassen. Vor mir letztes Weizengold auf dem Halm, weiter entfernt der Staub der Erntemaschinen. Flimmern und Flirren. Trocken die Kehle, eine noch saure Brombeere erfrischt.

 

Der Wegweiser

Das Heidekraut und der Buchweiderich blühten, und gegen Mittag wurde es heiß, und das Harz der Kiefern duftete.

Bevor ich heimritt, legte ich zwei Heidekrautzweige auf den Kopf des Wegweisers. „Ach, ich ließ was auf dem Wegweiser liegen, holt es mir, bitte, am Nachmittag", sagte ich zu meinen Söhnen. Sie lernten reiten, und noch allzuoft bestimmten die Ponys ihre Reitrouten. Bei einem Spaziergang zu Pferde soll aber der Reiter den Weg bestimmen.

Am Abend brachten mir die Söhne die Heidekrautzweige, und ich steckte sie ihnen wie Sieglorbeer an die Jacken; denn bis zum Wegweiser mußten sie die störrischen Ponys mehrfach besiegt haben.

Der Giersch

   Im Sommer steht der Garten voll Giersch. Er überwuchert die Bohnenbeete. Wir mögen ihn nicht und reißen ihn aus „Immer der    Giersch, ein zähes Unkraut, der Giersch!"

Der Winter kommt, und der Winter geht. Zwölf Wochen lang Schnee. Die Augen warn seines Glanzes müde. Eines Mittags kommt schüchtern die Sonne. Leise leckt sie den Schnee vom Staket. Und was steht dort im Schütze der Latten? Kleine Blätter, gekrümmt noch: der Giersch.

Wir wundern und freun uns: Bald kommt der Frühling. „Saht ihr den Giersch? Der Giersch ist schon da!"

Die Stimmung zwingt mein Erinnern zu Erwin Strittmatter, zum „Schulzenhofer Kramkalender" (Fontanepreis 1966). Sprachperlen sind es, so einfach und schön wie die Tautropfen am Morgen, die er - nein, nicht beschreibt, sondern durch Worte erleben läßt; Perlen, so matt glänzend und tief und kostbar wie das Leben. Er pflegte eine Sprache, romantisch und lyrisch, die das Schönste in uns wieder erwachen läßt - das Kind sein -, unseren Ursprung, das Eins-Sein in und mit der Natur, so selbstverständlich und so einfach, wie uns einst als Kind in Erstaunen versetzt haben die Blumen, der huschende Käfer und das Säuseln des Windes. Mit Strittmatter erwacht die so oft im Leben verschüttete Fähigkeit, staunen zu können über das Einfache und Alltägliche, über den bunten Tupfer in Natur und Leben; Freude zu empfinden ohne Anlaß.

Woher?

In der Nacht überzog sich der See mit Eis. Ich sah ihn am Morgen und fand ihn häßlich: Das Eis war stumpf und war undurchsichtig, und es erinnerte mich an die unteren Fensterscheiben meiner früheren Dorfschulstube. Die waren so stumpf und hinderten mich, auf die Wiesen vorm Schulhaus zu sehn.

Wie viele Gründe für das, was wir hassen, wie viele Gründe für das, was wir lieben, liegen in unseren Kindertagen?

Wenn ich im „Kalender" lese und blättere und mich - wie oft schon mit den Jahren? -festlese, erspüre ich Natur mit allen Sinnen und als ästhetischen Genuß. Strittmatters Sprache malt Bilder in meine Seele; und Jugendträume - nachdem die Jugend lange, lange vorbei - und Kinderwünsche drängen sich aus der Tiefe in die Gegenwart. Es ist wie meine eigene Wiedergeburt, aber ich bin verändert, etwas besser, etwas reicher an Erleben und in der Fähigkeit zu genießen und zu freuen mich.

Häckselschneiden

Die Maschine und der Motor sind verkeilt. Der Treibriemen ist gespannt. Das Häckselschneiden beginnt. Der Meister reißt die Strohbunde auf. Ich lege sie in die hölzerne Rinne; Herbert stopft das Stroh in die Führung.

Das Schwungrad dreht sich. Die Messer kreisen. Der Häcksel spritzt wie Regen umher. Feldstaub steigt aus dem Stroh empor. Er setzt sich in unsere Nasen und Kehlen. Mein Schnurrbart schwärzt sich, die Jacke verstaubt. Wir schaufeln den Häcksel in den Verschlag. Wir stopfen ihn auf der Tenne in Säcke. Sohn Matthes stopft mit. Das Häckseln ist für Matthes ein Fest. Vergangene Kindheit, wo alles ein Fest war: Saatfest und Dreschfest, Heufest und Schlachtfest! Brächten wir's doch auch im Alter dazu, jede Arbeit zum Fest zu machen.

In Strittmatters Werk finde ich nicht nur die Totalität des Lebens; seine literarischen Figuren sind wie ein Spiegel meines eigenen Lebens. Im „Tinko" (1954, Nationalpreis 1955) erkenne ich mich als kleinen Jungen im Sächsischen, der die geschichtlichen Umbrüche wie die Kleinigkeiten und Nichtigkeiten und Geheimnisse des Alltags und des Dorfes mit naivem Staunen erlebt und daran wächst. Tinkos Tränen habe ich mir aus den Augen gewischt, er hat meine Träume geträumt und meine Hoffnungen durchlitten. Gemeinsam haben wir dem Kaiser zugerufen, daß er nackt sei (und uns ins Fäustchen gekichert). Und wie Simplizissimus konnten unsere kleinen Herzen weder den Krieg noch den Nachkrieg verstehen. In allen 3 Bänden des „Wundertäter" (1957 - 1980) lese ich meinen Glauben an eine bessere Welt nach dem bösen Krieg; mein Erschrecken, als Strittmatters „Generalissimus" nicht mehr war; aber auch, wie ich anfing, die Welt, in der ich lebte, so zu sehen, wie ich sie anschaute (als also eine Weltanschauung entstand) und nicht, wie sie in Schule und Zeitung und Radio und „Landfilm" (eine typische DDR-Erscheinung der fünfziger Jahre) erklärt wurde. Ich gehe nochmals den bitteren Weg der Erkenntnis, daß meine Ideale nur eine Illusion waren, daß ich - wie Viele? - von denen da oben, von Strittmatters „Oberbüro", um mein Leben betrogen wurde. Daß der Sozialismus nicht machbar war, weil seine Prämissen, weil sein Menschenbild falsch waren. „Ole Bienkopp" (1964 Nationalpreis) hat es früher begriffen als ich, aber mir bei meiner Selbsterkenntnis und Selbstbefreiung geholfen. Nur Ole muß im Suizid enden.

 

   Trostwind

Plötzlich ging der Wind hoch und hohl. In den Baumkronen war Aufruhr. Es tropfte vom Dachrand, die Hoffnungen wurden geweckt.

Immer, wenn alles erstarrt ist, kommt so ein Südwind, fährt übers Dach und summt in die Esse: Seid nur getrost und tut, was ihr müßt. Mich schickt der Frühling. Es bleibt nicht Winter.

 

Die alte Hofpumpe

Eine Wasserleitung wurde gebaut. Man riß der alten Hofpumpe das Gestänge und das Kolbenherz heraus; Da lag sie und war nichts als ein hohler Baumstamm. „Soll man die Alten nicht ehren?" fragten meine Söhne. Sie trugen die Pumpe in den Garten, stellten sie auf und gruben sie ein.

Als die Obstbäume ringsum blühten, schlüpfte ein Meisenpaar durch das Mundrohr in den hohlen Pumpenstamm. Es legte ein Nest an. Fünf junge Meisen schlüpften und wuchsen. Sie flogen aus und piepsten leise. Im nächsten Frühling sangen die jungen Meisenhähne, und die Weibchen zwitscherten. Das neue Herz unserer Hofpumpe flog umher und sang.

Dieser Erwin Strittmatter aus der Niederlausitz bei Spremberg (Grodk in sorbischer Sprache) mit deutschen und sorbischen Voreltern war einem Ideal treu: nie huldigte er einer „Geldsackgesinnung" (Fontane), nie verleugnete er unsere Überzeugung aus dem Evangelium: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon".

Mit der Verfilmung seiner Trilogie „Der Laden" (1983-1992) wurde Strittmatter durch das Fernsehen endlich auch einem breiten westdeutschen Publikum bekannt, und zwar mit Gewinn und Spaß.

Er glaubte an eine gerechte neue Gesellschaft, und er litt an ihr und ihrer Machart und ihren Machern. Man glaubt, Heinrich Mann hätte an E. S. denken können, als er schrieb: „Die Welt, unter der er nicht leidet, reizt ihn nicht zur Gegenwehr. Ein ganz und gar glückliches Zeitalter hätte keine Literatur." (Vielleicht doch, aber nur Operetten und Lustspiele und Lieder, wunderschöne Lieder.) E. S. litt an seinem Land, der „sozialistischen" Gegenwart in einer zerrissenen Welt, die auch mein Leben war, eine Gegenwart, die zunehmend und immer mehr Menschen als eine Zeit ohne Zukunft empfanden. Aber Glück schließt immer die Hoffnung auf Zukunft ein. E. S. wehrte sich - anders, als an seinem Lebensabend das Volk der DDR -, aber er wehrte sich, indem er die Widersprüche seiner Zeit als seine, meine und deine Schmerzen erzählte. Wir lesen in seinem Werke von unser aller 2 Seelen in der Brust, die gleichzeitig ja und nein zur quälenden Wirklichkeit sagen. Selbst die Oberen mußten den Bauern und freien Schriftsteller, gefördert von Brecht, mit National-, Lessing- und Fontanepreisen ehren, seine Werke in über 5 Millionen Exemplaren drucken und in fast 40 Sprachen übersetzen lassen.

Am See

Ich reite am großen See entlang. Noch immer hab ich ihn nicht umritten. Ich halte haus mit diesem Vergnügen.

Der Himmel wird nächtig. Birken stehen am Seesaum. Der Abendwind geht durch ihr wirres Gezweig. Im raschelnden Riedgras schnuppert der Hund.

Die Abendkühle, die glimmende Pfeife, das rupfende Pferd und das Sattelknarren, der Abendstern und ein Wolkengebirge - man findet am See keine Kostbarkeiten; man findet sich, und das ist auch was.

Nur in seinen kleinen Natur- und Dorfperlen im „Kalender" fehlt (meist) der Widerspruch, weil das Leben schön ist und das Schöne kostenlos - der Kuß, der weiche Wind, der Blumenduft, das Lächeln aus Liebe.

 

Die Macht des Wortes

Jedes Jahr setzte Großvater vorgezogene Kürbispflanzen in Kompost und zog große gelbe Kürbisse für den Winter. Der Komposthaufen war auf dem Felde. Durch die Felder schlichen zuweilen redliche Menschen, wenn man den Worten der Bibel traun kann. Sie säten nicht, und sie ernteten doch, und deshalb nächtigte Großvater, wenn die Kürbisse reiften, draußen. Er breitete seine blaue Schürze aus, legte sich hin und schlief im Raingras, und da er beim Schlafen schnarchte, waren die Diebe gewarnt. Eine Weile ging's gut, aber Großmutter war noch eifersüchtig. Sie wollte kein Mannsbild, das nachts „umherzigeunerte." „Denk an den Winter! Denk an dein Rheuma. Ich reib dich nicht ein, wenn es dich wieder quält. Im Gras liegen - bist doch kein Rehbock!"

Großvater nahm seine Schürze und ging zur Großmutter in die Kammer, doch bevor er das Feld verließ, nahm er sein Messer und ritzte in alle Kürbishäute: „Gestohlen bei Kulka."

Die Kürbisse wuchsen. Großvaters Schrift wuchs mit.

„GESTOHLEN BEI KULKA." Die Diebe umschlichen den Komposthaufen und ließen die Kürbisse, wo sie waren. Großvaters Buchstaben wirkten wie Zauberrunen.

Deshalb schenkte ich meinen „Schulzenhofer Kramkalender" der Tochter der Geliebten - und lieh mir das Buch sofort in einer Bibliothek wieder aus. E. S. hat mich gelehrt, daß mir das Leben nichts gibt, daß ich nur bekomme, was ich ihm täglich abringe, wenn ich zum Fauste werde. So setzte Strittmatter Fragen in die Welt, über die ich (um im Sinne der Anna Seghers zu sprechen) 10 Jahre und mehr nachzudenken hatte. Und wenn ich das Kleine durch Strittmatters Worte als das Wahre und Große erkenne, verstehe ich den Philosophen wieder besser: Ich weiß, daß ich nichts weiß. Aber ich lächle. Nosce te ipsum!1

III. Antwortbrief

Göttingen, Januar 2004

Lieber Horst,

gut, Dein Strittmatter; heureka:

Nie wieder soll es für Menschen und ihre Werke Maulkörbe geben. Nur die „makellosen" Ochsen sollen zittern.

Geben und nehmen wir wechselseitig unsere Kultur, so werden wir alle reicher, wenn weitere Grenzen in Europa schwinden. Bedenken wir die Weisheit der Uralten, daß der Tod gen Sonnenuntergang ist, aber:

Ex Oriente lux.

Ich nun auch: Isaes

Dein Ehm

PS

Warum habt ihr Atheisten oft genauere Bibelkenntnisse als wir? Ich habe mich schlau gemacht: Kamilos (Schiffstau) wurde mit Kamelos (Kamel) vertauscht. Es heißt also tatsächlich: Eher geht ein Tau durchs Nadelöhr, als daß ein Reicher in den Himmel kömmt.

E.

 

 

Quellenangaben zu den Auszügen aus dem „Schulzenhofer Kramkalender"

Erwin Strittmatter: Schulzenhofer Kramkalender. Aufbauverlag 1973

Der Wegweiser, Nr. 141, S. 210

Der Giersch, Nr. 12, S. 28

Woher?, Nr. 121, S. 185

Häckselschneiden, Nr. 35, S. 63

Trostwind, Nr. 118, S. 179

Die alte Hofpumpe, Nr. 10, S. 25

Am See, Nr. 98, S. 148

Die Macht des Wortes, Nr. 27, S. 53


1 Erkenne dich selbst!


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