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Günter Glante

Die ungarndeutsche Literatur

Es war gegen Ende der siebziger Jahre, als ich während einer Beratung der Zentralen Arbeitsgruppe „Schreibender Arbeiter" vom Leiter eines Seminars schreibender Ungarndeutschen angesprochen wurde.

Jochen Haufe erzählte mir, dass ihm die Arbeit, die er seit einigen Jahren in Ungarn leiste, über den Kopf wüchse. Er fragte, ob ich bereit wäre, diese Aufgabe mit den Prosaschreibern zu übernehmen. Ich war skeptisch und zugleich so verblüfft, dass ich ja sagte, ohne vorerst weiter über die Sache nachzudenken. Es vergingen viele Monate und eigentlich war Ungarn dann schon abgehakt. Der Haufe hat gesponnen, dachte ich. Dann traf mich der Brief aus dem Ministerium für Kultur und die Einladung zu einem Gespräch völlig unvorbereitet. Nun erfuhr ich Genaueres. Da gab es also noch immer eine relativ starke deutsche Minderheit, die sich seit der Zeit des Parteichefs Janos Kadar auch wieder in deutscher Sprache artikulieren konnte. Es gab einen so genannten Demokratischen Verband der Ungarndeutschen und eine deutschsprachige Zeitung, die ihre Landsleute aufgerufen hatte, sich literarisch zu äußern. Seitdem existierte ein kleiner Kreis Ungarndeutscher, der sich seit Jahren regelmäßig traf und über vorliegende Manuskripte sprach. Jochen Haufe war nach dem Ableben des ersten deutschen Betreuers eingesprungen und nun war der Kreis der Autoren so groß geworden, dass eine getrennte Betreuung von Lyrikern und Prosaschreibern sinnvoll erschien. Das Ministerium für Kultur der DDR war auf Grund eines zwischenstaatlichen Abkommens bereit, deutsche Lektoren dafür zur Verfügung zu stellen und auch die Kosten zu übernehmen.

Meine erste Begegnung mit den ungarndeutschen Autoren in Tata werde ich nie vergessen. Die meisten Teilnehmer meines Seminars waren wesentlich älter als ich. Viele sprachen einen Dialekt, den ich damals noch nicht identifizieren konnte (heute wurde ich sagen, ein etwas altmodisches Schwäbisch) und sie schrieben auch so. Ich kam mir ziemlich hilflos und blöd vor und tat dann auch das Dümmste, was ich tun konnte. Ich „referierte" über die Kunst des Schreibens. Nicht lange, Gott sei Dank, aber es reichte. Franz Sziebert setzte plötzlich zu einer Erklärung an, die mich traf. Er sagte: „Ich bin eigentlich nur gekommen, um mich zu verabschieden. Ich habe erkannt, dass ich nicht schreiben kann." Ich wusste in diesem Augenblick, dass ich die Sache völlig falsch angefangen hatte, sagte eine Kaffeepause an und bat Franz Sziebert um ein Vier-Augen-Gespräch bei einem Spaziergang im Hotelpark. In der nächsten halben Stunde erfuhr ich mehr über die Geschichte der Ungarndeutschen als je zuvor. Ich wusste nun auch, warum diese Generation zwar deutsch sprach, aber große Probleme mit der Schriftsprache hatte. Sie hatten es auch in den Jahren vor dem Krieg nie gelernt. Die ungarischen Machthaber wollten die im Lande lebenden Burger mit aller Macht magyarisieren. Diese Politik führte unter anderen dann auch dazu, dass sich die Ungarndeutschen zu Zeiten Hitlers massenhaft dem so genannten Volksbund anschlössen. Franz Sziebert erzahlte mir ganz nebenbei eine Geschichte, wohl um mir zu zeigen, wie sehr die Ungarndeutschen sich mit Ungarn verbunden fühlen. Ein Vertriebener, der in der BRD lebte und seinen Tod nahen fühlte, hatte kürzlich dem Pfarrer in Franzens Dorf geschrieben und ihn gebeten, ihm ein wenig Erde aus dem ehemaligen Heimatdorf zuzusenden, die er mit in das Grab nehmen wolle. Franz wusste und erzählte mehr über den Mann und dessen Rolle im Dorf. Als wir zurückkamen, hatten wir den Rahmen für eine interessante Geschichte, die später unter dem Titel „Eine Hand voll Erde" auch veröffentlicht wurde. Franz Szierbert - heute Mitte der Siebzig -schrieb noch mehr solcher Geschichten, sammelte Informationen über das Brauchtum und lieferte in den neunziger Jahren einem Sprachforscher aus der BRD eine Vielzahl von Tonbandaufnahmen mit den in den ungarndeutschen Dorfern erhalten geblieben schwäbischen Dialekten. Josef Mikonya war früher Bergman, schrieb Erzählungen über den Krieg, die Vertreibung und über die Geschichte seines Dorfes. Zusammen mit dem leider früh verstorbenen Engelbert Rittinger, einem ehemaligen Lehrer, erfanden sie zwei typisch ungarndeutsche Figuren, die in der „Neuen Zeitung" im Dialog standen.

Die Jahre gingen ins Land, mit der Zeit kamen junge Leute hinzu und alle warteten auf das jährliche Treffen zum Seminar. Neue Manuskripte waren entstanden, wurden besprochen, manches verworfen, anderes mit Hinweisen verbessert, neu überarbeitet. Neben unseren Ratschlägen war die Unterstützung durch den Verband der Ungarndeutschen, ihrer Zeitung und wohl auch dem Nationalitätenausschuss zu danken, dass sich vielfältige Möglichkeiten für die Entwicklung einer ungarndeutschen Literatur eröffneten. Mit der Zeit entstanden feste Beziehungen und es blieb nicht aus, dass die ungarndeutschen Autoren in die DDR eingeladen wurden. Es gab Kontakte zu Zirkeln schreibender Werktätiger in der DDR und ungarndeutsche Autoren waren regelmäßig bei den traditionellen Arbeiterfestspielen zu Gast.


Da unsere Autoren zum großen Teil aus Dörfern oder Kleinstädten kamen und in der Regel einen eigenen Weinberg bearbeiteten, waren wir am Abend immer bestens versorgt.

Dennoch kam es gegen Ende der achtziger Jahre zu ersten Spannungen. Einige der Intellektuellen in unserem Seminar hatten zu diesem Zeitpunkt schon offizielle Kontakte nach Österreich und in die BRD und zu den dort agierenden Landsmannschaften bzw. Vertriebenenverbänden. Es gab plötzlich eine Vielzahl von Angeboten, Arbeiten von ungarndeutschen Autoren dort zu veröffentlichen. Natürlich waren alle dafür. Vor Jochen Haufe und mir stand die Frage, dem vorbehaltlos zuzustimmen oder uns dem Verdacht auszusetzen, aus politischen Gründen dagegen zu sein. Es gab einige konsequente Auseinandersetzungen zu literarisch schwachen Manuskripten, die einzig und allein, weil sie sich mit dem Thema der Vertreibung beschäftigten, in der BRD veröffentlicht werden sollten. Es hatte während der ganzen Zeit unserer Arbeit in Ungarn immer literarische Arbeiten zu dieser Thematik gegeben und wir waren der Meinung, dass es logisch und natürlich war, wenn sich unsere Freunde auch mit dieser Seite ihrer Vergangenheit auseinandersetzten. Es fiel aber bis dahin niemandem ein, diese Geschichten politisch zu instrumentalisieren.

Ich sollte vielleicht auch darauf aufmerksam machen, dass man in der DDR die Entwicklung in Ungarn misstrauisch verfolgte und auch uns und unsere Arbeit in Ungarn zu behindern suchte. Und dann kam die Wende.

Ich erinnere mich gut, als wir uns 1990 in Pecsvarat trafen. Da tauchten plötzlich neue Gesichter auf. Der neu ernannte Generalkonsul der BRD gab sich die Ehre und in seinem Gefolge erschienen Vertreter eines Westberliner Autorenverbandes. Mit dem Ende der DDR war ja nun eigentlich unsere Mission beendet. Was sollten wir von nun an tun? Alle Zeichen deuteten darauf hin, dass wir durch Vertreter westdeutscher Autorenverbande abgelöst werden. Wir fuhren trotzdem auch 1991 zu den Seminaren und begegneten neben einer Dame aus Westberlin einem ehemaligen Journalisten aus der DDR, der inhaftiert und später von der BRD freigekauft worden war. Der Mann gehörte, wie er selbst erklärte, in der DDR zum Freundeskreis um Honecker und versorgte die in der BRD erscheinende „Zeit" mit Interna aus diesem Kreis, was zu seiner Verhaftung führte. Zu gleicher Zeit gab es unter unseren Autoren eine Menge Auseinandersetzungen, wie sie für diese Zeit typisch waren. Plötzlich wurde es wieder wichtig, wer sich zu Ungarns Horty-Zeiten hatte magyarisieren lassen, wer mit seiner kommunistischen Vergangenheit geprahlt hatte und nun nichts mehr davon wissen wollte usw. usf. Andere hatten plötzlich Probleme mit der Arbeit. Finanzielle und weitere Probleme tauchten auf. Wir entschlossen uns in dieser Situation zum Ruckzug, hatten aber nicht damit gerechnet, dass nun die von uns jahrelang betreuten Autoren rebellierten. Diese hatten, wie sich später herausstellte, den gleichen Eindruck wie wir: Wir sollten herausgedrängt werden. Die Autoren setzten sich aber durch und wir wurden erneut eingeladen und kamen. In den nächsten Jahren allerdings häuften sich die sozialen Probleme, der Kreis der Autoren wurde immer kleiner. In dieser Zeit entdeckte unser Partner in Ungarn in dem Schriftsteller Stefan Schoblocher aus Jena einen ehemaligen vertriebenen Ungarndeutschen und lud diesen zum Seminar ein. Da Jochen Haufe das siebzigste Lebensjahr überschritten hatte und ich mit gesundheitlichen Problemen kämpfte, übergaben wir den Staffelstab gern in jüngere Hände. Der mittlerweile sehr persönliche Kontakt zu einer Reihe von Autoren blieb aber über die Jahre erhalten.

2003 schrieben mir unsere Freunde aus Ungarn. Sie schickten mir eine Einladung zur Teilnahme am Seminar in Budapest. Mit Freude und Genugtuung konnte ich feststellen, dass der Kreis wieder größer geworden ist. Einige, die aufgegeben hatten, sind wiedergekommen, andere sind neu hinzugekommen. Was für mich besonders interessant war, Ungarndeutsche, die nach der Vertreibung Jahrzehnte in der BRD gelebt hatten, kommen extra wegen des Seminars nach Ungarn.


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