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Werner Strache

 Wir waren Zeitzeugen

(Auszüge) 

Als am 9. November 1989 in Berlin, S-Bahnhof Bornholmer Straße, die Grenze zu Berlin-West geöffnet wurde, machte ich mir unruhige Gedanken darüber, wie nun alles weitergehen würde.

Aber zunächst einige Erinnerungen.

Im September 1953 rückten wir ganz in der Nähe, Schönfließer Straße, als junge Menschen im Institut für Berufsschullehrerausbildung ein und schlossen die Ausbildung im Juli 1956 ab. Nach fünf Jahren Arbeit in der Berufsausbildung wurde mir 1961 die Leitung der Betriebsakademie des Binnenhandels im Altkreis Gransee übertragen. Im Juli 1987 mußte ich wegen chronischer Bronchitis den Beruf aufgeben und wurde Invalidenrentner.

Kurz vor meinem 60. Geburtstag erhielt ich für den 9. Juli '87 eine Einladung zum 90. Geburtstag meiner Tante nach Lunestedt bei Bremerhaven. Ich beantragte eine Besuchserlaubnis. Die Zustimmung meiner Wohnparteiorganisation bekam ich erst nach einigen Schwierigkeiten. Auch meiner Frau wurde die Reise genehmigt. Während der Hinfahrt geschah in unserer Heimatstadt Fürstenberg/Havel folgendes: Ein Wachposten der Sowjetarmee hatte während seines Dienstes im Objekt Drögen auf zwei Jugendliche geschossen und sie tödlich getroffen. Beide Jungen aus einer am Objekt wohnenden Familie waren auf der Suche nach Schrott, um sich ein zusätzliches Taschengeld zu machen. Als wir bei unseren Verwandten ankamen, waren die Zeitungen voll von Berichten über dieses Ereignis, worunter auch die Geburtstagsfeier litt. Ich sollte sagen, wie es dazu kommen konnte, wußte aber nicht mehr als meine Verwandten auch. Später erfuhr ich: Es hatte ein junger Posten Dienst, der neu im Objekt war, von dem dort üblichen Schrottsammeln nichts wußte und auf die Jungen geschossen hatte.

In Bremerhaven entdeckte ich an einem Werkgebäude angemalte Hakenkreuze. Ich war erschrocken und fragte meinen Cousin David danach. Er antwortete, darum solle ich mir keinen Kopf machen, das wäre hier nichts Neues.

Auf die Frage von befreundeten Hausnachbarn, ob wir nun in der BRD bleiben würden, antworteten meine Frau und ich, unser zu Hause sei in Fürstenberg und nicht hier. Über diese Antwort waren die Hausnachbarn nun wohl auch erschrocken.

Später, kurz vor dem Mauerfall, hatten wir unsere Verwandten zu Besuch eingeladen, denn meine Frau feierte ihren 60. Geburtstag und schied aus dem Arbeitsprozeß im Werk Schiffselektronik Rostock, Betriebsteil Fürstenberg, aus. Bei der Ankunft gab es Diskussionen über die nun mal nicht angenehmen Grenzkontrollen. Wir feierten in der HO-Gaststätte „Wintergarten“. Die Feier hat allen gefallen - wie auch die schöne Wald- und Seengegend um Fürstenberg herum. Als wir dann bei einem Ausflug nach Falkenthal in der Dorfgaststätte zu Mittag aßen, war meine Cousine Ruth beeindruckt davon, daß Kinder dort ihr Schulessen einnahmen. Sie interessierte sich sehr für die sozialen Verhältnisse. Ich berichtete von Kinderkrippen, Kindergärten und Hortbetreuung, auch von der Altenbetreuung durch die Volkssolidarität. Das Seeschloß in Liebenberg konnten wir nicht besichtigen, dort weilten noch Politbüromitglieder der SED zur Erholung. Ich greife jetzt vor: In der zugespitzten Situation Ende 89 wurde das Schloß umstellt; beim Eindringen stellte man aber fest, daß sich niemand mehr im Objekt befand. Der Pfarrer, Herr Gabriel aus dem Nachbardorf Grüneberg, machte den Vorschlag, sich mit Vertretern der SED-Kreisleitung Gransee an einen Tisch zu setzen, um über die Situation im Schloß zu sprechen, aber dies wurde von den Genossen der Kreisleitung strikt abgelehnt.

Als unsere Verwandten im Oktober wieder abreisten, war die Lage gespannt, aber niemand ahnte, was dann im November geschehen würde.

Was waren nun meine Gedanken, wie es nach der Maueröffnung wohl weitergehen würde?

Wie würden sich die beiden grundverschiedenen Gesellschaftssysteme annähern? Wird es eine langsame Annäherung über einen längeren Zeitraum geben, oder eine schnelle, bei der unüberlegte Handlungen zu Ungunsten von uns, den gewesenen DDR-Bürgern, ausfallen würden?

Die Annäherung wurde im Hau-Ruck-Verfahren durchgeführt. Zuerst brach in unserer Kleinstadt die Wirtschaft zusammen, die Betriebe machten zu. Der VEB Schiffselektronik Rostock, Betriebsteil Fürstenberg, Arbeitgeber der meisten Familien im Ort, wurde geschlossen. Das Kraftfuttermischwerk, welches die LPG und VEG versorgte, mußte seine Arbeit einstellen. Zwei Bekleidungswerke, wo vor allem Frauen arbeiteten, konnten sich auch nicht halten. Nie gekannte oder gefürchtete Arbeitslosigkeit setzte ein.

Man traf sich mit diesem oder jenem Berufskollegen, die bald auch nicht mehr im Dienst waren, denn Berufsschulen und Betriebsakademien für die Erwachsenenbildung konnten sich auch nur noch kurze Zeit über Wasser halten. Eine Ausnahme ist mir bekannt: ein ehemaliger Studienkollege verstand es, in Stralsund die Betriebsakademie bis 1994 weiter zu führen. Ein gewesener Berufsschullehrer (Gesellschaftswissenschaften) aus Fürstenberg erzählte mir von der Begegnung mit einigen ehemaligen Schülern, die inzwischen arbeitslos wurden. Sie meinten, wir hätten im Unterricht doch besser hinhören sollen. Jetzt wissen wir, was es heißt, arbeitslos zu sein und nicht mehr gebraucht zu werden.

Wir kamen auch auf die SED-Parteiarbeit der letzten Zeit zu sprechen und er berichtete kurz über seinen Austritt. Ich sagte: „Was, du auch?“ „Ja.“ Beide waren wir zu der Erkenntnis gekommen, daß die in letzter Zeit gefaßten Beschlüsse mit der realen Lage nichts mehr zu tun hatten. In der Grundorganisation waren nur noch solche Mitglieder angesehen, die das vertraten, was vom Politbüro kam. Eine andere Meinung galt nicht.

Da ich zur Wendezeit bereits Invalidenrentner war, erhielt ich bis Mai 1993 Erwerbsunfähigkeitsrente. Die Bescheide zum 1.1. und 1.6. des jeweiligen Jahres brachten Rentenerhöhungen von 0,01 bis 0,02 DM. Mein zorniger Protest bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte blieb ohne Wirkung. Erst 1995 erhielt ich auf meinen im März 1992 eingereichten Antrag hin die mir zustehende Altersrente mit Nachzahlung. Mir fiel auf, daß im Rentenbescheid vom „Beitrittsgebiet“ die Rede ist, in dem der Rentenwert deutlich niedriger war (und heute noch ist) als im alten Bundesgebiet. Ja, gehen wir denn nun von 1989/90 an gleichberechtigt in die Zukunft oder bleiben die Unterschiede zwischen Alt- und Neubundesbürgern bestehen? Warum wird z. B. ein Busfahrer unabhängig von seiner Leistung in den alten Ländern deutlich höher bezahlt als in den neuen? Sind die Menschen im Osten geringwertiger?

Wir Neubundesbürger sind in der Lage, stets Vergleiche anzustellen: Wie war es in der DDR und wie ist es jetzt? Zum Beispiel in der Berufsausbildung.

Ich hatte mehrfach Gelegenheit, mit ehemaligen Schülern unserer Bildungseinrichtung ins Gespräch zu kommen. Das Wiedersehen war freudig, denn es bestand ein gutes Verhältnis zwischen Schülern und den nebenberuflich unterrichtenden Lehrkräften, die meist aus HO- Betrieben (Staatlicher Einzelhandel) oder solchen der Konsumgenossenschaft kamen. Beide Handelseinrichtungen mußten nach der Wende bald ihre Tätigkeit einstellen. Es gab einige positive Berichte von ehemaligen Schülern, die bei ALDI, NEUKAUF, PLUS usw. Beschäftigung gefunden hatten. Der größere Teil, zumeist junge Frauen, nahm an Umschulungen und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen teil. Auf die Frage, was das gebracht hatte, war die Antwort: wenig und gar nichts, denn eine Vollbeschäftigung kam nicht zustande.

Gesprächsweise erfuhr ich, daß Berufskollegen aus Altbundesländern einschätzten, die Berufsausbildung in der DDR sei besser organisiert gewesen. Ich meine, das hatte auch mit der Vorbereitung auf den Beruf an den Oberschulen zu tun, also etwa mit dem polytechnischen Unterricht. Dann gab es den Unterrichtstag in der Produktion, wo Schüler Betriebe kennenlernen und selbst entscheiden konnten, ob sie dort arbeiten wollten oder auch nicht. In den Schulen gab es Lehrer, die den Schülern als Berufsberater zur Seite standen. Diese Kollegen standen mit der Berufslenkung beim Rat des Kreises in Verbindung. Wenn Schüler in die Berufsausbildung aufgenommen wurden, so hatten die Betriebe den Lehrvertrag und nach erfolgreichem Abschluß der Lehre einen Arbeitsvertrag abzuschließen. Es gab nur wenige Lehrlinge, die den Lehrabschluß nicht schafften.

Wie ist es heute?

Nach Abschluß der Schule schreiben die Schüler viele Bewerbungen und bekommen zumeist Absagen. Damit sind sehr viele schon für die Arbeitslosigkeit vorprogrammiert. Durch das Wegbrechen der Betriebe wird die Misere in der Berufsausbildung besonders groß. Die jungen Menschen versuchen dann in den Altbundesländern ihr Glück oder tragen sich mit dem Gedanken, auszuwandern.

 

* * *

 

Es war im Frühjahr 1993, als ich in der Ruppiner Schweiz mit einem Enkelkind im Kinderwagen durch den Wald fuhr. Plötzlich gab es sehr laute Geräusche, die das Kind und auch mich erschreckten. Es waren Tornado-Kampfflugzeuge der Bundeswehr. In den nächsten Tagen las ich in der „Neuruppiner Zeitung“, daß die Bürgerinitiative „Freie Heide“ die nächste Wanderung zur Schießplatzgrenze ab Gühlen-Glienicke durchfuhren wurde. Ich fertigte mir ein Transparent an mit dem Text: „Freie Heide ohne Bundeswehr, ohne Rühe-Jansen, ohne Tornados!“ Am angekündigten Septembersonntag fand ich mich dann zum Treff in Gühlen-Glienicke ein. Ohne zu wissen, daß das Fernsehen dabei war, wurde ich mit meinem Transparent aufs Korn genommen.

Auf dem Platz an der Schießplatzgrenze stand ich plötzlich in der Nähe von Frau Regine Hildebrandt, deren Teilnahme von der Zeitung angekündigt worden war. Ich kam mit ihr ins Gespräch und überreichte ihr ein paar Blümchen, wofür sie sich bedankte. Sie wollte wissen, ob ich das Transparent auf dem langen Weg getragen hatte; ich bejahte. Verlegen wie man ist, wenn man mit einer Ministerin spricht, sagte ich zu ihr: „Frau Hildebrandt, ich finde, Sie können schneller sprechen als ein Maschinengewehr schießt!“ Ich nahm an, sie sei darüber verärgert, aber nein, sie plauderte weiter. Ein weiteres Mal traf ich Frau Hildebrandt, als sie bei uns in Fürstenberg eine Buchlesung durchführte. Ich lud sie zur nächsten Wanderung der Burgerinitiative ein. Sie schrieb mir dann eine Karte, daß sie verhindert sei.

In diesem Jahr 2002 besteht die Burgerinitiative zehn Jahre. Worum geht es?

Der Konflikt um das 14 000 ha große Areal begann kurz nach dem Zweiten Weltkrieg.

1946/47: Abholzung für Reparationszahlungen, danach Besetzung durch die Sowjetarmee.

1952/53: Beginnende Militärübungen mit Panzern. 25 000 Bombenabwurfe pro Jahr.

1993: Mit dem Abzug der russischen Truppen beschloß die damalige Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP, das Gelände durch die Bundeswehr weiter zu nutzen. Bald flogen erste Militärflugzeuge über die Heide, und das bis heute.

1995 übergibt die Bürgerinitiative 22 400 Unterschriften gegen das Bombodrom an den Potsdamer Landtag. Die Dörfer Schweinrich und Rossow klagen vor dem Verwaltungsgericht Potsdam und bekommen Recht.

Am 09.08.94 nahm ich an der Protestwanderung in Gadow teil. Dort trat der damalige Kanzlerkandidat Rudolf Scharping auf. In seiner Rede erklärte er, im Falle eines Wahlsiegs werde dieser Truppenübungsplatz verschwinden. Nach seiner Rede stieg er vom Hänger herab und geriet ins Gedränge der Demonstanten. Unmittelbar vor meinem Transparent kam er zum Stehen. Ich konnte in seinem Gesicht die blanke Angst erkennen, ihm konnte etwas passieren.

Welche unrühmliche Rolle er als Minister spielte und wie er die Bürgerinitiative im Stich ließ, ist allgemein bekannt und Schnee von gestern.

Ihre Kraft ziehen die Schießplatzgegner aus ihren Lebenserfahrungen. Im Laufe der Jahre lernte ich viele kennen. Herr Pfarrer Schirge ist seit zehn Jahren der Sprecher der Freien Heide und ein vorzüglicher Redner. Mein Bekannter Horst Bredlow aus Basdorf mußte 1945 als Vierzehnjähriger helfen, Massengräber für Kriegstote auszuheben. In das Haus von Brigitte Kühn, die alle erforderlichen Büroarbeiten erledigt, schlug 1954 eine sowjetische Panzergranate ein, die zum Gluck nicht explodierte. Frau Friederich ist über Ländergrenzen hinweg durch das Fernsehen bekannt geworden. Sie gilt als Mutter der Freien Heide und hält in hohem Alter zündende antimilitaristische Reden. Alljährlich treffen wir uns am 1. Osterfeiertag in Fretzdorf bei Wittstock. 2002 kamen etwa 6 000 Bürger, darunter viele Auswärtige, z. B. aus Bremen und Hamburg. Ich lernte Familien aus der Wittstocker Gegend und auch eine aus Berlin-Bohnsdorf kennen. Im Gespräch fühlt man sich bestätigt, fühlt sich unter Gleichgesinnten und gewinnt neue Stärke.

 

Der Autor in der Gedenkstätte Ravensbrück (1999) 

An diesem Ostertag trug ich mein Transparent „Keine Arbeitsplätze fürs Bombodrom - Tourismus soll boomen!“ Als Redner trat auch Dr. Wolfgang Ullmann, ehemals Bundestags- und Europaabgeordneter, auf. Er sprach von einer breiten Friedensbewegung gegen jeden Krieg. Meine Gedanken waren: könnte sich nicht aus der „Freien Heide“ die größte Friedensbewegung ganz Deutschlands entwickeln?

Als ich im August 1945 lebend aus dem Krieg und mit 18 Jahren aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft kam,, hieß es: „Nie wieder Krieg, nie mehr ein Gewehr in die Hand nehmen!“ Warum sollte diese Losung heute nicht mehr gelten?

Wir hoffen und wünschen uns, daß die neu gewählte SPD-Regierung ein klares „Nein“ zum Bombodrom spricht!

Eine neue Bürgerinitiative „Unter freiem Himmel“ aus der Müritz-Strelitzer Region hat sich im letzten Jahr der „Freien Heide“ angeschlossen. Sie lehnt die militärische Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide bedingungslos ab.

Schön wäre es, wenn sich auch der Kreis Oberhavel entschließen konnte, mitzumachen. Dann könnten Landrat Gilde vom Kreis Ostprignitz-Ruppin, der bei keiner Wanderung fehlt, mit seinem Amtskollegen Landrat Karl Heinz Schröder gemeinsam demonstrieren.

Unter dem Motto „Rentner haben niemals Zeit“ besuche ich auch die wichtigsten Veranstaltungen in der Mahn- und Gedenkstätte Fürstenberg-Ravensbrück. Ich könnte sehr lange und viel darüber berichten, auch über das Schicksal der Tochter von Dr. Frank, unserem Hausarzt  aus meinem Geburtsort Briesen. Ihr Name, Doris Maase, war mir in der ständigen Ausstellung der Gedenkstätte aufgefallen und ich stellte Nachforschungen über sie an, befragte Frau Müller, die Ehrenvorsitzende der Lagergemeinschaft, die sich gut an Doris erinnerte, und konnte brieflichen Kontakt zu ihrem hochbetagten Mann aufnehmen. Ich erfuhr:

Doris studierte Medizin in Berlin, bis sie als Kommunistin und Halbjüdin relegiert wurde. Nach ihrem Examen in Basel war sie zusammen mit ihrem Mann in Düsseldorf für die illegale KPD tätig. 1935 wurden beide verhaftet und zu drei Jahren Zuchthaus wegen Hochverrats verurteilt. Nach Verbüßung der Strafe kam sie in ein Lager in Torgau und nach dessen Eröffnung in das KZ Ravensbrück, wo sie sich als wegen ihrer Herzensgüte hochgeschätzte Häftlingsärztin nach besten Möglichkeiten für die leidenden Frauen einsetzte. Von ihrem Mann wurde während seiner Haftzeit verlangt, er solle sich von ihr trennen, was er nicht tat. Es gelang dann der Mutter von Doris mittels eines sehr geschickt lancierten Bittbriefes an die Reichsführung der SS, 1941 die Entlassung ihrer Tochter zu bewirken. Doris Maase wirkte später in der BRD als Stadtverordnete und trat öffentlich gegen den bekannten NATO-Doppelbeschluß zur Raketenbewaffnung auf.

Eine hervorragende Arbeit leistet der Förderverein unter der Leitung des Vorsitzenden Herrn Appel und seiner Stellvertreterin Frau Tunn. Im letzten Zeitungsartikel berichtet Frau Tunn vom Treffen mit einem Invalidenverein in Simferopol (auf der Krim), von dessen 185 Mitgliedern 58 Frauen in Ravensbrück inhaftiert waren und nun vom Förderverein durch Hilfeleistungen betreut werden. Unter ihnen sind Alleinstehende, Behinderte und Bettlägerige. Sie müssen auf einen Platz im Altersheim 5-7 Jahre warten und führen ein trostloses Leben. Mein Berufskollege Herr Heike ist bei den Treffen immer dabei und macht Foto- und Videoaufnahmen. Er lädt mich stets zu den Zusammenkünften des Fördervereins ein.

Im vorigen Jahr hatte die Gedenkstätte Ende Januar 2001 zu einer Wanderung von Ravensbrück nach Steinförde eingeladen. Es war der Weg des Todesmarsches der Häftlingsfrauen von 1945 nach Aufgabe des Lagers durch die SS.

Den Rückweg traten wir mit Bussen an. Neben mir saß der Europaabgeordnete der PDS Helmuth Markow aus Hennigsdorf, mit dem ich ins Gespräch kam. Ich fragte ihn, wie es ihm in Brüssel gefalle. Er antwortete: Gut. Es gäbe dort unter den Abgeordneten ein kameradschaftliches Zusammenarbeiten, nicht den Hick-Hack der Parteien gegeneinander wie im Potsdamer Landtag.

Am 28.04.01 hatten wir im Fürstenberger Schloß - jetzt Altenheim - eine Diskussion über die Problematik Rechtsradikalismus. Anwesend waren auch überlebende Häftlingsfrauen. Im Podium saßen die Vertreterinnen der Parteien SPD, CDU, PDS und GRÜNE aus dem Land Brandenburg. Unter anderem ging es um die antifaschistisch-demokratische Ordnung in der gewesenen DDR. Die Vertreterinnen der SPD und der PDS vertraten die Meinung, daß damals die antifaschistische Erziehung in den Schulen insofern Wirkung zeigte, als es zu rechtsradikalen Exessen Jugendlicher, wie wir sie heute ständig erleben müssen, kaum kam. Die Vertreterin der CDU, Frau Ministerin Wanka, machte dagegen geltend, der Antifaschismus in der DDR sei doch nur von oben angeordnet gewesen. Mit dieser Meinung konnte ich mich ganz und gar nicht einverstanden erklären.

Wir Lehrer aus meiner Generation, die wir in Oberschulen und Berufsschulen unterrichteten, erlebten den Faschismus zwar als Kinder und Jugendliche, aber konnten sehr wohl eigene Erlebnisse in den Lehrstoff einfließen lassen. Wir waren Zeitzeugen, und wir sind es heute noch! In der Schule wurden wir systematisch auf den Hitlerkrieg vorbereitet. Wir mußten lernen, das deutsche Volk sei ein „Volk ohne Raum“ und müsse sich ausdehnen, was dann im Krieg in alle vier Himmelsrichtungen geschah. Wir gehörten angeblich einer Herrenrasse an und müßten anderen Völkern - besonders den minderwertigen im Osten - als arisch-germanische Herrenmenschen entgegentreten und sie beherrschen! Der Dienst im Jungvolk der Hitlerjugend war ab 10 Jahren Pflicht. Er bestand in hohem Maße aus vormilitärischen Übungen wie Exerzieren, endlosen Märschen und Kriegsspielen. Wir sollten „flink wie die Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl“ werden und unserem „Führer“ treu ergeben sein. Die „Volksgemeinschaft“ galt als „Blutsgemeinschaft“, der wichtigste Sinnspruch hieß „Blut und Ehre“. Die Geschichts- und Jugendbücher stempelten die deutschen Soldaten zu den besten der Welt. Mit diesem geistigen Rüstzeug zogen die jungen Soldaten der Wehrmacht in den von Hitlerdeutschland zielstrebig herbeigeführten Zweiten Weltkrieg, in dem die Welt „am deutschen Wesen genesen“ sollte. Das Ende ist bekannt, und die Überlebenden meiner Generation erlebten es als Kriegsgefangene. Heimkehrend fanden sie ein zerstörtes Deutschland ...

Unseren konsequenten Antifaschismus mußte uns niemand verordnen!

In der Diskussion meldeten sich auch die Ravensbrückerinnen zu Wort. Sie stellten die Frage, warum es nicht gelingt, die NDP, Republikaner und andere faschistisch geprägte Parteien zu verbieten. Selbst unser neuer brandenburgischer Ministerpräsident Platzeck erklärte neulich, er habe Achtung vor unseren Gerichten, könne aber nicht verstehen, daß der verbotene Aufmarsch der NDP in Potsdam im letzten Augenblick dann doch noch vom Gericht genehmigt wurde. Man muß das erst einmal verkraften: sie demonstrierten dafür, daß man keine russischen Juden mehr nach Deutschland einreisen läßt! Und das nach den von deutschen Faschisten begangenen, durch nichts zu sühnenden Verbrechen des Holocaust!

Zum Abschluß möchte ich sagen: Wir hätten schon viel erreicht, wenn die Forderungen der „Freien Heide“ und die der Ravensbrückerinnen in Erfüllung gingen. 


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