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Interview mit Frank Schreiber

Ich wurde ein doppelt freier Lohnarbeiter

Seit mehr als 20 Jahren ist Frank Schreiber Funkamateur. In dieser Eigenschaft war der gelernte Schlosser 1989 hauptamtlicher Vorsitzender der Betriebsorganisation der Gesellschaft für Sport und Technik im volkseigenen Gummiwerk, einer Fabrik für Sport- und Hausschuhe, in der zu dieser Zeit mehr als tausend Schönebecker und Vietnamesen arbeiteten. Er berichtet über die Tage nach der Maueröffnung:

Die SED und die anderen Organisationen mußten gemäß den Forderungen der Straße ihre Tätigkeit in den Betriebsgruppen einstellen. Damit war ich praktisch meinen Arbeitsplatz los. Eine neue Arbeit wurde mir im Lager zugewiesen. Meine direkten Arbeitskollegen verhielten sich normal zu mir, obwohl sie natürlich wußten, dass ich zu den ,Roten’ - den ersten Betroffenen der Wende - zählte.

Besonders auffällig war das Verhalten einer Meisterin. Sie hatte wahrscheinlich wie alle Meister in der sozialistischen Produktion darunter gelitten, lediglich Handlanger der Betriebsleitung zu sein. Noch vor Weihnachten '89 wendete sich das Blatt, jedenfalls nach meinen Erfahrungen. In meiner Umgebung entsannen sich die Meister der Macht, welche ihr Stand in der ersten Jahrhunderthälfte in deutschen Betrieben besaß. Mobbing wäre wohl heute der zeitgemäße Ausdruck dafür, doch mit meinem Background fiel mir damals nur ein Spruch aus FDJ-Zeiten ein: ,Bei uns ist jeder zu gebrauchen - und wenn es nur als schlechtes Beispiel ist!’

Weihnachten kamen zwei alte Freunde zu Besuch, die sich im Sommer über Ungarn davon gemacht hatten und jetzt in Lüneburg wohnten. Sie haben mir dort praktisch Quartier gemacht. Drei Tage fuhr ich von Haus zu Haus mit dem Lieferfahrzeug eines bekannten Vertreibers von Tiefkühlerzeugnissen. Als ich nach drei Tagen in fremden Städten und unter völlig fremden Lebensumständen das erste Mal darüber nachdenken konnte, was ich hier mit diesem Auto mache, für einen Monatslohn, der gerade doppelt so hoch war, wie die Miete für mein möbliertes Zimmer, kündigte ich auf der Stelle.

Ich kam vom Regen in die Traufe. Ich, 100 Kilo schwer bei 1,74 Meter Höhe, blond aber fast ohne Haupthaar - also beinahe so wie Meister Propper - war zusammen mit meinem Trabbi binnen kurzem der bekannteste Autowäscher in Lüneburg. Ich Ossi war die beste Werbung des Autohauses. Freitags durfte ich vor der Heimfahrt in den wilden Osten zur Freude der Kunden und Angestellten kostenlos ein Schauwaschen mit dem Trabbi veranstalten. In der Erinnerung blieben mir aus jener Zeit zwei Dinge: Erstens muß ich damals in Lüneberg einen ungeheuren Bekanntheitsgrad gehabt haben. Zweitens hat mich diese Zeit gelehrt, was Marx mit einem ,doppelt-freien Lohnarbeiter’ meinte. Dieses Wissen hat mich nie wieder verlassen und seitdem hielt mich keine Erfahrung mit der DDR-Ferienorganisation davon ab, aktive Gewerkschaftsarbeit zu leisten.

Bald bekam ich ,anständige’ Arbeit bei einem Autozulieferbetrieb. Mit anständig meine ich ortsüblichen Lohn bei normalen Arbeitsbedingungen. Dennoch hatte alle Welt immer noch ihren Spaß mit dem Trabbi. Als nach einem halben Jahr meine Probezeit endete und ich eine Festanstellung erhielt, bestellte ich mir einen FIAT-Uno. Meine Kollegen waren traurig, dass sie nun nicht mehr mit dem Zwickauer Schaufahren konnten.

Am 3. Oktober 1990 standen drei ehemalige Schönebecker auf einem Lüneburger Balkon. Inmitten der Böllerschüsse von Feuerwerk und Sektflaschen liefen mir die Tränen übers Gesicht und die anderen verstanden nicht warum.

(Interviewer: Ekkehart K. Heisig) 


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