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Michael Röber
„Wat'n Opa, bist och abjehaun?“
Ich habe mir heute „Kleidermann“ aufgelegt und lausche dem „Liebestraum“ von Liszt.
Ganz nebenbei klopft auch noch der milde Sommerregen ans Fenster und versetzt mich in heimelige Spätabendschreibstimmung ...
Mein Gewissen ruft die kleinen Sünden ins Gedächtnis.
„Micha, alter Junge, Du schreibst doch auch am Band V „Spurensicherung“ mit oder?“
Manfred, mein ergrauter, manchmal grollender aber ehrlicher Lokalredakteur aus früheren Zeiten war’s, der mich nunmehr auch in die Jahre Gekommenen bereits vor Monaten anrief und mich bat, wieder, wie im 3. Band, als „Zeitzeuge“ einen Beitrag zu schreiben.
Welche Schreibform wähle ich?
Während ich gerade beim Tippen dieser ersten Sätze bin, ruft mich mein Kollege Michael D. an, um sich für die kleine „Geburtstagsaufmerksamkeit“, die ich ihm in der zurückliegenden Nacht während unseres Schichtdienstes zu seiner Überraschung bereitete, zu bedanken. Ganz nebenbei fragt er, was ich gerade treibe und ich erkläre ihm mein begonnenes Schreibvorhaben.
„Micha, das ist doch prima, schreib über Deine interessanten Erfahrungen!“
„Kleidermann“ ist gerade bei „Yesterday“, dem 11. Stück auf der CD, angekommen. Mein Kopf beginnt verrückt zu spielen. Wo fange ich an?
Jeder meines 47er Jahrganges mit typischer DDR-Biographie hat in den zurückliegenden 13 Jahren seit der „Wende“ tiefe persönliche und familiäre Einschnitte erlebt. Wurden nicht mehr als tausend Tränen geweint und hunderte seither gelacht? Viele sind von uns gegangen und manche wurden geboren, die morgen unsere Welt überall menschenwürdig gestalten werden! Unsere Zukunft! ...
Nein, jetzt nicht mit Philosophieren beginnen! Wen interessiert überhaupt, was ich zu sagen habe?
Vielleicht meinen Enkelsohn, der am Wahlsonntag, dem 22. September 2002, 24 Monate jung wird?! Er schläft z. Z. in unserer deutschen Hauptstadt Berlin den „Schlaf des Gerechten“, währenddessen die Gedanken über das „Gestern“ und „Hier und Heute“ Opas Kopf zu sprengen drohen.
Genau, meine gewählte Schreibform in diesem Band werden nicht fortführende Tagebuchnotizen eines ewigen „Studenten“, sondern ein noch nicht abgesandter „Brief an meinen Enkelsohn Alexander“ sein.
„Memory“ ist der letzte laufende Titel auf der Kleidermann-CD. Der Titel passt, ich beginne meinen Brief an Dich zu schreiben.
Hallo, mein lieber von den Erwachsenen noch unverdorbener kleiner Alex, wenn Du wüsstest, wie stolz Opa und Oma auf Dich kleinen Erdenbürger sind und welche Zukunftserwartungen sie mit Deinem wachsenden Dasein verknüpfen! Schade nur, dass Du so weit von uns entfernt wohnst und es immer bei Deiner Abreise viele Abschiedstränen gibt. Was oft sehr schmerzhaft für die „gebeutelte“ Seele ist.
Keiner weiß, wie lange wir auf diesem schönen blauen Planeten Erde leben dürfen.
Deshalb schreibe ich Dir schon heute einen Brief, obwohl Du kleiner Irrwisch erst beginnst, Deine Umwelt stündlich neu zu entdecken und in Unruhe zu versetzen. Es wird nicht all zu lange dauern und Du wirst mit Deinem berlinerischen Dialekt fragen:
„Opa, biste och abjehau'n?“
Gute Frage!
Weißt Du Alexander, dazu gäbe es viel zu schreiben und ich hoffe es Dir in Zusammenhängen einmal erklären zu dürfen. Nur so viel:
Bis zur Wende waren auch wir eine Familie, die harmonisch zusammenlebte und räumlich nicht getrennt gewesen ist.
Mit der Wende wurde ich auf die, wie man es damals formulierte, „Warteschleife“ gesetzt, weil ich, wie es so schön hieß „staatstragende Funktionen ausübte“. Klingt machtgewaltig! Ist es aber keineswegs gewesen.
War u. a. Leiter des Büros beim Betriebsdirektor, Direktor für Sozialökonomie. Verlor gleich drei Tage nach der „deutschen Einheit“ meinen Arbeitsplatz als Sachbearbeiter für Materialwirtschaft! Über Berufsverbote wirst Du hoffentlich noch manches in den Geschichtsbüchern nachlesen können, wenn Du es möchtest!
Nein, nein Alexander, Dein Opa hat keinen Menschen seelisch vernichtet, bespitzelt, körperlich umgebracht, bestohlen oder ehemalige Mitarbeiter entlassen. Trotz dem musste ich, wie Millionen auch, nach neuer Arbeit suchen. Es waren gesellschaftsbedingte Umbruchzeiten.
Plötzlich war alles schlecht in der damaligen DDR, und wer in diesem Staat Verantwortung trug, war in diesen Wochen und Monaten lange in Frage gestellt Manche waren es auch zu Recht!
Ich weinte oft für mich ganz allein, wie Du, wenn Du abends nicht ins Bettchen willst!
Fragte mich oft „Was hast Du nur verbrochen? War denn alles falsch, was Dir Deine Eltern, Lehrer und Vorgesetzten vermittelten und Du selbst an Erfahrungen gesammelt hattest?“ Nun gut, ich habe Dir ja die vier Bände „Zeitzeugen“ schon für später zur Seite gelegt. Dann kannst Du nach dem Lesen beginnen, Dir Dein Urteil über das „Gestern“(DDR) zu bilden.
Mit dem 3. Oktober 1990 war auch ich in der Bundesrepublik Deutschland juristisch angekommen und unverschuldet ohne Arbeit hart auf der „Neuen Sonnenallee“ gelandet.
Eine völlig neue Erfahrung, plötzlich nicht mehr gebraucht zu werden. Lehre, Studium, über zwei Jahrzehnte Arbeitserfahrung, alles sollte umsonst gewesen sein? Erspartes hatten wir nicht, weil 1986 alles „Kleingeld“ für den ersten neuen „Trabbi“ drauf ging! 15 lange Jahre sparten wir dafür. Mußten solange darauf warten. Privilegien hatte Opa trotz der sogenannten „staatstragenden Stellung“ keine!
Ob ich zum Arbeitsamt gegangen bin, willst Du wissen? Nein!
Vielleicht war ich zu stolz, zu dumm oder gar zu feige. Ich glaube, es war von jedem etwas?!
Heute fehlen mir drei Monate Arbeitsnachweis für die spätere Rente. Ich dachte, Ideen, Kraft und Willen habe ich und werde so Arbeit in Z. finden. Glaubte ich ... Wollte einen Reformladen eröffnen. Etwas Gutes für Menschen anbieten. Am gesellschaftlichen Umbruch vor Ort mithelfen.
Alexander, das ging aber voll in die Hose!
Den dazu benötigten Laden hatte mir bereits der ehemalige Chef eines Handelsunternehmens zugesagt, er wurde aber über Nacht wieder für Andere(s) verwendet! Ein zweiter Versuch scheiterte, weil Opa nicht das nötige Kleingeld hatte, um die Pacht im Voraus zahlen zu können. Über Bankkredite wollten wir uns nicht verschulden.
Ja mein kleiner Spatz, und so fragte ich an jenem denkwürdigen schwülwarmen Abend des 30. Juli 1991 Deine Oma: „Wie stellst Du Dir die Zukunft vor?“
Unvergessen bleibt für mich ihre Antwort. Sie war kurz, trocken, herzlich, wie Oma eben so ist: „Mit Dir gemeinsam alt werden!“
„Ich auch, doch in dieser Nacht werde ich Dich und die Kinder verlassen! Ich suche Arbeit und für uns ein neues zu Hause. Entweder es klappt oder ich ...“
Opa war damals sehr verzweifelt! Wollte um keinen Preis in die Arbeitslosigkeit. Davor hatte (habe) ich einen Horror.
Von einem Freund Deiner Mutti habe ich den Wartburg-Kombi geliehen, um darin schlafen zu können. Das notwendige Reisekleingeld war äußerst knapp bemessen.
Im Gepäck hatte ich meine alte Schreibmaschine, einen Anzug, Luftmatratze zum „Pennen“ und meine Gitarre. Mit 43 Jahren ging ich, wie zu Zeiten meines verstorbenen alten Herrn, Deinem Urgroßvater, ebenfalls auf Wanderschaft gen Süden! Duplizität der Ereignisse nennt man das wohl? Als ich am nächsten Morgen gegen 11.00 Uhr am heutigen Wohnort ankam, fühlte ich, dass dies ein schöner Flecken Erde ist, wo man leben und arbeiten konnte.
Ich kam voller Optimismus und aufgeregter Erwartung in Süddeutschland an. Will nicht verschweigen, dass ich mich wahrend durchfahrener Nacht richtig „ausgeheult“ hatte. Auch Opas dürfen weinen ...
Nun weißt Du Alexander, wann und warum wir umgezogen sind und nicht kopflos „Reißaus“ machten.
Dies mussten wir auch nicht, denn wir fühlten uns länger als 20 Jahre in Z. sehr wohl. Sind also nicht einfach „abjehau’n“, wie es vielleicht im ersten Moment von mir und unserem Weggang in den Westen überraschte und enttäuschte Menschen in Z. dachten. Deshalb leben wir heute knapp tausend Kilometer von Dir und Deinen Eltern entfernt.
An dieser Stelle fällt mir doch gerade noch ein früherer DDR-Witz ein. Den schreibe ich Dir gleich mit, weil er Dir die Kompliziertheit unseres Neuanfangs in S deutlich macht.
Fritz sagt zu seinem Gartennachbarn:
„Hans, weißt Du schon, es gibt in der DDR keine Spaten mehr zu kaufen.“ „Wieso nicht???“, fragt Hans entgeistert zurück. Da antwortet Fritz mit grinsendem Gesicht: „Na die graben doch jetzt alle Ihre Westverwandtschaft aus!“
Schizophrenie des DDR Systems.
Man sah es nicht gerne, wenn man Kontakte zu seinen Verwandten oder Ferienbekanntschaften hielt. Dies brachte unnötiges Mißtrauen unter die Menschen und zwischen ihnen und den damals Regierungsgewaltigen.
Oma und Opa hatten keine Westverwandtschaft.
Du kannst Dir vorstellen, dass unser Neuanfang in völlig neuer Umgebung mit alemannischen, zum Teil schweizer-deutschem Dialekt und auch ganz anderem, interessanten Brauchtum, nicht einfach gewesen ist.
Wie ich im „alten Bundesland“ aufgenommen wurde, willst Du wissen?
Mein erster Kontakt bestand darin, dass ich meinen geliehenen Wartburg-Kombi auf einem Parkplatz abstellte, um bei einem Makler zwecks Wohnungsvermittlung vorzusprechen.
Als ich nach einer Stunde zurückkam, klemmte ein Blatt Papier unter meinen Scheibenwischern, worauf geschrieben stand:
„Das ist ein Privatparkplatz. Wenn sie innerhalb von 20 Minuten nicht weg sind, rufe ich die Polizei! Der Eigentümer.“
Ich war verwundert, denn dort waren viele Parkplätze und ich stand als Einziger auf einer unmarkierten Fläche.
Das war aber nicht die letzte Begebenheit an jenem 31. Juli 1991. Ich ging nun doch zum Arbeitsamt. War hoffnungsvoll, Arbeit vermittelt zu bekommen. Mir war völlig egal was, Hauptsache Arbeit. Im Wartezimmer saß mir gegenüber ein junger großer, kräftiger Bursche mit imposanter Zimmermannskluft. Irgendwie empfand ich Mitleid mit ihm. Dachte, wieso muss ein im besten Alter stehender Mensch arbeitslos sein. Wie es so Opas Art ist, wollte ich wissen, ob er auch auf Arbeitsuche sei.
„I wo, ich mach erst mal ein Jahr arbeitslos und Urlaub. Arbeit kriege ich immer!“
Für Minuten war ich sprachlos.
Hakte verhalten aber dann doch etwas ironisch fragend nach: „Wie alt sind Sie denn, dass Sie ein Jahr Urlaub brauchen und einfach so arbeitslos machen können?“
Lässig zurücklehnend bekam ich von meinem Gegenüber zur Antwort: „27 Jahre“.
Irgendwie läuft da etwas falsch, schoss es mir durch den Kopf. Ich, 44-jähriger Familienvater mit zwei Kindern fahre quer durch Deutschland, um Arbeit zu suchen und hier legt sich einer einmal nur so für 12 Monate auf die faule Haut. Kein Ausländer, kein Asylant einfach nur ein junger deutscher Mitbürger, der noch keine 21 Arbeitsjahre wie ich auf dem Buckel hatte! Er war Einheimischer.
Um es vorweg zu nehmen, damals, wie auch sieben Jahre später, half mir nicht das Arbeitsamt, Arbeit vermittelt zu bekommen. „Hilf dir selbst, so hilft dir Gott“, nun gut, ich habe mir selbst geholfen!
Am nächsten Tag machte ich im schönen Schwarzwald auf einem ganz normalen, von mir jetzt geprüften nicht privaten Parkplatz gegen 16.00 Uhr halt, um eine Stellenbewerbung auf meiner museumsreifen Schreibmaschine unter freiem Himmel zu tippen. Plötzlich hielt neben mir eine schwarze Limousine vom Typ „Mercedes“ Baujahr 62. Ein Herr mit Jagdhut, Gamshaarbüschel, Jagdbüchse und Schaftstiefeln schnittig gekleidet, stieg aus.
Ohne zu grüßen meinte er, auf mich von oben herab blickend (war ja bei meinen 1,63 m nicht schwierig):
„Ich bin der ehemalige Kurdirektor von B. Mein Freund ist der Bürgermeister der Stadt S.
Von ihm habe ich die Jagderlaubnis auf diesem Wiesenwaldstück. Verlassen Sie sofort den Parkplatz!“
Ich guckte wohl saublöd. War jedenfalls mein Gefühl! Blieb trotzig. Dachte: Schieß doch auf wen oder was du willst, nur treffen musst du!
So schrieb mit etwas anderen Worten schon vor mehr als tausend Jahren Konfuzius.
Alexander, ich erinnere Dich an dieser Stelle an Deinen Urgroßvater. Der wies mich immer darauf hin: „Sepp, du lernst nur für dich und dein zukünftiges Leben!“ Zum Glück hatte ich den Beruf eines Chemielaboranten erlernt, was mir Jahrzehnte später den beruflichen Wiedereinstieg in einem großen Schweizer Chemiekonzern ermöglichen sollte.
Unvergessen bleibt für mich jener 3. September 1991, da ich zum Vorstellungsgespräch für eine zeitlich befristete Laborantenstelle eingeladen wurde.
24 Jahre waren seit meinem Lehrabschluß und anschließendem Studium an der Ingenieurhochschule (heute Fachhochschule) vergangen. Seit dieser Zeit hatte ich nichts mehr mit der Chemie am Hut. Und jetzt bewerbe ich mich als Chemielaborant in einem der weltgrößten und modernsten Pharmakonzerne! Dazu noch aus einem „neuen Bundesland“ kommend. War das mutig, frech oder einfach bloße Verzweiflung? Ich weiß es nicht, aber feige war’s wohl nicht! Es war schon sehr gewagt.
Ich besorgte mir ein Fachbuch über Harze und Polymere, studierte eifrig, was zu meinem großen Vorteil sein sollte. Nach zwei Stunden (!) Vorstellungsgespräch in der betriebseigenen Bibliothek, an dem vier Herren teilnahmen, bekam ich den Stellenzuschlag. Unter ihnen auch der Professor, welcher Autor des von mir ausgeliehenen Fachbuches war, was ich aber erst später erfuhr.
Er sollte mein Chef werden!
Um ehrlich zu sein, meinem selbst gewählten ersten Arbeitstag, dem 7. Oktober, sah ich mit Muffensausen entgegen und es folgten harte Wochen des Laborantenwiedereinstieges.
Dass er mir letztlich gelang, zeigte die Umwandlung des Zeitarbeitsvertrages später in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis.
Allein mit meinem Wollen hätte ich den Neuanfang aber nicht geschafft. Ich hatte viel Glück mit Eberhard, meinem ersten Kollegen im so genannten „alten Bundesland“. Er war kompetent und gegenüber einem sogenannten „Ossi“ völlig unvoreingenommen. Wie auch der o. a. Professor F. und der Laborleiter Dr. A. Durch sie erhielt ich stets fachliche Hilfe und auch so manchen nützlichen Hinweis für mein(unser) Leben außerhalb des Geschäftes (so nennt man hier den Betrieb, wo man arbeitet). Dafür an dieser Stelle ein symbolisches Dankeschön!
Den Unterschied Wessi/Ossi gab es in diesem Team nicht. Ich fühlte mich geachtet und richtig wohl.
Das sollte sich aber noch völlig ins Gegenteil umkehren.
Kleiner Alexander, Du fragst, was aus Oma und Deiner Mutti sowie Onkel O. geworden ist?
Deine Oma hatte, über die Jahre gesehen, mehr berufliches Glück. Sie fand in einem Kindergarten mit sehr intaktem Kollektiv ihren beruflichen Fortgang. Setzte sich, wie ich auch, nochmals auf den Hosenboden, um sich fachlich weiterzubilden. Deine Mutti befand sich 1991 noch in der Lehre und war frisch verliebt. Sie wollte nicht mit und blieb in unserer Wohnung in Z. wohnen. Schloss erfolgreich ihre Lehre als Bankkauffrau ab. Darauf sind wir sehr stolz. Und der Bruder Deiner Mutti, Dein Onkel Oli? Er war mir anfangs sehr böse und fragte noch eine lange Zeit vorwurfsvoll: „Vati, warum darf ich nicht in G. meinen Gymnasialabschluss machen und muss all meine Freunde verlassen? Ich will bei Ela bleiben!“
Er war damals 15 Jahre jung. Wir wollten den Tausendsassa bei uns im Auge behalten!.
Ich weiß, vor allem er hatte sehr lange am Ortswechsel und mit der anderen Mentalität der Menschen zu kämpfen.
Heute hat er sich prima eingelebt. Will nicht mehr zurück. Spricht fast alemanischen Dialekt und ist ein geachteter Einzelhandelskaufmann.
Leider hatte ich nur 16 Monate das Glück, in einem intakten Team arbeiten zu dürfen. Dann kam es zu einer Strukturveränderung, einer Konzernfusion - mit Folgen auch für mich.
Du weißt natürlich noch nicht, was das ist? Vieles ist da in der „freien Marktwirtschaft“ hausgemacht, mein Junge, denn die großen Konzerne können nicht genug Profit bekommen.
Auf der Strecke bleiben dann viele Menschen die ihre Arbeit verlieren oder schlechter bezahlte Jobs annehmen müssen.
Im gleichen Betrieb, aber neuen Team wurde ich sehr krank gemacht. Ob ich Schläge bekommen habe, fragst du kleiner Bub?
Nein, Alexander, nicht solche wie Du im Kindergarten manchmal von Deinem Jon.
Schläge waren es aber schon, die noch immer tief in meinem Herzen und meiner Seele schmerzen.
Wenn Du diesen Brief lesen kannst, wirst Du von mir und von Deiner Mutti ganz sicher erfahren haben, was man mit Deiner Urgroßmutter in den 30er Jahren und Deinem Urgroßvater in den 50er Jahren gemacht hatte ... Du wirst inzwischen selbst erkannt haben, wie Opa als Mensch über die Menschen auf diesem Planeten denkt.
Ich erkläre Dir dann den Begriff „Kosmopolit", und den im Schauspiel „Nachtasyl“ von Maxim Gorki vom Pilger Luka gesprochenen Satz: „Ein Mensch, wie stolz das klingt!“
Nun willst Du aber wissen, was ich fünf Jahre in diesem sogenannten Arbeitsteam erlebte.
Oh, Gott, wie kann ich Dir das nur in einem Brief nahe bringen? Ob Du es, wie auch mancher Leser, je verstehen wirst? Jeder empfindet, fühlt und denkt doch anders.
Laß es mich mit von Zeugen belegbaren Beispielen zu erklären versuchen:
Ich nenne meinen Teamleiter im Folgenden Doktor Brav, weil er stets allwissend und oberlehrerhaft auftrat. Natürlich hatte er keinen Doktortitel, spielte sich aber gern entsprechend auf.
Wir Mitarbeiter saßen einmal am Frühstückstisch, als plötzlich der psychologisch geschickt agitierende, nach außen stets höflich-zuvorkommende, sehr doppelzüngige Dr. Brav versuchte, uns weis zu machen, dass er 1968 in Weimar gewesen sei und erlebt habe, wie in eine Gaststätte zwei Russen kamen und daraufhin alle Gäste gingen. Diesem Märchen setzte er noch eins drauf. Er erklärte den Unwissenden und Schnellgläubigen, er habe erlebt, dass in gleicher Stadt - sie liegt bekanntlich am Fuße des Ettersberges (einstige Stätte des Massenvernichtungslagers Buchenwald) - die Bevölkerung den Bürgersteig wechselte, wenn, wie er tief rrrrollend aussprach, RRRussen entgegen kamen. Mich in das Gespräch einbeziehend, fragte er dann nickend: „Stimmt doch Herr RRR...?“
Für Sekunden war ich sprachlos-schockiert, antwortete aber dann, dass ich im „Dritten bayrischen Fernsehprogramm“ vor 14 Tagen einen Dokumentarfilm über die NS-Propaganda „Leben im Warschauer Ghetto“ gesehen habe, wo genau diese Art, Verachtung auszudrücken, gegen die rassisch verfolgten Juden angewendet wurde.
Und wieder Dr. Brav:
„Diesen Willy Brandt, den Verräter, hätte man nach 1945 gleich erschießen sollen, wie alle Parteiniks. Mit „Parteiniks“ meinte er die ehemaligen Parteisekretäre der DDR, unter ihnen viele ehrenamtliche und fleißig arbeitende Mütter und Väter.
Sein blinder, auffallend ausgeprägter Antisemitismus und Rassismus gipfelte u. a. in solch unverschämten Aussagen wie:
„Während des Studiums nannte man mich liebevoll den „Hitleristen“!
„Für mich gibt es nur zwei echte deutsche Politiker: Bismarck und Hitler“
„Herr RRR ... sie haben doch auch den Brecht in der Schule gehabt? Diesen Scheißjud!“
„Der Jud wird schäbig schon geborn.“
„Ich war selbst im KZ-Dachau. Hab mir das angesehen. Die Öffnungen von den Verbrennungsöfen sind viel zu klein, um Juden zu verbrennen. Erschossen wurden sicher einige, aber nicht viele!“
Beschwichtigend fügte er dann immer an: „Ich habe gute Frreunde, die sind Moslems, Juden.“!
„Engländer, Amis, Türken - alles Arrrschlöscher!“ (Eingeschlossen nicht selten seine unmittelbaren Vorgesetzten).
Dieses letztgenannte Wort zählte zu seinen Lieblingswörtern, vor allem dann, wenn Menschen nicht seiner bestimmend vorgetragenen politischen oder fachlichen Meinung waren!
Zum Glück fanden diese unvollständigen Äußerungen nicht bei allen, aber bedauerlicher Weise bei zu vielen Mitarbeitern untertänige Zustimmung! Bezeichnend für das Teamklima war auch diese unrühmliche Episode: Ich verabschiedete mich einmal nach Arbeitsschluß winkend von den Mitarbeitern, da stand ein Kollege im Beisein vom genüsslich lächelnden Dr. Brav zackig-stramm auf und meinte mir sagen zu müssen: „Bei uns verabschiedet man sich mit dem deutschen Gruß!“
Ich traute meinen Augen und Ohren nicht und fragte bewusst nochmals nach: „Wie bitte?“
Alexander, Schau Dir einmal historische Filme aus der Zeit des Dritten Reiches an. Dort wirst Du den so genannten „deutschen Gruß“, die „arisch-germanische“ Grußform, sehen ... und manches mehr, was in diesem System von Menschen anderen Menschen Grausames angetan wurde.
„Es ist ein Jammer, daß die Dummköpfe so selbstsicher sind und die Klugen so voller Zweifel." (Bertrand Russel, 1872-1970)
Diese fünf Arbeitsjahre waren die schlimmsten in meinem Leben! Nie hätte ich gedacht, in einem so kleinen schönen Städtchen und in einem international anerkannten Großkonzern derartigem „braunen Sumpf“ begegnen zu müssen, den ich doch eigentlich nur aus früheren Filmen kannte. Was mich zudem sehr bedenklich stimmt ist, dass dieser auch fachlich stets glanzvolle Blender Dr. Brav innerhalb der Stadt politisch seit einigen Monaten aufgestiegen ist!
Wehret den Anfängen! Nur leider sind es keine Anfänge mehr!
Alexander, manchmal mache ich mir schon Sorgen um Deine und auch unsere Zukunft.
Pass später auf und sei vor solchen, oberflächlich der sogenannten „Menschlichkeit“ das Wort redenden „Dr. Bravs“ sehr, sehr wachsam! Du wirst den Begriff „Schreibtischtäter" noch verstehen lernen.
An dieser Stelle fällt mir Oskar Kokoschka ein, der meinte, „... dass man nicht Mensch ist, weil man geboren, man muss Mensch werden!“
Da ich energisch diesen menschenverachtenden Äußerungen entgegen trat, kannst Du Dir ja vorstellen, dass Opa kein leichtes „Arbeitsbrot“ zu kauen hatte und verschiedenen, auch beruflichen Provokationen ausgesetzt war. Meinen Überzeugungen bin ich treu geblieben.
Mehrere Versuche, eine innerbetriebliche Umsetzung zu erreichen, scheiterten an der Bemerkung des für mich zuständigen Personalreferenten: „Sein Sie froh, in Ihrem Alter Arbeit zu haben. Überlegen Sie sich, was Sie machen. Das Unternehmen hat den längeren Arm!“
Dank eines engagierten Rechtsanwaltes, der mich im folgenden, für mich nervenaufreibenden Arbeitsrechtsstreit sehr gut beriet, fand diese schreckliche Zeit nach 60 Monaten endlich für mich ein Ende (drei Kreuze) +++.
Ob ich nun als 52-jähriger arbeitslos wurde? Nein, natürlich weiß ich aus Äußerungen, dass Dr. Brav und seine Gesinnungsfreunde den Ossi gern arbeitslos gesehen hätten! Oft redete gerade dieser ehrenwerte Teamleiter auf mich ein, und versuchte mir zu suggerieren, „dass Sie in Ihrem Alter keine Arbeit mehr finden“.
Bisher hatte Opa das Glück, nicht arbeitslos zu werden. Aber allein Glück war es wohl dann doch nicht! Beziehungen hatte ich keine. Mein ausgeprägter Wille zur Arbeit, zum steten Lernen und vielleicht hier und da ein „guter Stern“, der für mich irgendwo leuchtete.
Ich mache es kurz, weil ich Dir ja alles noch später genauer erzählen möchte.
Mein Weg führte mich in die Schweiz.
War plötzlich selbst ausländischer Arbeitnehmer, über die man in unserer Zeit so unterschiedlich urteilt und sie leider auch zu oft zu Unrecht verurteilt. Türken, Italiener, Franzosen, Afrikaner und Schweizer gehörten zum Arbeitsteam. Wahrlich eine „multi-kulturelle“ Truppe, so wie heute die Teams der Fußballbundesliga. Keine faulen Asylanten, Ausländer oder Arschlöscher, wie ich es oft auf der alten Arbeitsstelle hören musste.
Es waren alles hilfsbereite, freundliche, arbeitsame und sich gegenseitig achtende Menschen.
Irgendwie erinnerte mich das an alte Zeiten und an mein ehemaliges Kollektiv in der Sozialökonomie. Nur damals eben ohne ausländische Mitarbeiter. Mein Selbstbewusstsein kam zurück und meine Grundphilosophie fand sich wieder bestätigt: „Wir sind alle nur Gäste auf diesem wunderbaren blauen Planeten! Keiner ist aufgrund seiner Hautfarbe, Religion oder Sprache besser bzw. schlechter!“
Zurück nach Deutschland wechselte ich, weil Gevatter Zufall mir half und ich ein gutes Arbeitsangebot erhielt. Hinzu kam, dass der Anfahrtsweg erheblich kürzer war.
Heute arbeite ich mit meinen fünf Computerkollegen (gemeint sind die Kontrollmonitore) sowie Kollegen aus vier sehr unterschiedlichen Ländern zusammen. Habe viel fachliche Abwechslung im Prüflabor und dem Prozessleitsystem, wo ich allein Herr über Chlorsäure-, Wasser-, Laugen- und Gasströme bin. Plötzlich war, entgegen meiner Aussage im Band 3, mein altes und neues Fachwissen wieder gefragt.
Eine verantwortungsvolle, anstrengende Arbeit, die mich fordert und Spaß bereitet. Dass ich mal mit über 50 auf Nachtschicht gehen werde, hätte ich mir nicht träumen lassen und, um ehrlich zu sein, niemals gewünscht.
Ach, da fällt mir doch wieder der Zimmermann vom Arbeitsamt aus dem Jahre '91 ein. Ob der zwischenzeitlich schon wieder ein Jahr „Urlaub“ eingelegt haben wird?
In einer duften Truppe, Alexander, wo auch einmal ein zünftiger, aber nie verletzender Ossi-Wessi-Witz gerissen wird, kann man auch diese völlig neue Herausforderung meistern.
Wenn Du später den Brief liest, fragst Du mich vielleicht: „Opa, wie hast Du das mit „Ossi-Wessi“ gemeint? Wir sind doch alle Deutsche - oder?“ Dann werde ich hoffentlich schmunzelnd antworten können: „Ja, aber das war eine sehr, sehr lange Zeit nach der Wende leider nicht an dem!“
Wir mussten alle erst wieder lernen, was es heißt, in einem geeinten deutschen Vaterland zu leben. Willy Brandt brachte es mit den Worten „... es muss zusammenwachsen, was zusammen gehört!“ auf den Punkt.
Ich weiß, mein kleiner „Stromer“, irgendwann bei einem Besuch wirst Du auch wissen wollen, ob wir nicht lieber wieder mit nach Berlin zurückziehen möchten.
Vielleicht, wenn wir mal ganz alt geworden sind. Jetzt jedoch noch nicht. Uns gefallen Land und Leute. Sind gut in der Nachbarschaft und auf Arbeit aufgenommen. Wie lange wir noch Arbeit haben, das weiß in diesen krisengeschüttelten Zeiten der Finanzspekulationen und der Korruption natürlich keiner.
Viele engagierte gute Bekannte lernten wir im Gesangs- und Turnverein oder aber in der Gartensparte kennen und schätzen. Feierten vor fünf Jahren mit lieben Menschen, vorwiegend aus dieser Gegend, unsere Silberhochzeit.
Dein fußballverrückter Opa war Mitinitiator des am 2. Februar l995 gegründeten Fanklubs „Fair Play-Hochrhein“ und leidet, wie Deine Eltern wissen, mit diesem Klub in der Saison alle 14 Tage im Dreisamstadion zu Freiburg himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt.
Wir beteiligten uns selbst über Jahre aktiv an Stadtfesten. Opa grillte dann an zwei Tagen von Sonnabend bis Sonntagabend, wie man hier sagt: „Güggele“. In Berlin heißt das noch wie zu DDR-Zeiten „Broiler“. Oma backte Kuchen und bediente in einem improvisierten Straßencafe. Dies taten wir gern, weil die Einnahmen immer einem sozialen Zweck zugute kamen. Leider musste ich aus Krankheitsgründen das Singen im Gesangsverein und später auch, weil ich nicht mehr so lange stehen konnte, das Grillen aufgeben.
Irgendwie sind wir also in der „neuen“ Republik angekommen und trotz mancher berechtigter Wenn und Aber heimisch geworden. Gewendet haben wir uns dabei aber nicht!
Wir stehen auch hier zu unserer gelebten DDR-Vergangenheit. Vertreten viel Vernünftiges aus jener Zeit, das es wert gewesen wäre, mit in die alte Bundesrepublik übernommen zu werden.
Dabei reduzieren wir die „DDR“ nicht so platt auf das „Kindergarten-, Kinderkrippen- und Spitzensportniveau“! Es gab viel, viel mehr. Doch dazu wird sicher einmal an anderer Stelle zu berichten sein. Unserem Lebensmotto: „Es gibt nichts Gutes, es sei denn, man tut es!“ sind wir mit Herz und Seele stets treu geblieben. Haben neue Erfahrungen gesammelt und viel hinzugelernt. Solche Dr. Bravs, Alexander, wie sie ich Dir in diesem Brief beschrieb, sind zum Glück noch nicht in der gesellschaftlichen Mehrheit!
Oma, Opa, Onkel Oli, Deine Eltern und viele Millionen aufrechter Menschen in unseren 16 deutschen Bundesländern werden gewiss alles dafür tun, dass dies auch nicht passiert!
Das erfordert jedoch „manifestes Wissen“, viel Courage und ein starkes Rückgrat.
Wir hoffen, dass Du dies einmal haben wirst, denn bekanntlich sind Kinder und Kindeskinder die Zukunft unseres Seins!
O je, es ist ja schon früh am Morgen. Genau gesagt, 4.15 Uhr. Diesmal ist es nicht eine durchfahrene, sondern durchschriebene Nacht geworden. Ich bin müde, muss heut noch zur Spätschicht. Längst ist die Kleidermann-CD mehrfach abgespielt und ich höre nichts mehr.
Also ab ins Bett und nicht vergessen, den Brief rechtzeitig an Dich abzuschicken.
In Liebe Dein Opa
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