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Christa Nikusch

 Brüderchen und Schwesterchen

 Eine Freundin erzahlte mir (k)ein modernes Märchen, für das nur der Titel von den Brüdern Grimm ausgeliehen ist. Es geht so:

Es war einmal vor vielen, vielen Jahren, so gegen Ende des großen Krieges, da wurde ein Zwillingspaar auf einem „Treck“ vom Böhmerland in Richtung Westen voneinander getrennt. Brüderchen verschlug es in eine große Stadt am Rhein, Schwesterchen in den Ostteil einer großen Stadt an der Spree. Sie wuchsen heran, besuchten die Schule, erlernten Berufe, verheirateten sich und hatten Sehnsucht nacheinander. Sie konnten sich aber nicht treffen, denn zwischen ihnen war eine hohe Mauer mit Stacheldraht und Hunden. Ein Durchkommen war unmöglich. So lebte jeder allein in seiner Welt.

Eines Tages wurde die Sehnsucht so groß, daß Schwesterchen sich Gleichgesinnten anschloß, die die Mauer zu Fall brachten. Nun waren Brüderchen und Schwesterchen friedlich vereint - könnte man denken. Aber dem war nicht so.

Beim ersten Besuch am Rhein klagte Schwesterchen, daß es keine Arbeit finden könne.

„Wozu brauchst du Arbeit? Hast du nicht genug mit dem Haushalt und den Kindern zu tun? Oder kann dein Mann dich nicht ernähren?“

Brüderchen sprach von ganz anderen Problemen. Sein Nachbar hatte sich schon wieder ein neues Auto gekauft und er mußte immer noch mit dem alten fahren, und das nur, weil seine Frau zuviel Wirtschaftsgeld verbrauchte.

Schwesterchen fragte teilnahmsvoll, wie alt das Auto sei und ob es vielleicht entzwei gegangen wäre.

„Ach wo“ meinte Brüderchen, „es ist schon vier Jahre alt und nicht mehr das neueste Modell!“

Sie fuhr immer noch einen zehn Jahre alten Trabbi, der doch schon etwas klapprig wurde; er war Beamter und hatte einen sicheren Arbeitsplatz und die Aussicht auf Pension. Die Sorgen, die der eine hatte, berührten den anderen herzlich wenig. So stellten sie fest, daß sie einander nicht mehr verstanden.

Nach Hause zurückgekehrt, überlegte sich Schwesterchen sehr lange, ob sie Brüderchen einladen sollte. Sie hatte kein eigenes Haus, sondern nur eine Vier-Raum-Wohnung in einem Plattenbau im „Schnarchviertel“. Sie fand ihre Wohnung schön und gemütlich, aber was würde Brüderchen dazu sagen? Und die Möbel? Und die Kleidung? Und überhaupt, was hatte sie schon zu bieten? So bekam Brüderchen vorerst keine Einladung.

Die Zeit verging. Schwesterchen hatte für mühsam erspartes Geld einen Gebrauchtwagen gekauft, der mehr in der Werkstatt stand als fuhr. Also kam der alte Trabbi wieder zu Ehren.

Brüderchen stellte verärgert fest, daß seine mühsam erworbenen „Errungenschaften“ allmählich abbröckelten. Die Steuern wurden spürbar erhöht, die Medikamente mußte man selbst bezahlen und - besonders ärgerlich - auch von ihm wurde ein Soli-Beitrag für die Ossis eingefordert. So hatte er bald kein großes Verlangen mehr nach Schwesterchen.

Nach weiteren zwei Jahren entschloß sich Schwesterchen, das Brüderchen nun doch einmal einzuladen. Man hatte sich in der „freien Marktwirtschaft“ eingelebt, hatte festgestellt, daß es im Land hinter der Mauer doch so schlecht nicht gewesen war und - war es nun Trotz oder nur der verklärende Blick auf eine Vergangenheit von Menschen, die sie voller guter Vorsätze mitgestaltet hatten - man sprach mit Nachbarn und Freunden über die gute alte Zeit und diskutierte darüber, was wohl falsch gemacht wurde im früheren Leben.

Man beschloß: Wenn Brüderchen kommt, wird nicht über Politik gesprochen, denn der versteht das sowieso nicht.

Aber auch Brüderchen hatte inzwischen manches dazugelernt. Es fand die Politik, die die Regierung und auch seine Partei jetzt machten, gar nicht mehr so gut. Sein jüngster Sohn sollte nach Jugoslawien in den Krieg ziehen und Brüderchen erinnerte sich wieder an seine Kinderzeit. Die Strapazen, die Ängste und den Hunger, die machten nun Menschen eines anderen Volkes durch. Auch die Vertreibung aus der Heimat.

„Nein, da gehst du mir nicht hin!“ bestimmte der Vater.

So wurde der Junge Totalverweigerer und mußte in die Haftanstalt einziehen. Der Vater trat aus seiner Partei aus und ging zu Friedensdemonstrationen, wofür er als Beamter eine „Abmahnung“ erhielt. Alles das wußte Schwesterchen nicht.

Nun kam Brüderchen also in den ehemals hinter der Mauer gelegenen Ostteil der großen Stadt an der Spree. Der hatte sich inzwischen gemausert. Viel Neues war hinzugekommen. Außer großen Handelsketten und zahllosen Autos gab es auch Versicherungen und Banken in verwirrender Vielzahl. Und alles neu und vom Feinsten.

Beim ersten Spaziergang meinte Brüderchen: „Diese Häuserreihe ist aber schön geworden!“

„Die wurden schon restauriert, als wir noch hinter der Mauer lebten.“ erfuhr er.

„Ihr habt ja in eurem Viertel viele Kitas und Schulen!“

„Gehabt!“ sagte Schwesterchen. „Die werden geschlossen, weil es jetzt zu wenig Kinder gibt!“ Und so fand sich immer mehr Diskussionsstoff, obwohl man gar nicht diskutieren wollte.

Plötzlich erkannten Brüderchen und Schwesterchen, daß sie sich viel besser verstanden als vor Jahren. Bald schimpften beide gemeinsam auf die Regierung, über die Teuerungsrate, den Krieg, die habgierigen Banken und Konzerne, die nimmersatten Versicherungen und überhaupt über das ganze System.

Ja, was soll und muß geändert werden? Geben die Reichen, Schönen und Mächtigen freiwillig von ihrer Macht ab? Haben sie das je getan?

Was kann man tun, um etwas zu verändern?

Die Gewerkschaften? Zu lahm. Die Parteien? Kann man vergessen. Wie also kann man den Staat zwingen, menschlicher zu sein? Eigentlich sollten diese „Demokraten“ doch ihrem Volk dienen und nicht das Volk den „Demokraten“!

Wo ist die Partei, die die Jugend begeistert und ihr den Weg in ein besseres Leben zeigt? Ist die heutige Jugend für nichts zu begeistern?

Und das Schwesterchen erzählte davon, daß antifaschistische Widerstandskämpfer, die durch KZs und Zuchthäuser gegangen waren, und die „Freie Deutsche Jugend“ sie als junges Mädchen einmal für den Aufbau einer Welt, frei von Ausbeutung und Krieg begeistert hatten ...

Brüderchen und Schwesterchen diskutierten und diskutierten. Sie konnten den rechten Weg nicht finden, und da war auch niemand, der überzeugende Antworten auf ihre Fragen wußte.

Ob sich wohl eine Partei oder Organisation findet, die den beiden hilft - nicht mit hohlen Redekünsten, sondern mit soliden Erkenntnissen über Gegenwart und Zukunft, mit Rat und Tat? Wenn nicht, dann werden sie wohl weiter diskutieren.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann diskutieren sie noch immer. 


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