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Eckart Mehls

 Weshalb ich die „Gelassenheit der geübten Herren“ störe 

Es war ein schöner Junitag des Jahres 1990, an dem sich ein auf den ersten Blick ganz normales Gespräch unerwartet fest in mein Gedächtnis einprägen sollte.

29 Jahre waren vergangen, seit ich das letzte Mal im Westen Deutschlands war. Die Deutsch-Polnische Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland hatte zu einem Mitgliedergespräch ins württembergische Bietigheim-Bissingen eingeladen. Als Gast vertrat ich dort die kurz zuvor in der noch bestehenden DDR gegründete Gesellschaft für gute Nachbarschaft zu Polen.

Am Rande des Geschehens kam ich mit einem Angehörigen des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik, dem Vortragenden Legationsrat I. Klasse P. M., der, wie er mir sagte, zeitweilig im Bundespresseamt tätig war und in dieser Eigenschaft an dem Treffen teilnahm, in ein sehr angeregtes Gespräch. Es bewegte sich vor allem um die zu diesem Zeitpunkt turbulenten Vorgänge in der DDR. Natürlich blieb es nicht aus, beiderseitige Vorstellungen über das „Wie weiter?“ zu diskutieren, zumal das Ende der DDR bereits deutlich abzusehen war.

Dass in einem solchen Gespräch zwischen einem Hochschullehrer aus der DDR und einem Diplomaten der BRD Fragen der Entwicklung des Hochschulwesens und die sich auf diesem Gebiet ergebenden Perspektiven ein besonderes Gewicht erhielten, versteht sich von selbst. Ein später oft gehörtes, aber von Anfang an offensichtlich auf Irreführung angelegtes Stichwort war es, das dieses Gespräch für mich so unvergesslich werden ließ. Herr M. gab zu erkennen, dass er für ein künftig sich wohl einheitlich entwickelndes Hochschulwesen in Deutschland eine „Durchmischung“ der Lehrkörper für unerlässlich halte. Er war es zufrieden, dass ich an einer solchen Vision offensichtlich Gefallen fand. Jedenfalls bis zu dem Moment, als ich meine grundsätzliche Befürwortung eines solchen Denkmodells mit der Bemerkung präzisierte, dass auch ich es mir für den Fall einer künftig wohl nur als Einheit zu denkenden Entwicklung der Hohen Schulen Deutschlands als durchaus normal und zudem auch nützlich vorstellen könnte, wenn zum Beispiel an der Universität Köln etwa zu einem Drittel Wissenschaftler aus der DDR tätig sein würden. Es war mehr, als nur ungläubiges Staunen über das Ungebührliche eines solchen Ansinnens, das für den Bruchteil einer Sekunde seinen Gesichtsausdruck entgleisen ließ. Fast möchte ich es als den Anflug blanken Entsetzens ob einer solchen Vorstellung, als das inbrünstige „Da sei Gott vor!“ bezeichnen, was in diesem Moment von meinem Gesprächspartner Besitz ergriff. Es währte nur eine kurzen Augenblick. Und das Gespräch versandete alsbald in höflichen Floskeln und Belanglosigkeiten.

Wenige Monte später schon sollte ich in ganz anderem Zusammenhang unangenehm an dieses Gespräch mit Herrn M. erinnert werden. Es war Mitte November, die DDR inzwischen als „die neuen Länder“ in der alten Bundesrepublik aufgegangen, für Illusionen einerseits und besondere Zurückhaltung andererseits gab es bereits kaum noch Anlass.

Die Sektion Geschichte der Humboldt-Universität, zu dieser Zeit noch meine Arbeitsstelle, war, wie bereits die gesamte Universität, zum Ziel heftigster Angriffe der Presse und der etablierten Politik geworden. Unsere Sektion versuchte, im Rahmen der vom damaligen Rektor Prof. Dr. Fink getragenen selbstbestimmten Erneuerung der Universität die selbstkritische, aber auch aufrechte öffentliche Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte in Angriff zu nehmen. Das endete faktisch in einem Eklat. Zu dem beabsichtigten Dialog kam es nicht. Die Umfunktionierung der kritischen Bestandsaufnahme in ein polemisches Medienspektakel, Schuldzuweisungen und undifferenzierte Pauschalverurteilungen ließen das ernsthaft als Beginn auf einem neuen Weg gedachte Unterfangen gründlich scheitern. Dabei trat unübersehbar zu Tage, dass von interessierter Seite gar nicht daran gedacht war, sachlich, emotionslos und gründlich etwas „aufzuarbeiten“ und auf diese Weise wirklich verarbeitete Erfahrungen in eine neue Periode deutscher Geschichte einzubringen. Die ausgebliebenen Selbstkasteiungen, das sichtbar gewordene Bestreben, mit dem von lautstark öffentlich agierenden Gruppen geforderten „aufrechten Gang“ die deutsche Einheit mitgestalten zu wollen, wurde von vornherein als Unfähigkeit zur Erneuerung denunziert und medienwirksam in üble Beschimpfungen umfunktioniert.

Dass die Fachkollegen von der anderen Seite sich mehrheitlich in diese Front der Kalten Krieger neuen Typus einreihten, verwunderte mich nicht. Und doch, als ich die am 14. November „einstimmig“, wie besonders betont wurde, beschlossene „Stellungnahme des Fachbereichs Geschichte der Freien Universität Berlin zur Situation an der Sektion Geschichte der Humboldt-Universität“ las, sah ich wieder das blanke Entsetzen in den Augen des Herrn M. angesichts der Vorstellung, DDR-Historiker könnten an den Hohen Schulen der BRD lehren, vor mir. „Es erscheint geradezu absurd, dass Professoren, die über Jahrzehnte hinweg die freiheitlich-demokratische Grundordnung ideologisch bekämpft haben, nunmehr an der Ausbildung von Historikern für eine demokratische Gesellschaft und an der Betreuung des wissenschaftlichen Nachwuchses mitwirken sollen“, hieß eine der Kernthesen der Westberliner Kollegen. Und weiter „Namens der in ihm vertretenen Hochschullehrer und Wissenschaftlichen Mitarbeiter erklärt der Fachbereichsrat seine Bereitschaft, in den zu bildenden Kommissionen [deren Aufgabe die Sicherung einer „geeigneten Personalpohtik auch an der Humboldt-Universität“ sein müsse] aktiv mitzuarbeiten.“

Nun gehörte ich zwar nicht zu den Professoren, „die über Jahrzehnte“ angeblich die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik bekämpft hatten. Meine Berufung zum Hochschullehrer erfolgte erst 1983. Dass aber auch ich und überhaupt alle gemeint waren, war mir von Anfang an klar. Und dass auch die (noch aus der Zeit der Proklamation blühender Landschaften herrührende) pathetische Aufforderung des Historikerverbandes der Bundesrepublik an alle, „die im bisherigen System Macht ausgeübt haben, freiwillig ins zweite Glied zurückzutreten, um neuen Kräften den Weg freizugeben“, nicht so gemeint wie sie ausgesprochen war, war von Anfang an nicht zu bezweifeln. Sie zielte eigentlich darauf ab, dass aus „dem zweiten Glied“ schon bald die erste Reihe im Arbeitsamt werden sollte.

Noch bevor das Jahr 1990 zu Ende ging, wurde von der Berliner Landesregierung u. a. die Abwicklung der Sektion Geschichte der Humboldt-Universität beschlossen. Und wenn sich auch der Gang der Dinge nicht ganz so einfach vollzog, wie jene, die nun die Macht ausübten, es sich vorgestellt hatten: in langer Zeit der Machtausübung gewonnene Perfektion in der Handhabung demokratischer Spielregeln und juristischer Konstrukte sicherte, selbst gegen Bedenken höchstrichterlicher Instanzen, den eigentlich erstrebten Erfolg. Nämlich zu verhindern, dass in der DDR ausgebildete und an deren Universitäten und Hochschulen tätige Hochschullehrer „nunmehr an der Ausbildung von Historikern für eine demokratische Gesellschaft und an der Betreuung des wissenschaftlichen Nachwuchses mitwirken sollen“.

Die ganz genaue Statistik liegt zwar noch nicht vor, aber es waren höchstens 10 Prozent der ehemaligen Angehörigen der Geschichtssektionen der Universitäten und Hoch schulen der DDR, die ihre Arbeit, teilweise unter gravierend veränderten Bedingungen, im Hochschulbereich fortsetzen konnten. Der Rest, wie überhaupt je nach Fach zwischen 70 und 85 Prozent der „alten“ Universitätsangehörigen, befand sich nach kurzer Zeit mehr oder weniger vehementer Gegenwehr entweder im Klientel der Arbeitsämter, im Vorruhestand, in völlig fremder Tätigkeit oder zu einem geringen Teil im Ausland.

Anfang 1993, Widerspruche gegen haarsträubende Entscheidungen der neuen Universitätsleitung, das Kündigungsschreiben der Universitätspräsidentin, Klageschrift und Klageerwiderungen, die Korrespondenz mit dem Rechtsanwalt und dem Arbeitsgericht füllten bereits einen ansehnlichen Aktenordner, fragte mich der Vorsitzende der „Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde“ (GBM), ob ich nicht an dem gerade geplanten zweiten Weißbuch seiner Gesellschaft, das die Dokumentation des Prozesses der Abwicklung von Kultur und Wissenschaft der DDR zum Gegenstand haben sollte, mitarbeiten wollte. Für mich als langjährigen Angehörigen der Humboldt-Universität, der Gelegenheit gehabt hatte, ihre Entwicklung als Student, Mitarbeiter der Universitätsleitung und schließlich als Hochschullehrer einer ihrer Sektionen aus ganz unterschiedlicher Perspektive zu verfolgen, ergab sich hier eine sehr reizvolle Aufgabe.

Wie schwierig, weil auch emotional sehr belastend, sich dies gestalten sollte, hatte ich nicht erwartet Ich hatte weit über die eigenen bitteren Erfahrungen hinaus dem Schicksal vieler mir bestens bekannter Kollegen und dem rüden Umgang der neuen politischen Herrschaft mit der Universität und ihren Angehörigen nachzugehen. Der Blick auf die „große Politik“, auf die verbissen inquisitorische Wut im Agieren des damaligen Berliner Senators für Wissenschaft und Forschung und die Politik des großen Besens der neuen Universitätspräsidentin und ihrer Mannschaft erfasste auch, dass man bei der fest verabredeten gründlichen und schnellstmöglichen „Säuberung“ der Universität keineswegs zimperlich war. Erniedrigende Beschimpfungen, die die persönliche Würde gröblichst verletzten, waren an der Tagesordnung. Schutz- und Grundrechte, wie sie nicht nur internationale Konventionen, sondern auch das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland eigentlich verbindlich verankerten, wurden, sofern sie sich im Verfolg der gesteckten Ziele als hinderlich erwiesen, massenhaft übergangen. Verfassungs- und Gesetzestreue der Bürger der DDR wurde in eklatanter Verletzung des international verbürgten Schutzes vor politischer Diskriminierung in eine sog. „Herrschafts-„ bzw. „Systemnähe“ umfunktioniert und damit kriminalisiert. Der undifferenzierte Vorwurf „aktiver Unterstützung des Herrschaftssystems der DDR“ reichte für die gewaltsame Beendigung langjähriger erfolgreicher wissenschaftlicher Tätigkeit aus und machte den Platz für gute und (viel zu häufig auch) ganz und gar mittelmäßige Kandidaten aus dem anderen Teil Deutschlands frei. (Die zudem oft bereits an ihrer ersehnten neuen Arbeitsstelle eintrafen, bevor es noch auf rechtsstaatlichem Wege gelungen war, den bisherigen Stelleninhaber auf die Straße zu setzen.)

Diese politische Dimension des Schicksals der Wissenschaftler der DDR im Prozess des Zusammenpressens dessen, was möglicherweise auf andere, würdigere und tolerantere Art und Weise eine echte Chance zum Zusammenwachsen gehabt hätte, erschloss sich mir durch die Erarbeitung meines Beitrages für das Weißbuch besonders nachhaltig. Sie ließ es einfach nicht zu, mich mit meinen eigenen misslichen Erfahrungen hinter meinem Schreibtisch zu verkriechen und mich dort womöglich darauf zu beschränken, als Arbeitsloser und schließlich bald „Vorruheständler“ den bisherigen Beruf als Hobby fortzusetzen. So war es nur folgerichtig, mich im Kreis gleichermaßen Betroffener weiter mit dem in der deutschen Geschichte fast einmaligen Geschehen des „Elitenwechsels“, wie das politisch skandalöse Verfahren später oft verniedlichend genannt wurde, kritisch auseinander zu setzen. Die Aktivitäten der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde boten dafür umfassend Gelegenheit.

Dass ein solches Engagement von vornherein mit einer Reihe von Schwierigkeiten konfrontiert sein würde, hielt mich davon nicht ab.

Eine erste bestand ganz einfach darin, dass aus der persönlichen und politischen Vergangenheit in der DDR heraus jedwedes Engagement für Menschen und Bürger rechte (nicht ganz grundlos, wie hinzugefügt werden muss) bei vielen Kontakt- und Gesprächspartnern in den alten Bundesländern und im Ausland auf kritische Distanz, wenn nicht gar auf grobe Zurückweisung stieß. Die eigene bittere Erkenntnis, dass es gerade der Umgang der politischen Führung der DDR mit dem Problem der Menschen- und Bürgerrechte war, der die politische Krise in der DDR beständig vertiefte und zu ihrem unrühmlichen Ende nicht wenig beigetragen hatte, war nicht immer einfach zu vermitteln. Noch größerer Widerstand wurde der sich daraus ableitenden These entgegen gesetzt, dass man, gerade mit dem Blick auf das politische Schicksal der DDR, nicht zulassen sollte, die Gestaltung eines einheitlichen Deutschlands durch massenhafte Verletzung elementarer Menschen- und Bürgerrechte zu belasten, gewissermaßen einen genetischen Defekt zu implantieren

Zweitens musste man sich beständig damit auseinander setzen, dass viele Gesprächspartner, sei es aus Unkenntnis der konkreten Umstände im Osten, sei es als Bestandteil eines gepflegten Antikommunismus, der bis weit in linke Kreise im Westen verbreitet war, sich schwer taten, die politische Diskriminierung nicht nur der „Eliten“, sondern letztlich der gesamten Bevölkerung im Osten, die sich bis in die Gegenwart unvermindert fortsetzt, als Verletzung von Bürgerrechten zu werten.

Auf der anderen Seite gab es gerade Anfang der 90er Jahre einige unsere Absichten begünstigende Umstände. In Vorbereitung der für 1993 geplanten UNO-Menschenrechtskonferenz in Wien hatten in der Bundesrepublik tätige Menschenrechtsorganisationen die Gründung eines lockeren Zusammenschlusses in Gestalt eines „Forum Menschenrechte“ verabredet. Der Menschenrechtsarbeit in der Öffentlichkeit sollte so ein größeres Gewicht gesichert werden. In der entscheidenden letzten Vorbereitungsphase hatte ich Gelegenheit, die GBM dort zu vertreten.

Im Kreis der vorwiegend mit dem Blick auf die Dritte Welt agierenden Vertreter westdeutscher Gesellschaften hatten der Vertreter der „Gemeinschaft für Menschenrechte“ (GMS) des Freistaates Sachsen und ich es nicht ganz leicht, das Augenmerk darauf zu lenken, dass unmittelbar vor unser aller Augen, namentlich in den neuen Bundesländern, Probleme bestanden, die größere Aufmerksamkeit von Menschenrechtsorganisationen beanspruchen konnten.

Dennoch: „Es wurde festgestellt, dass durch den Einigungsvertrag gegenwärtig in den neuen Bundesländern Grundrechte nur eingeschränkt gelten, z. B. durch die Beschränkung der Renten- und Eigentumsansprüche oder Massenentlassungen von Lehrern. Dies gefährde den inneren Frieden“. Diese Formulierung in der abschließenden Presseerklärung über ein der Gründung des Forums Menschenrechte vorausgehendes Hearing in Bonn über „Menschenrechte in der deutschen Innen- und Außenpolitik“ war ein zwar zunächst bescheidenes, aber doch angesichts der Umstände nicht zu unterschätzendes Ergebnis der Mitwirkung von Mitgliedern der GBM und der GMS bei der Vorbereitung des Zusammenschlusses deutscher Menschenrechtsorganisationen. Beigetragen dazu hatte die Tatsache, dass während des Hearings Vertreter der GBM und der GMS aktiv aufgetreten waren und die besonderen Probleme der Entwicklung in den neuen Bundesländern geschildert hatten. Es bleibt hinzuzufügen, dass in der Folgezeit die Erklärungen und Forderungen des „Forums Menschenrechte“ an die deutsche Politik weit über die damals noch zurückhaltende Formulierung hinausgingen.

Andererseits änderte dies an der Lage in den neuen Bundesländern so gut wie nichts, da die politisch Verantwortlichen in diesem Lande sich sehr schwer tun, ihren politischen Zielen nicht entsprechende oder gar zuwider laufende Positionen die gebührende Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. Es sei denn, es wird aus der Gesellschaft oder dem Ausland ein Druck spürbar, dem man nur noch schwer ausweichen kann. Dazu beizutragen, diesen Druck zu verstärken, wurde zu einem starken Motiv, den begonnenen Weg fortzusetzen. Auch wenn das Missverhältnis von zu erbringendem Aufwand und erreichbaren Ergebnissen manchmal sehr entmutigend wirkte. Aber es ging ja nicht nur darum, persönlichen Frust abzubauen oder einer schlummernden Lust am Querulieren zu frönen. Die Möglichkeit, vielleicht doch ein wenig zu einer spürbaren Verbesserung der Verhältnisse beitragen zu können, erwies sich immer wieder als ein starker Antrieb. Und selbst, wenn dies nur in minimalem Umfang der Fall sein sollte, ging es mir wie vielen anderen auch darum, es den Regierenden nicht durchgehen zu lassen, ihren zynischen Umgang mit dem Recht und der Würde eines großen Teils der Bürger ihres Landes hinter hohlen Phrasen zu verbergen. Wenigstens öffentlich werden sollte, wie sich die hehren Sonntagsreden zu der Praxis ihrer Politik verhielten.

Gelegenheiten dazu boten sich nicht wenige, sie mussten nur erkundet und konsequent genutzt werden.

Ich selbst hatte Gelegenheit, federführend an einer ausführlichen Information der UNESCO über den Umgang der BRD-Politik mit den Lehrern, Wissenschaftlern und Kulturschaffenden der DDR (als einem der ehemaligen gleichberechtigten und respektierten Mitgliedsstaaten der UNESCO) mitzuwirken. Es war zwar nicht möglich, als Nichtregierungsorganisation ein offizielles Dokument in die Arbeit der UNESCO einzubringen. Dies hinderte uns aber nicht, den Mitgliedern die Dokumentation zu übermitteln, wohl wissend, dass es keine offizielle Reaktion geben würde. Die Information über das, was im Lande vor sich ging, war aber auf jeden Fall gesichert. Und es ist nicht auszuschließen, dass auch diese etwas unkonventionelle Art der Information der internationalen Öffentlichkeit dazu beigetragen hat, dass in anderen Gremien des UNO-Systems kritische Nachfragen an die Adresse der Bundesregierung an Zahl beständig zunahmen.

Auf anderer Ebene hatte ich 1995 die Möglichkeit, auf einer der Kontrollberatungen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) über die Umsetzung ihrer Beschlüsse zu dem Tagesordnungspunkt „Toleranz und Nicht-Diskriminierung" als Vertreter der GBM eine ausführliche Information über die den OSZE-Vereinbarungen widersprechenden Praktiken des Umgangs der offiziellen Politik der BRD mit den „Funktionseliten“ der DDR vorzutragen. Der Leiter der BRD-Delegation machte sofort von dem ihm zustehenden Recht auf Erwiderung Gebrauch. Etwas entnervt hielt er unseren sachlichen Informationen dabei u. a. entgegen, dass, wer sich für die DDR engagiert habe, natürlich für die „öffentliche Verwaltung“ der BRD nicht zumutbar sei. Da war sie wieder, die Kriminalisierung des verfassungs- und gesetzestreuen DDR-Bürgers. Allein das „Engagement“ für seinen Staat, die in internationalen Konventionen als geschütztes „Recht“ verankerte Mitwirkung an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes - und nicht etwa nachweisbare Verfehlungen oder Verletzungen von verbindlichen Normen - wurden vor diesem internationalen Gremium als Grundlage für die vollständige oder überwiegende Entlassung ganzer Berufsgruppen in der Bundesrepublik Deutschland nicht nur eingestanden, sondern auch als „rechtens“ verteidigt. Ob der offizielle BRD-Sprecher mit dieser Erklärung die Teilnehmer an der Beratung über „Toleranz und Nicht-Diskriminierung“ von der Richtigkeit der Fortsetzung des Kalten Bürgerkrieges bei der Gestaltung des Prozesses der deutschen Einheit überzeugt hat, sei dahingestellt. Ich fühlte mich jedenfalls darin bestätigt, wie richtig es war, diesen Weg gewählt zu haben. Und ihn auch weiterhin zu beschreiten.

Möglichkeiten dafür boten sich in vielfacher Weise.

Die Erarbeitung und Einbringung von realistischen Situationsanalysen in die Arbeit verschiedener Körperschaften des UNO-Systems erwies sich als zwar aufwendige, aber doch, gemessen an ihren Ergebnissen, auch sehr befriedigende. Arbeit Einen bescheidenen Anteil daran gehabt zu haben, dass z. B. das UNO-Komitee für ökonomische, soziale und kulturelle Rechte in seinen Schlussempfehlungen vom November 1998 über einen BRD-Bericht ernsthafte Besorgnisse dahingehend äußerte, dass beim vollzogenen „Elitenwechsel“ die Mehrheit der Betroffenen „von ihren Positionen eher aus politischen denn aus beruflichen oder wirtschaftlichen Gründen entfernt worden ist“ (mit entsprechendem Aufruf zur Korrektur dieses Zustandes), beantwortet zu einem Teil die oftmals selbst gestellte Frage, wie sich in letzter Instanz Aufwand und Nutzen eigener Mühen zueinander verhalten.

Andererseits bleibt die vieles wieder relativierende Erkenntnis, wie Recht doch Günter Gaus mit seiner 1986 getroffenen Feststellung über die Schwierigkeiten der öffentlichen Kritik in einem etablierten demokratischen System hat: „Wenn sich ein engagierter Diskutant über diesen oder jenen Mangel der Bundesrepublik ereifert, dann lassen ihn die geübten Herren mit seinem Volldampf in den Widerhaken ihrer Gelassenheit rasen, mit der sie dozieren, wie normal und solide alles bei uns ist.

Diese Gelassenheit ein wenig zu erschüttern, sie mit der Bereitschaft „anzureichern“, Änderungen kritikwürdiger Zustände wenigstens in Betracht zu ziehen, dazu bedarf es offensichtlich, wie die vorliegenden Erfahrungen belegen, auch und gerade eines starken Drucks aus dem internationalen Raum. Nicht, um eigene Lust an der Kritik zu befriedigen, sondern um Chancen für Veränderungen zu befördern. Und dies ist dringend erforderlich. Noch immer, ständig. Und nicht nur den erreichten Stand wirklich gleichberechtigter Einheit betreffend. 


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